Es ist zwölf Uhr mittags. Der Himmel wird immer grauer. In der Ferne läuten die Glocken der italienischen Kirche. In einem Gedicht von Nazim Hikmet las ich, dass Glocken auf türkisch kampana heißen. Als ich es im Internet noch einmal nachschlug, ließ sich das Wort aber nicht mehr finden. Es scheint auch zu den alten Wörtern der türkischen Sprache zu gehören, die ausgelöscht sind. Das Gedicht war von 1950 und bildete den Auftakt seines Buches Dönüşü olmayan yolculuk – (Reise ohne Rückkehr), in dem er von seiner Reise von der Türkei nach Moskau erzählt, von wo er nicht mehr nach Hause zurückkehren konnte. Der Dachbelag vom Haus gegenüber, den ich gestern für Ziegel hielt, ist in Wirklichkeit eine Plane. Die Plane leuchtet im Sonnenschein und sieht jetzt schon wieder aus wie Ziegel. Eine graue Krähe fliegt in Richtung meines Fensters. Sie sieht aus wie die Hamburger Krähen, die in Norddeutschland erst östlich der Elbe zu finden sind. Das Haus gegenüber mit dem türkisfarbenen Band und den Fakeziegeln ist ein Kino. Es gehört zu der Filmregisseursschule von gegenüber. Ob man hier schon wieder ins Kino gehen kann, weiß ich nicht. Gestern war das Kino noch geschlossen. Ich wollte hineingehen, weil sie einen deutschen Film angekündigt haben. Der Film Undine von Christian Petzold, den ich in Deutschland wegen der Coronaschließungen nicht sehen konnte, ist hier groß angekündigt und ich hätte ihn mir gerne angeguckt. Die Istanbuler sprechen sehr schnell. Ich kann kaum etwas verstehen. Ich arbeite seit heute morgen an einem Interview mit einem Holocaustüberlebenden aus Czernovitz. Das Dach mit den Fakeziegeln von gegenüber gehört zu einem Kino. Ich denke daran, dass ich in Köln lange in einer Wohnung wohnte, von der aus ich auf ein Dach schaute, das zu einem Kino gehörte. Das Dach in Köln war mit Teerpappe gedeckt. Manchmal lief der Kinoverwalter, der Herr B. hieß, auf einem Steg, der das Dach überquerte, zu einer Luke, durch die er hinunterstieg. Manchmal auch stieg er aus der Luke nach draußen. Ich beobachtete ihn heimlich und vom Fenster aus. Oft musste ich dann lachen. Gegenüber sind gestern zwei Männer mit einer Leiter auf das Dach mit den Fakeziegeln gestiegen. Die Männer haben dort eine Weile gestanden und geredet, dann sind sie wieder hinuntergestiegen. Als ich vor zwei Jahren in Czernovitz war, gab es dort keine Kinos. Die Häuser in Czernovitz, das genauso wie Istanbul auf sehr steile Hügel gebaut ist, sind genauso mitteleuropäisch wie die Häuser hier in Beyoglu. Sie sehen aus wie in Paris, Berlin, Prag. Die Porträts der Menschen an der Wand gegenüber zeigen Schauspieler. Man sagte mir, wie sie heißen: Cüneyt Arkin, Tarik Akan (den ich für Beethoven hielt), Ayhan Isik, Belgin Doruk, Kemal Sunal, Sener Sen, Türkan Soray. Man sagte mir, dass Sener Sen ein ganz hervorragender Schauspieler sei. Ich habe noch nie von ihm gehört. Jetzt würde ich gerne einen Film mit ihm sehen. Auf der Straße vor meinem Haus wird der Boden von einem Schlauchwagen gereinigt. Manchmal gießen die Istanbuler ihre Straßen mit Gießkannen. Das sei hier normal, sagt man mir. In Czernovitz fegt man die Straßen mit Rosensträußen, sagten sie uns, als wir vor zwei Jahren dort waren und nicht ahnten, dass fünf Monate später eine Pandemie ausbrechen würde. Die Glocken sind nun nicht mehr zu hören, weil die Straßenreinigung so laut ist. Es ist Sonntagmittag in Istanbul. Ich gucke noch einmal nach, wie das Wort für Glocke lautet: Can, lese ich. Can heißt Glocke. Can heißt auch Liebling. Can heißt Seele.