BARIK-SEGEN

Es sind dieses Jahr schon einige Menschen gestorben, die ich persönlich kannte, meistens aus der Generation meiner Eltern, niemand an Covid. Gestern las ich bei Emine Sevgi Özdamar in „Ein von Schatten begrenzter Raum“, dass es ihr so vorkommt, als seien die Toten ihr Land, seien in ihr drin. Das kann ich gut nachvollziehen. Manchmal mag ich schon gar nicht mehr ans Telefon gehen, weil ich befürchte, dass sich dann wieder jemand meldet, der mir eine Todesnachricht bringt. Die schlimmste Nachricht von allen aber bekam ich letzte Woche, kurz bevor ich mich auf den Weg nach Deutschland machte. Da erhielt ich nämlich die Mitteilung, dass meine gute Freundin, die wunderbare, zarte, kräftige, feine und kluge Marie T. Martin, die ich zuletzt im Mai besucht hatte, als es ihr schon sehr schlecht ging, verstorben ist. Es war erwartbar, aber ich kann es trotzdem immer noch nicht fassen. Wir haben in Deutschland eine andere Trauer und Totenkultur als die Menschen hier in der Türkei. Wenn hier jemand stirbt, dann findet sich die Familie und manchmal auch die Nachbarn zusammen, um gemeinsam zu trauern. Die Frauen kochen dann eine bestimmte Speise. Diese Speise habe ich auch schon einmal gegessen, ich bekam sie an meinem Geburtstag in einem Lokal. Es ist eine Art Helva, wird aus Gries und Zucker gekocht, wenn die Frauen es gemacht haben, wird es zu den Nachbarn gebracht. An meinem Geburtstag wusste ich noch nicht, um was es sich handelt, das erfuhr ich erst später. Kann aber auch sein, dass der eher nichtreligiöse Besitzer dieses Lokals nichts mit solchen Sitten zu tun hat. Ich las bei Elif Shafak etwas über die Zubereitung dieses Helvas. Man darf beim Bereiten ruhig weinen, ansonsten soll man aber seinen Schmerz auch als Muslim nicht zu sehr zeigen. Wenn man das Helva isst, so geht der Glaube, soll einem der Tote im Traum erscheinen. Ich glaube, ich sollte vielleicht auch Helva zubereiten. Mir ist Marie bisher noch nicht im Traum erschienen. Ich finde es aber eigentlich auch immer sehr unheimlich, wenn ich erschrecke, weil ich mir für einen Moment einbilde, ich hätte auf der Straße jemanden getroffen, der eigentlich tot ist, was mir manchmal passiert. Die Religionen, die hier in Istanbul zu Hause sind, glauben an die leibliche Wiederauferstehung, sowohl die Muslime wie auch die Christen verschiedenster Couleur (gestern schrieb ich noch darüber, dass man die verschiedenen Religionen hier anhand der Farben – renkler – ihrer Häuser auseinanderhalten kann). Deshalb werden die Friedhöfe auch nicht ausgehoben, sondern die Gräber bleiben theoretisch ewig bestehen. Einäscherungen gibt es so gut wie gar nicht hier in der Türkei. Ich habe hier schon verschiedene Friedhöfe besucht, unter anderem war ich auf einem armenisch-evangelischen Friedhof, der sich direkt neben dem evangelischen Friedhof befindet. Ich interessiere mich für die armenischen Religionen und lese, dass die armenisch-apostolischen Gläubigen früher in weißen Gewändern zur Beerdigung gingen. Heute will ich auf den armenisch-apostolischen Friedhof gehen, den größten Friedhof von all denen, die ich bisher besichtigt habe. Wie auf allen nichtmuslimischen Friedhöfen wird man dort am Tor erst einmal sehr abweisend und feindlich empfangen und es kostet mich einige Überredungskünste und sogar ein wenig Lügengespinste, um überhaupt eingelassen zu werden. Ich stottere auf türkisch und erzähle etwas von Deutschland und von Freunden, die Armenier seien und zu unserer Familie gehören. Denn auf die Friedhöfe hier in Istanbul werden immer nur Familienangehörige gelassen. Die Armenier, die Griechen und die Christen haben zuviel Leid erlebt. Sie sind misstrauisch. Verstehen kann ich es. Ich kann auch verstehen, dass die „Totenruhe“ nicht gestört werden soll. Denn bei den apostolischen Christen, den „Urchristen“, den ersten Völkern also, die christlich wurden, wird der Tod ebenso wie bei uns nur als Übergang gesehen, ist also gar nicht wirklich „Tod“ und „Sterben“, sondern wird freudig begrüßt, weil er ein Schritt auf dem Weg in den Himmel ist. Das armenische Wort für einen Toten ist „Ruhender“ oder „Schlafender“. Allerdings ist es bei ihnen doch noch anders als bei den Muslimen, für die das Leben auf Erden nichts bedeutet im Vergleich zum Leben im Himmel. Wenn ein Türke mir erzählt, dass jemand nicht mehr lebt, zum Beispiel seine Eltern, faltet er die Hände neben seinem Kopf und macht das Zeichen für Schlafen. Heute habe ich bei meinem Besuch auf dem Friedhof einen Muslim an meiner Seite. Neben mir geht nämlich Baran, mein Deutschschüler, der 19jährige Sohn der Cafébesitzer vom Haus neben meiner Wohnung. Er ist inzwischen im Goetheinstitut eingeschrieben und nimmt an einem Deutschkurs teil und ich habe am Morgen mit ihm ein wenig Deutsch geübt und ihn dann eingeladen, mich auf den Friedhof zu begleiten. Das tat er auch ohne Murren. Wir sollten allerdings mit dem Taxi fahren, denn im Bus oder der Metro könne man sich Covid holen, sagt sein Vater und besteht darauf, das Taxi zu zahlen. Gut, so soll es sein. Der Taxifahrer weiß Bescheid und setzt uns vor dem prächtigen Haupteingang des Armenischen Friedhofs ab, der von 1906 ist und den Friedhof auf dem Taksim ersetzte, auf dem jahrhundertelang die Armenier beigesetzt wurden. Baran ist mir beim Pförtner keine Hilfe, aber er darf dann auch mit hineinkommen. Er erzählt mir, dass er aus Mus stammt, einer Stadt in Anatolien/Kurdistan und er erzählt mir auch, dass dort früher nur Armenier gewesen seien. Aber jetzt seien dort schon 200-300 Jahre nur Kurden, fügt er hinzu. Ich verbessere ihn und sage ihm, dass es erst 100 Jahre her sei, dass die Armenier vertrieben und ermordet worden sind. Aber für ihn sind 100 oder 300 Jahre fast gleich lang. Dass sehr viele Armenier sind vor langer Zeit, davon hat er allerdings auch gehört Dann gehen wir langsam die Reihen entlang. Der Friedhof ist riesengroß. Er liegt inmitten von Hochhäusern. Die Gäste vom Marriott und von den zwei Trumptowern (ja, auch die gibt es in Istanbul!!!) können auf die Gräber sehen. Aber sonst niemand. Wir treffen heute auch niemanden auf dem Riesengelände, erst ganz am Schluss kommen wir an zwei Gärtnern vorbei-. Die Gräber sind wunderschön und sehr gepflegt, auf vielen wachsen über und über blühende Rosenstöcke. Viele haben Skulpturen, sehr viele sogar Porträtskulpturen der Verstorbenen. Viele Prominente liegen hier begraben, enge Freunde von Atatürk, berühmte Schauspieler, Professoren, Musiker….und unbekannte Menschen, die sich mit ihren Porträts auf ihren Grabsteinen verewigt haben. Die Armenier haben viel Geld, erzählt Baran mir, ihnen gehören nur auf dem Taksim mindestens zwanzig Häuser, habe sein Vater gesagt! Ja, dass sie viel Geld haben, kann man sehen, die Menschen, die hier für ihre Angehörigen Grabmäler haben errichten lassen. Barans Vater ist gläubig und sehr streng mit seinem Sohn. Er darf natürlich nicht trinken, wird mit dem Geld sehr kurz gehalten und hat kein Internet außerhalb des Hauses, erfahre ich nun. Alleine mit dem Bus fahren geht auch nicht. Alle Fahrten werden mit dem Taxi erledigt. Mein Nachname ist einer der 99 Namen von Allah, und zwar der zweite, erklärt mir Baran, als ich ihn auf seinen strengen Vater anspreche. Und auch dass sein Nachname – Barik – immer gesagt wird, wenn ein Muslim ein Gebet aufsagt und dass er Segen bedeutet. Zwischen den Grabreihen sind immer wieder große Wasserbassins im Boden eingelassen, mit Seerosen, Wasserläufern, blühenden Rosenbüschen versehen. Wir gehen andächtig und bewundernd weiter. Und reden wir über die vielen Engel (Melek)-Skulpturen und warum es manchmal Kinder, manchmal Frauen, manchmal Männer sind. Baran erklärt mir, dass es im Islam vier Engel gäbe und auch wie die heißen und wofür die zuständig sind. Gabriel ist für die Winde und Heere verantwortlich, Michael für den Regen und die Pflanzen, der Todesengel Uriel für das Sterbenlassen und Israfil für die Befehle, die von oben ergehen. Und ich erkläre Baran die Marienfiguren und dass es sich dabei um Meryem handelt, die er aus dem Koran kennt und er fragt mich dann nach einem deutschen Gebet und ob ich wohl beten würde. Die Christen beten mit gefalteten Händen, ich zeige es ihm. Die Muslime beten hingegen mit nach oben geöffneten Händen. Ich sage ihm das Vaterunser vor und er sagt mir das Bismillahirrahmanirrahim -Gebet auf, das die Muslime beim Tode eines Menschen sprechen. Hoffentlich erzählt er das nicht seinen Eltern. Mir ist es ein wenig peinlich, weil es fast so aussieht, als wollte ich ihn bekehren. Dabei liegt mir nichts ferner als das. Ich könnte es gar nicht. Er scheint das Ganze aber sehr interessant und schön zu finden und findet nichts ;erkwürdiges daran. Wir gucken uns ein paar besonders prächtig blühende Rosenstöcke an und ich kann ihn nur knapp davon abhalten, eine Rose zu pflücken und gehen weiter. Als wir ungefähr in der Mitte des Friedhofes sind, will er mir etwas erklären, kann es aber nicht auf deutsch sagen. Er sucht es im Übersetzer meines Handys zusammen. Ich lese dann, dass er hier, wo keine Menschen sind, spürt, dass hier sehr viele Seelen sind, die mit ihm sprechen und dass er ihren Schmerz und ihre Qualen wahrnimmt.

Wir sprechen über die Armenier und dass so viele von ihnen umgebracht wurden. Plötzlich erzählt er mir, dass es auch in seiner Familie Armenier gäbe (oder zumindest meine ich so etwas zu verstehen). Als wir an einem bestimmten Grab vorbeikommen, zeigt er mir einen Namen. Das ist der Name meiner Tante, sagt er. Die Frau meines Onkels, sie ist Armenierin! Wir stehen eine Weile da. Dann gehen wir weiter und bestaunen noch einige der prächtigen Grabmäler. Die Grabstätten sind alle von nach 1910, die meisten interessanterweise erst aus den letzten Jahren. Es herrscht hier, in den Alleen und zwischen dem vielen weißen Marmor, der mich ein wenig an die antike Stadt Ephesos erinnert, eine irgendwie sehr lichte, fast heitere Stimmung. Die vielen Blumen, die blühenden Rosenstöcke, die bunten Fotos auf den gepflegten Grabstellen, versetzen mich in gute Laune. Fast…wenn mir nicht wieder Marie einfiele. Aber dann stelle ich mir vor, dass sie vor zehn Jahren, als sie in Istanbul war und dasselbe Stipendium hatte wie ich, hier auch entlanggegangen ist und wie ich diese wunderbaren Rosen gesehen hat, die in allen Farben blühen und ihren Duft gerochen und glücklich war, wie ich es jetzt eben eigentlich bin…wie oft habe ich noch vor ein paar Monaten mit ihr darüber gesprochen, wie sie diese Spaziergänge durch Istanbul genossen hat. Und dann fällt mir ein, dass sie nicht wollen würde, dass irgendjemand traurig ist, weil sie nicht mehr da ist! Es ist doch gut, dass ich an sie denke, hier auf diesem armenischen Friedhof in Istanbul, auf dem die Ringelblumen leuchten und die Rosen duften und die Toten ungestört und in friedlicher Umgebung ihren ewigen Schlaf halten können. Mit einem Kissen unter ihrem Kopf. Ich stelle mir vor, dass auch Marie jetzt friedlich schläft und die Rosen riecht und die Vögel singen hört so wie ich gerade…