Tag 120. CHRYSOSTOMUS/VOSGEPERAN- GOLDMUND

Immer wenn ich am Flughafen bin und auf den Abflug oder die Ankunft von oder nach Istanbul warte, wundere ich mich über die Deutschtürken, die nach Deutschland fliegen oder von Deutschland kommen. Denn die meisten von ihnen sind Türken von einer Art, die ich hier in Istanbul sonst so gut wie nie zu Gesicht bekomme. Ich meine damit vor allem die Frauen, denn die meisten Männer sehen so aus wie alle Männer in der westlichen Welt. Aber die Frauen nicht. Sie tragen lange Mäntel bis auf den Boden und haben das Tuch ins Gesicht gezogen. Und sie sprechen perfekt Deutsch. Istanbul ist nicht die Türkei, sagt man mir, als ich über diese Feststellung mit türkischen Freunden spreche. Es ist ein besonderer Raum, ein freier Raum. In Deutschland bekam ich das neue Buch von Emine Sevgi Özdamar: „Ein von Schatten begrenzter Raum“. Ich fing an zu lesen und konnte nicht mehr aufhören und würde am liebsten jedem dieses Buch zur Lektüre empfehlen. Weil es mir so gut gefällt, weil es mich so sehr berührt, kann ich mir vorstellen, dass es Euch, liebe Leser, die ihr an meinen Wegen durch Istanbul interessiert seid, und die Stadt durch meine Augen ein wenig kennengelernt habt, auch gefällt. Denn große Teile dieses Buches, das auf Deutsch und in Deutschland geschrieben wurde und dass von den 70er und 80er und 90er Jahren in Deutschland und der Türkei handelt, spielen in Istanbul. Özdamar, die eine in Deutschland sehr bekannte Schriftstellerin und Schauspielerin ist, ist hier in der Türkei gar nicht bekannt und auch nicht übersetzt. Sie wird vermutlich als Nestbeschmutzerin betrachtet. Auf sie, die ja auch auf Deutsch schreibt, trifft der Spruch vom Propheten im eigenen Land sehr zu. Sie schreibt aber selber, dass sie in Deutschland, wo sie sehr erfolgreich ist und gerade gestern den großen bayrischen Literaturpreis für ihr neues Werk bekommen hat, auch als Türkin und nicht als Schriftstellerin wahrgenommen wird. So hat sie zu Beginn ihrer Karriere als Schauspielerin Anfang der 70er Jahre dauernd nur Rollen als Putzfrau bekommen. Und noch heute wird in Deutschland an ihren Büchern immer das „türkische“ rezensiert. Dabei lebt sie schon mehr als 50 Jahre in Deutschland, hat mit Größen wie Zadek und Peter Stein zusammengearbeitet und viele Preise bekommen und schreibt ein wunderschönes Deutsch. In ihrem neuen Buch geht es wie auch in vielen ihrer vorherigen Bücher, um Istanbul. Und Istanbul sei, sagt sie selber, nicht die Türkei. Istanbul, schreibt sie auch, ist ganz anders als viele Deutschtürken sind, die sie in Deutschland getroffen hat und die ihr manchmal Angst machten, wie sie schreibt, vor denen sie sich manchmal sogar mit Polizei schützen musste. Denn eine Zeitlang wurde ihr vorgeworfen, zu „kurdenfreundlich“ zu sein. Istanbul ist viel mehr als diese Leute, die alles hassen, was anders ist als sie, was eine andere Religion, eine andere Herkunft hat. Istanbul hat soviel Geschichte, Kultur, Völker, Religionen. Religionsvielfalt vor allem. Das hat nicht nur etwas mit der Türkei zu tun, sondern auch mit der Antike, dem französischen und italienischen Einfluss, den vielen Juden, die seit dem 3. Jhd. n.Chr. hierhergekommen sind und nicht belästigt wurden und vor allem mit der großen und wichtigen Bedeutung, die die Griechen/Byzantiner und Armenier über fast zwei Jahrtausende für die Entwicklung der Stadt hatten.

Am Taksimplatz, der von außen betrachtet erst einmal nichts Schönes hat, sondern ein von Hochhäusern umgebener riesiger Platz ist, gibt es an religiösen Gebäuden genau drei. Da ist einmal die griechisch-orthodoxe Kirche in Richtung Bosporus, deren Türme und Kuppeln fast aussehen wie die von einer Moschee, was vor allem daran liegt, dass die byzantinische Bauweise sowohl in Moscheen als auch in griechischen Kirchen weitergeführt wird. Dann ist dort auch die Moschee, die diese Kuppeln imitiert und so wirkt, als sei sie Jahrhundertealt. Dabei ist sie aber erst im Mai diesen Jahres eingeweiht worden, vom Präsidenten höchstpersönlich. Das erinnert mich ein wenig an die Einweihung der Hagia Sophia, die Kaiser Konstantin vornahm, indem er auf einem Schimmel durch das Haupttor bis zum Altar ritt. Die am wenigsten auffällige Kirche aber steht seit Mai im Windschatten dieser Moschee, von dieser nur durch eine schmale Straße getrennt und inzwischen so verdeckt dass sie vom Taksim aus gar nicht mehr zu sehen ist. Hierbei handelt es sich um die erste armenische Kirche, die ich hier in Istanbul entdeckte, die Surp Vosgeperan Kirche. Surp heißt heilig und der Heilige dieser Kirche, die armenisch-katholisch ist, ist der heilige Johannes Chrysostomos, der aus Antiochia stammte, welches zu seiner Zeit noch zu Persien gehörte und heute lange türkisch ist. Er lebte im vierten Jahrhundert, war Erzbischof von Konstantinopel und für seine Beredsamkeit und seine Predigten berühmt, weshalb man ihm den Beinamen Chrysostomos verlieh, was griechisch ist und auf deutsch Goldmund heißt. Auch das armenische Vosgeperan bedeutet Goldmund. Katholische armenische Kirchen sind eher selten. Die Armenier, deren König Trdat um 300 christlich wurde und der als erster das Christentum zur Staatsreligion erhob, sind das erste christliche Volk der Welt, sie waren also noch vor den Georgiern christlich, was diese gar nicht gerne hören, wie ich in Georgien feststellte. Die Armenier sind heute mehrheitlich armenisch-orthodox, was apostolisch genannt wird. Aber irgendwann muss sich auch der Katholizismus in dem Land breitgemacht haben. Hier in meinem Viertel Beyoğlu gibt es nämlich mindestens noch eine weitere katholisch-armenische Kirche. Ich lese nach: In Istanbul, wo heute noch 45000 Armenier leben, gibt es insgesamt 33 apostolische, 12 katholische und 3 protestantische Kirchen. Diese 45000 Armenier in Istanbul bilden übrigens 75 Prozent der Armenier in der Türkei. Vor hundert Jahren, kurz bevor der Völkermord an den Armeniern begann, lebten in der Türkei noch 1,5 Millionen Armenier. Zum Vergleich. 1933 lebten in Deutschland 500000 Juden. 1945 gab es nur noch 15000 deutsche Juden in Deutschland. Vor Beginn der großen Zuwanderung aus dem Osten in den 90er Jahren ist diese Zahl wieder auf ca. 30000 gestiegen. Özdamar berichtet in ihrem Buch immer wieder, dass über den Völkermord an den Armeniern überhaupt nicht gesprochen wurde in der Türkei. Auch heute noch spricht man nicht darüber. Wenn ich türkische Freunde darauf anspreche, sagen sie, das Wort Völkermord wäre nicht richtig, passender sei das Wort „Umsiedlung“. Özdamar berichtet in ihrem Buch, dass viele Menschen in Istanbul armenische Nachbarn oder angeheiratete Verwandte hatten. Auch ihre eigene Großmutter gehörte dazu, sie war aus Ostanatolien nach Istanbul gekommen, aus einer Gegend, wo heute nur noch Muslime leben und wo 1915 fast nur Armenier lebten. Özdamars Großmutter stieg nämlich manchmal plötzlich auf einen Stuhl und rief: „Aboo, aboo, wie die armenischen Bräute sich von den Brücken hinuntergestürzt haben, gesehen haben sie mit ihren jungen Augen, die blind sein wollten, die Hölle und das Feuer auf dieser Erde, die Schürze noch über ihren Kleidern, barfuß, die Augen groß, die Hände groß, die Füße groß vom Totenmarsch, ihre Kinder als Skelette vor ihren Füßen, das Feuer, in dem sie lange liefen, liefen und liefen, war siebenmal heißer als das Höllenfeuer. Aber wohin gingen sie, die Schürze noch über ihren Kleidern? Aber wohin sollten sie gehen? Zu welcher Hoffnung? Getrieben von den Bösen, die auf den Pferden saßen. Diese Bräute konnten lesen und schreiben. Sie lasen im Dorf unsere Briefe, schrieben auch für uns Briefe mit zartem Charakter an unsere Männer, die weit weg waren, noch weiter als die Orte in den Träumen, dort mit Gewehren, still in ihren Mantel gehüllt, in denen Kriegsläuse saßen. Sie saßen unter dem Sternenhimmel, den Sternen, die ihren kommenden Tod vor ihnen von oben aus sahen, aber nicht mit Sternenhänden diese jungen Männer, noch unschuldig, aufsammeln konnten vor dem Tod. Wir waren gute Nachbarn dieser armenischen Bräute. Als sie noch lebten, kamen armenische Zeitungen aus Istanbul ins Dorf. Als sie starben, kamen keine Zeitungen mehr. Wohin sind alle diese Menschen gegangen, wohin?“ Die wenigen verbliebenen Nachfahren der Armenier, von denen im Rahmen des Völkermords unter deutscher Beteiligung ca. eine Million ums Leben kam, verteilen sich heute hauptsächlich auf Istanbul, wo sie, unauffällig lebend und ihre Kirchen versteckend, noch am wenigsten behelligt werden. Die restlichen 25 Prozent sind meist in der Provinz Hatay zu finden, viele jedoch nach außen hin nicht als Armenier lebend. Das einzige Dorf, das noch komplett armenisch ist, ist ein Dorf am Musa Dagh, wo es im Jahr 1917 einen Widerstand gegen die türkische Verfolgung gab. Dort wohnen heute 130 Menschen. Istanbul ist also fast der einzige Ort, wo man Armeniertürken begegnen kann, wie sie hier bezeichnet werden, obwohl sie doch schon viel länger in der heutigen Türkei sind als die Türken selber. Denn die Armenier siedelten hier schon nach 400 n.Chr. , bauten überall Kirchen, Schulen Krankenhäuser, die man heute nur noch in Istanbul finden kann. In allen anderen Städten, insbesondere denen, die von der anatolischen Landbevölkerung besetzt wurden, nachdem man die Armenier vertrieben hatte, sind die Kirchen, Krankenhäuser und Schulen zerstört. Möchten armenische Familien vom Lande heute ihren Kindern eine armenische Erziehung angedeihen lassen, müssen sie sie nach Istanbul schicken. Zeynep hat mir auch schon öfter von ihren armenischen Freundinnen erzählt. Die wohnen alle in einem Viertel, das nicht weit von Zeyneps Viertel entfernt ist, in Şişli. Es ist ein liberales, westliches, wohlhabendes Viertel, denn die Armenier sind im Schnitt gebildeter und wohlhabender als die Türken. Und es liegt gleich neben dem riesigen armenischen Friedhof, den zu besuchen ich mir für morgen vorgenommen habe. Die armenische Kirche zum hl Goldmund, von der ich anfangs berichtete, und die sich am Taksimplatz befindet, seit einem halben Jahr aber von der danebenliegenden neu gebauten Moschee verdeckt wird, war bisher immer verschlossen, aber vor ein paar Tagen fand ich sie plötzlich geöffnet vor. Wie alle armenischen Kirchen, die ich bisher besichtigt habe, war auch sie sehr sauber, sehr aufgeräumt, mit vielen Spitzendeckchen versehen, blitzte und blinkte alles. Der Bau ist im Jahr 1860 von den armenischen Architekten Andon und Garabet Tülbentciyan errichtet worden, anstelle eines älteren Holzbaus, der abgebrannt war. Durch große Fenster fiel ein goldenes Licht. Wir waren ganz alleine in der Kirche, die so aussah, als wenn hier so gut wie nie Touristen sind, was kein Wunder ist, denn von außen erkennt man nicht, dass sich hier eine Kirche befindet. Sie ist schlicht, mit wunderbaren grünen Marmorsäulen versehen, die Kuppeldecke ausgemalt, licht, hell beeindruckend. Wir waren um die Mittagszeit dort und als wir gerade rausgehen wollten, fing auf einmal der Muezzin der gleich danebenliegenden Moschee an zu singen. Das Minarett ist direkt neben dem Fenster der Kirche. Nun klang das Allah u akbar hier im Kirchenraum so laut wie noch nicht einmal draußen auf dem Kirchenvorplatz. Da müssen die Gottesdienste hier drinnen gut zeitlich geplant werden, damit sie sich nicht mit den Gebetsrufen überschneiden, sagte mein Begleiter. Manche Menschen regen sich sehr darüber auf, dass so viele ehemalige Kirchen in Istanbul in Moscheen umgewandelt wurden. Darüber kann ich mich nicht so aufregen wie über dieses plötzliche lautliche Eindringen in die Goldmundkirche, in der nur noch sehr selten Predigten gesprochen werden und noch seltener welche mit goldenem Mund. Zeynep befrage ich nicht dazu. Sie mag weder die Gotteshäuser der einen noch der anderen Religionen, wie so viele Türken, die ich hier schon kennengelernt habe. Die sagen fast alle von sich, dass sie Atheisten sind. Aber den Vermerk Muslim aus dem Pass streichen zu lassen, kriegen sie doch nicht hin. Das würde eine Menge Ärger nach sich ziehen. Zeynep nimmt aber kein Blatt vor den Mund und nennt den Völkermord auch nicht Umsiedlung. Eben las ich noch einen Twitterpost von ihr. In der Türkei bezeichnet man die Armenier, Juden, Griechen, die „anderen“ als Renklerimiz, „farbig“. Dieser Begriff kommt ursprünglich daher, dass diese Religionen für ihre Häuser Farben verwendeten, während die Häuser der Türken meist weiß oder hellgrau waren. An der Hagia Sophia mit ihrer schönen roten Farbe hat man ein gutes Beispiel dafür. Heute wird jedoch dieser Begriff sehr abfällig verwendet. Aber für sie selber, schreibt Zeynep, ist es genau umgekehrt. Für sie bedeutet dieser Begriff etwas besonders Schönes, nämlich eine wunderbare Zierpflanze, die das Haus erst schmückt! Ich habe mich gefreut, als ich ihren Kommentar gelesen habe. Auch Emine Sevgi Özdamars Buch ist so etwas, eine wunderbare Zierpflanze, die die deutsche Literatur enorm bereichert!