Als wir abends von dem Besuch in der Hagia Sophia nach Hause kommen und in unsere Straße einbiegen, sitzt Seda, die Transperson, vor dem Majestikkino. Sollen wir jetzt sprechen? frage ich sie. Ja. Sie ruft den Übersetzer, der sich anscheinend immer irgendwo in ihrer Nähe aufhält. Dann fragt sie mich, ob sie mir aus der Hand lesen soll oder aus dem Kaffeesatz. Nein, sage ich. Die Wahrsagerei, das machen wir später mal. Jetzt will ich ihre Geschichte hören. Ja, natürlich, sehr gerne. Wir gehen in den Vorraum des Kinos und setzen uns auf eine Bank. Meine Tochter hält die Kamera. Die Kamera haben mir Freunde gegeben, die meine Suche nach Zeynep filmisch dokumentieren wollen. Sie waren, als ich hier in Istanbul ankam, vor Ort, um mich bei der Ankunft und an den ersten Tagen zu filmen, sind aber nach ein paar Tagen wieder nach Deutschland zurückgefahren. Die Kamera haben sie dagelassen, damit ich filme, falls ich Zeynep finde. Und auch, damit ich filmen kann, wenn sich etwas ereignet, das mit der Suche zu tun hat. Aber mir will immer nichts einfallen, was filmenswert sein könnte. Bisher fällt mir nur ein, was beschreibenswert ist. Seda hingegen ist schon filmenswert. Und beschreibenswert. Ihre Geschichte sollte festgehalten werden. Meine Freunde, die Filmemacher Ellen Rudnitzky und Zeynel Kizilprayak, sind Dokumentarfilmer. Sie haben schon einige Dokumentarfilme gemacht, hier in Istanbul. Unter anderem einen Film über die Müllsammler, die meiner Tochter, wenn sie sie sieht, immer ganz furchtbar leid tun. Sie kann es nicht fassen, dass hier teilweise schon kleine Kinder schwere Arbeit verrichten müssen. Weil sie das, seit sie vor drei Tagen angekommen ist, schon mehrmals gesagt hat, fällt mir auf, dass ich mich schon fast daran gewöhnt habe. Was auch wieder nicht gut ist. Meine Freunde, die Filmemacher Ellen und Zeynel, haben auch schon einen Dokumentarfilm über Transpersonen in Istanbul gemacht. Daass es hier sehr viele Transpersonen gibt, ist etwas, das auffällt. Wahrscheinlich berichten aber alle immer über dieselben Dinge, die auffallen und die auch mich interessieren. Früher wurde vor allem über die Straßenhunde, die verfallenden Holzhäuser und die Derwischklöster berichtet, heute auch über die Müllsammler und neuerdings über die Transpersonen. Gestern las ich bei Orhan Pamuk, dass die Menschen mit westlichem Blick schon immer über dieselben Dinge berichtet hätten. Schon die Orientreisenden vor hundert Jahren und mehr berichteten vor allem über die melancholisch machenden Phänomene dieser Stadt, die es zu großen Teilen heute auch noch gibt. Théophile Gautier wird als Beispiel angeführt, der für eine Zeitung – ähnlich wie ich mit diesem Tagebuch – jeden Tag eine Kolumne über Istanbul schrieb, wo er sich allerdings nur 70 Tage und nicht wie ich 150 Tage lang aufhielt. Er vergleicht sich einmal mit Scheherazade, die als Inititatorin von 1001 Nacht jeden Abend eine neue Geschichte erfinden musste. Manchmal fühle ich mich auch ähnlich; ich versuche jeden Tag vor Mitternacht eine neue Geschichte zu schreiben. Das kann zu einer richtigen Manie werden. Glücklicherweise gibt es hier genug Geschichten. Man darf sie nur nicht immer zu nahe an sich herankommen lassen. Bei Gérard de Nerval, der vor Gautier in Istanbul und damals schon recht schwermütig war und sich von seiner Orientreise Ablenkung von seinen Depressionen erhoffte, wirkte sich die Melancholie der Stadt verheerend aus. Als er nach Paris zurückkam, hängte er sich an einer Straßenlaterne auf, ironischerweise in der Straße “ Rue de la vieille Lanterne“. Dass Istanbul nicht gut für Menschen mit Depressionen ist, merkt man daran, dass sämtliche Brücken über den Bosporus inzwischen für Fußgänger gesperrt sind. Allzuviele Menschen stürzten sich hinunter. Eine Zeitlang kam es auch zu auffällig vielen Unfällen von Autos, die über die Brüstung stürzten. Davon berichtet Orhan Pamuk in seinem Istanbulbuch. Aber von Transpersonen schreibt er nichts. Ob es sie, als er das Buch verfasste (2003) hier noch nicht gab? Das kann ich kaum glauben. Denn heute gibt es hier so viele. Aber eine Transperson, die Wahrsagerin ist, gibt es  nicht so häufig. Beim Gehen durch die Straßen in meiner Umgebung fällt mir jetzt auf, dass es allerdings schon sehr viele Schilder mit „Fortuneteller/Psychist“-Annoncen, Koffee, Tarot… gibt. Mein Viertel Beyoglu ist bekannt dafür. Es ist in der Türkei völlig normal, zu Wahrsager*innen zu gehen.  „Meine“ Wahrsagerin Seda würde sich sogar beim Wahrsagen filmen lassen, sagt sie. Aber ich weiß nicht, ob mir das gefallen würde. Denn ein wenig abergläubisch bin ich doch auch. Und möchte andererseits nicht etwas, was mir vielleicht nicht gefallen würde, festgehalten sehen…

Wir setzen uns mit Seda in den Innenraum des Kinos. Sie zieht ihren Lippenstift nach und fängt dann an zu erzählen. Ihre Augen sind dabei ganz ernst. Sie erzählt, dass sie als Junge geboren wurde und nach ihrer Geburt erst einmal Erkan hieß. Sie wohnt in Istanbul bei ihrer Familie, die sie akzeptieren würde und sei 42 Jahre alt. Geboren wurde sie in Deutschland, ist aber nach der Geburt zurück in die Türkei gekommen. Aufgewachsen ist sie in Adana. Ihr Vater war Elektriker und hat später als Taxifahrer gearbeitet. Die Mutter war Hausfrau. Sie hat zwei ältere Schwestern und sei schon als Kind anders gewesen als andere Kinder. Das sei bald aufgefallen, dass sie lieber mit Puppen und Mädchen gespielt habe als mit Jungen. Als die Lehrer in der Schule den Eltern gesagt hätten, sie sollten mal mit ihr zum Arzt gehen, habe der Doktor gesagt, jetzt sei es zu spät, sie hätten eher kommen sollen, damit man noch etwas hätte tun können. Aber man hätte doch nichts tun können, kommentiert Seda dann ihre Aussage, denn das was sie hätte, sei doch keine Krankheit. Sie sei damit geboren worden. Im Alter von elf Jahren ist sie in der Schule von fünf älteren Jungen brutal vergewaltigt worden. Das sei es aber nicht, warum sie transsexuell geworden sei, diese Vergewaltigung, fügt sie sofort und hastig hinzu. Die Jungen hätten das gemacht, weil sie anders gewesen sei, femininer und auch, weil sie sie dafür gehasst hätten. Sie sei eben in ihren Augen ein Opfer gewesen. Niemand habe sie gemocht. Freunde hatte sie nicht. Manche Mädchen seien ein wenig freundlicher gewesen, aber zu Freundschaften sei es mit ihnen auch nicht gekommen. Seda hat, fällt mir jetzt auf, sehr schöne Augen und ein schönes Gesicht. Ich kann sie mir nicht als Mann vorstellen. Ihre Eltern hätten sie immer geliebt, sagt sie dann, sie würde ja heute noch bei ihnen wohnen. Aber damals war es schwer für sie, sie zu akzeptieren, denn niemand akzeptierte dieses Anderssein. Die Nachbarn nicht, erst recht nicht die weitere Familie. Mit 18 Jahren sei sie darum von zu Hause ausgerissen und nach Istanbul gefahren, mit dem Bus. Dort sei sie zum Taksimplatz gegangen, weil sie gehört hatte, dass dort Transpersonen leben würden. Sie hat dann ein Jahr im Park auf dem Platz gelebt, Tag und Nacht unter freiem Himmel. Danach hat sie einen Mann kennengelernt, der sehr freundlich zu ihr gewesen sei und ihr versprochen habe, ihr zu helfen. Er habe sie in sein Haus aufgenommen, ihr Essen und Kleidung gegeben. Aber sie sei naiv gewesen und habe seine bösen Absichten nicht erkannt. Nach einem halben Jahr habe sie nämlich für ihn anschaffen müssen, sei verkauft worden. Er war ein Zuhälter. Dann hat sie ein paar Jahre als Prostituierte auf der Straße gearbeitet. Irgendwann hat sie eine Frau kennengelernt, die ihr beigebracht habe, sich selber stark zu fühlen. Nicht mehr die schwache zurückhaltende Person zu sein, die sich nicht selber kennen würde. Diese Frau habe ihr auch geholfen mit chirurgischen Eingriffen, die sie mehr zu einer Frau gemacht hätten, plastische Chirurgie im Gesicht. Körperlich sei sie ansonsten bis heute ein Mann; der Prozess, sich umwandeln zu lassen sei noch nicht abgeschlossen, weil die Behörden noch nicht die Erlaubnis gegeben hätten. Sie nähme aber schon viele Jahre Hormone. Sedas Stimme ist tief, sie spricht wie ein Mann, auch wenn ihre Augen wie die einer Frau aussehen. Sie ist sehr groß und sehr kräftig gebaut und hat lange braune Haare. Ihre Hände sind auch kräftig, aber sie hat sehr lange, schwarz lackierte Nägel. Die Frau, die ihr geholfen hat, hieß übrigens die „verrückte Emine“, und sie war eine Art Puffmutter. Sie hatte andere Frauen, die für sie als Prostituierte arbeiteten, Seda habe das aber für sie nicht getan. Dann hat Seda einen Mann kennengelernt, der sich in sie verliebt hat. Er war ein guter Mann, sagt sie, besaß ein Unternehmen, kümmerte sich um sie, stellte sie auch seiner Familie vor, die sie gemocht habe. Ein paar Jahre sei das gut gegangen, dann habe sie wieder angefangen, Drogen zu nehmen, weil sie unglücklich war und ihre Familie vermisste, mit der immer noch kein Kontakt bestand. Sie hatte sich, seit sie von zu Hause ausgerissen ist, aus Scham nicht mehr bei ihnen gemeldet. Daraufhin kam es zur Trennung mit ihrem Freund und sei sie wieder auf den Strich gegangen. Im August 1999 hat es in Yalova, unweit von Istanbul an der Schwarzmeerküste, ein schlimmes Erdbeben gegeben, bei dem 17000 Menschen ums Leben gekommen sind. Daraufhin hätten sie und ein paar Transfreundinnen beschlossen, Hilfsgüter in diese Gegend zu bringen und bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Als sie dort waren, hätten sie so viel Schreckliches gesehen, so viele sterbende und schwer verletzte Menschen. Und Seda fand ein Baby, dessen ganze Familie ums Leben gekommen war. Dieses Baby wollte sie adoptieren. Das habe erst nicht geklappt, dann aber doch. Sie habe anschließend das Kind, einen Jungen, den sie Jihan genannt hatte, großgezogen. Aber dann…sie redet stockend weiter. So viele ihrer Freunde seien ermordet worden. Mir fällt ein, dass mir gestern jemand erzählte, dass in der Türkei sehr viele Transsexuelle umgebracht werden… Seda erzählt, dass sie mit ihrer besten Freundin, einer Transperson und ihrem adoptierten Sohn, der damals sechs Jahre alt war, in Istanbuls Viertel Nisasantir unterwegs gewesen sei, als sie von einem Mann angegriffen wurden, der Transpersonen hasst. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, nur mit Mühe kann sie weitererzählen. Willst du abbrechen? Nein, sie will weitererzählen. Ihre beste Freundin sei ermordet worden und ihr Kind hätten sie auch getötet, sagt sie und fängt an zu weinen. Sie müsse jetzt doch erst einmal eine Zigarette rauchen. Wir machen eine Pause. Sollen wir an einem anderen Tag weitermachen? Ja, sehr gerne. Langsam erholt Seda sich. Transphobe Morde passieren in Istanbul sehr häufig, das weiß ich schon aus dem Dokumentarfilm über Transsexuelle und auch aus dem Buch „Unerhörte Stimmen“ von Elif Shafak, in dem es um eine Transperson geht, die ermordet wird. Den Transpersonen, die in der Türkei Geächtete sind, erst recht unter der immer religiöseren Regierung, bleibt nichts anderes übrig, denn als Prostituierte oder Sängerin zu arbeiten. In keinem anderen Bereich würde man sie arbeiten lassen, sagt mir jetzt Sedas Übersetzer. Ich muss an die Transperson im Kartenoffice des Kölner Theaters denken. Immer wenn ich dort war, um Karten zu kaufen, ging ich besonders gerne zu ihr, weil ich ihren Humor mochte. In Deutschland ist es zwar noch ungewöhnlich, aber man kann Transpersonen auch an anderen Arbeitsorten als in Bordellen und Spelunken antreffen. Und ich erinnere mich an ein Gespräch mit muslimischen Freunden, in denen es um Homosexualität ging. Sie sagten damals, das sei das Allerletzte und nicht gottgewollt, unnatürlich und müsste verhindert werden. Der Gott habe Mann und Frau geschaffen, nur für den Zweck, dass sie sich vermehren. Alles andere sei nicht normal und gottgewollt. Und dann fällt mir der Besuch in der Kirche St. Aposteln ein. Letztes Jahr war es, zur Dreifaltigkeit. Der Priester dort sagte auch so etwas Ähnliches, um darauf hinzuweisen, dass Homosexualität gar nicht ginge: Jedes Kind habe eine Mutter und einen Vater. Das sei der Beweis dafür, dass Homosexualität von Gott nicht gewollt sei. Auch in der christlichen Kirche gibt es diese  Homophobie. Aber: Wie ist es denn eigentlich mit Jesus? Wer war denn nun der Vater von Jesus? Hat er Vater und Mutter? Der heilige Geist ist doch kein Mann!! Die Homosexuellen hier in der Türkei und insbesondere die Transpersonen, die ihre Sexualität offen nach außen leben, bleiben unter sich, um zu überleben. Im Nachbarviertel Tarlabaşıf leben besonders viele von ihnen. Dort ist auch der Transpersonenstrich. In direkter Nachbarschaft zu Drogenkriminalität und Verbrechen. Die meisten Transpersonen in der Türkei sind von ihrer Familie verstoßen worden und werden nie wieder aufgenommen, was hier in der Türkei, wo die Familie über alles geht, ein viel schlimmeres Unglück ist als in Deutschland. Seda hat Glück, dass ihre Familie, die seit zehn Jahren in Istanbul lebt, wie sie mir erzählt hat, sie mit offenen Armen wieder aufnahm und sie bis heute beherbergt. Die Angriffe und Agressionen gegenüber diesen Menschen enden oft tödlich, der Hass vieler türkischer muslimischer Männer ihnen gegenüber ist groß. Elif Shafak beschreibt, was mit den meisten Opfern passiert. Da sie von ihren Familien auch nach dem Tode verleugnet werden, werden sie, was wie in allen muslimischen Ländern sehr schnell gehen muss, anschließend anonym auf dem Geächtetenfriedhof in Kylios am Schwarzen Meer begraben. Dort kommen alle diejenigen hin, die niemanden haben, der sich um ihr Begräbnis kümmern will oder kann: Angeschwemmte Leichen von Flüchtlingen, Drogenabhängige, Prostituierte und eben Transpersonen. Anonym begraben, ohne Namen, nur mit einer Nummer versehen. Ich verabschiede mich von Seda, die ihre Zigarette aufgeraucht hat und wieder lächeln kann. Sie hat ihr Kind an einen Mörder verloren. Was für ein furchtbares Schicksal! Sie steht im Eingang vom Kino, neben ihr der Übersetzer und eine andere Frau, mit der ich sie auch schon oft habe reden sehen. Sie hat bei allem Schrecklichen, was sie schon erlebt hat, doch jetzt anscheinend Menschen gefunden, die um sie herum sind, die sie lieben und sich um sie kümmern. Ich bin gespannt, wie ihre Geschichte weitergeht, an einem der nächsten Tage wollen wir uns wieder treffen. Eine besondere Geschichte von einem ganz besonderen Menschen hier in Istanbul. Morgen werde ich sie wieder besuchen…