Gestern hat es kurz geregnet. Der Himmel ist heute von einem sanften Blau. Das sanfte Blau passt zu dem Türkis vom Haus gegenüber. Ich frage mich, ob es einen Zusammenhang zwischen Türkis und Türkisch gibt. Gestern las ich ein Gedicht von Barbara Köhler, die vor vielen Jahren auch hier in Istanbul war, mit demselben Stipendium wie ich, nur in einem anderen Haus, damals noch nahe am Galataturm, nach dem das Stipendium benannt ist. Ich bin an diesem Haus vorübergegangen. Ich habe mir die wunderbaren Gedichte nach Istanbul mitgenommen, die in diesem Haus entstanden sind: Istanbul, zusehends:

„EYECATCHING

Blau. Himmelbosporusblau. Schwarzmeerblau

aus Atatürks nachkolorierten Augen, Augen

perlenblau gegen den bösen Blick. Türkis.

Türkisches? …“

In der Nacht habe ich schlecht geschlafen. Ich musste an ein Kind denken. Das Kind saß am Aufgang zur Galatabrücke. Es hatte braungebrannte Haut und lange blondgebrannte zerfilzte Haare. Es hatte blaue Augen. Waren sie türkisblau, bosporusblau oder gar perlenblau? Ich konnte es nicht genau erkennen. Es hatte keine Schuhe an den Füßen. Es war höchstens sechs Jahre alt. Es war ein Mädchen. Ein dünnes und sehr braungebranntes Mädchen. Es saß da und öffnete einen schwarzen Müllsack. In dem schwarzen Müllsack waren vergammelte Brötchen, Papierfetzen, Flaschen, leere Pappbecher, Gemüsereste, Unrat. Es wühlte in dem Müllsack. Ich blieb stehen und sah zu ihm hin. Dann wurde ich weitergezogen. Die Müllsammler in Istanbul sind sehr braungebrannt. Sie sind so schnell wie die trabenden Pferde wären, die sie ersetzen. Sie laufen mit ihren großen Karren rasend schnell durch die Straßen und zwischen den bummelnden einkaufenden essenden lachenden Menschen hindurch. Manchmal stehen sie an einer Ecke und stützen sich mit den Ellenbögen auf ihren Karren ab. Ich frage mich, ob sie die bummelnden einkaufenden essenden lachenden Menschen beobachten. Dann laufen sie wieder die Sokaks- Straßen – hinunter und stemmen sich bei hoher Geschwindigkeit gegen das Gewicht ihrer Karren. Sie wirken immer gehetzt. Ich habe sie noch nie eine Straße hinauflaufen sehen. Sie sind immer lautlos. Immer wenn ich einen Müllsammler sehe, frage ich mich, wohin er läuft. Ich frage mich, ob sie einen Plan haben beim Sammeln des Mülls, den die Istanbuler abends an den Straßenecken ablegen. Auch ich stelle abends den Müll unten an der Straßenecke ab. Man sagte mir, die Istanbuler würden ihren Müll nicht vorsortieren. Man sagte mir, ich solle den Müll immer abends rausbringen, damit sich kein Ungeziefer angezogen fühle. Ich trenne den Müll und lege ihn an einer Stelle ab, an der schon andere Müllbeutel stehen. Den Müll einfach so auf die Straße zu legen, kommt mir seltsam vor, obwohl man mir sagte, das könne ich tun. Es gibt keine Mülltonnen in Istanbul, weil Terroristen in diese Mülltonnen Bomben legen könnten. Also lege ich meinen Müll zum Müll der Anderen. Als ich letztes Jahr in Treviso war, musste man die Müllsäcke an bestimmten Tagen zum Müllwagen bringen. Der Müllwagenfahrer hatte einen Scanner. Nur diejenigen, die eine Berechtigung hatten, durften ihren Müll in seinen Müllwagen tun. Die Müllsammler hier, die immer junge und sehr dunkel gebrannte Männer sind, hagere Männer mit schwarzen Haaren und Augen, sortieren den Müll, den sie sammeln. Als ich einmal in einen Karren hineinschaue, der eigentlich nur ein riesiger schmutziggrauer Sack auf Rädern ist, sehe ich nur Pappe und Papierreste. In einem anderen Karren sehe ich Plastikflaschen. Auf Plastikflaschen gibt es kein Pfand in Istanbul. Wenn man sich Wasser in großen Kanistern nach Hause bringen lässt, wird auf den ersten Kanister Pfand erhoben. Manchmal geben sie einem das Pfand aber nicht mehr zurück, sagte man mir am ersten Tag. Die Müllsammler kommen meist aus Afghanistan und auch aus Syrien, sagte man mir. Vier Millionen Syrer sind in die Türkei geflüchtet, habe ich gelesen. In der Nacht, die nicht kühl wird, muss ich immer wieder an das kleine Mädchen auf der Brücke denken. Ich frage mich, wo sie nun schläft. Ich frage mich, ob sie jetzt bei ihrer Mutter ist und ob ihre Mutter sie liebt. Ich frage mich, ob ihre Mutter ihr beigebracht hat, den Müll zu durchwühlen. Und auch, ob ihre Mutter so blaue Augen hat wie sie. Türkisblau, bosporusblau, perlenblau. Jetzt sind ein paar Wolken vor den sanftblauen Himmel gezogen. Vielleicht regnet es heute wieder. Ich schlafe nicht gut in Istanbul.