Diyarbakir ist so etwas wie die inoffizielle Hauptstadt des türkischen Kurdistan und liegt 1500 km von Istanbul entfernt Richtung Ost in Anatolien, nicht weit von der iranischen und der syrischen Grenze entfernt. Mein Tag hier beginnt heute mit einer Trauerfeier. Abgeholt werden wir am Morgen vom Vater meiner Freundin Rosda mit dem Auto und dann geht es über die Landstraße Richtung Gümüsköy. So heißt das Dorf, aus dem meine Freundin stammt, ihre Eltern und ihre ganze Familie, von denen alle mit Nachnamen Gümüs heißen, sind von dort und wenn ich es richtig verstehe, gibt es niemanden dort, der nicht zur Familie gehört. Der Grund, warum ich heute in Diyarbakir und nicht auf dem Dorf Gümüsköy übernachtet habe, ist diese Trauerfeier. Eine angeheiratete Tante ist nämlich gestern verstorben, was der Grund für eine sofort anzusetzende dreitägige Trauerphase ist. Sie wurde noch am selben Abend beerdigt, sie war 76 Jahre alt und sie sei an gebrochenem Herzen gestorben, höre ich. Ihr Mann hat vor einem Jahr das Zeitliche gesegnet, danach hatte sie nicht mehr weinen können und sei nach und nach immer schwächer geworden. Hier in der Türkei höre ich irgendwie andauernd von Toten und Trauerfeiern, das liegt wohl an den Großfamilien.  Gestern Abend wurde beerdigt und heute wird getrauert, das beginnt morgens gegen neun Uhr und geht bis abends um neun und wird drei Tage durchgehalten und es ist sehr wichtig, dass alle Verwandten gleichen und älteren Alters und die Nachbarn und die Freunde des Toten und seiner Verwandten daran teilnehmen. Ob ich denn auch mitkommen könne? Natürlich, ich sei willkommen, heißt es. Das, was ich dann sehe, als wir ankommen und was hier als Dorf/Köy bezeichnet wird, sieht für mich aus wie eine Ansammlung der schrecklichsten zusammengehauenen Häuser, aus billigen Materialen errichtet, unverputzt zumeist, um die schmutzige Enten, Katzen und halbverhungerte Hunde herumschleichen. Plastiktüten flattern im Wind und die Bäume sehen klein und krüppelig aus. Asphaltierte Straßen kennt man hier nicht, überall sind kleine flache Tümpel, und Müll liegt an den Rändern aufgestapelt. Daneben steht manchmal mitten auf einem Feld eine neu angelegte Siedlung mit großen Mehrfamilienhäusern, um die ein Riesenzaun ist. Ich frage mich, wer freiwillig in eine solche Siedlung ziehen mag, hier auf dem unwirtlichen Land. Wir schauen uns das neue Haus der Eltern meiner Freundin von außen an, es sieht immerhin einigermaßen gut aus. Daneben steht noch das alte Haus der Familie, aus Lehm gebaut, klein, lang und eckig, unglaublich, dass die Mutter in einem solchen Haus sechs Kinder großgezogen hat. Eine Weile musste die Familie in Istanbul wohnen. Der Vater wurde Anfang der neunziger Jahre für zwei Jahre eingesperrt, weil er für eine kurdische und offiziell zugelassene Partei kandidiert hatte. Sämtliche Dorfbewohner durften daraufhin sieben Jahre lang ihr Land nicht mehr bearbeiten und mussten von einem Tag auf den anderen ihre Häuser und ihr Dorf verlassen. Sie seien Terroristen, wurde gesagt, als sie fragten, warum. Wieviel Land das war, sehe ich jetzt, als meine Freundin mir am Horizont die in der Ferne liegenden Grenzen desselben zeigt. Dann fahren wir weiter in die nächste „Stadt“, nach Bismil, wo die Trauerfeier stattfindet. Ich bin noch viel entsetzter über die Hässlichkeit dieser Stadt und ihrer neu hochgezogenen und doch schon heruntergekommen und schmutzig aussehenden Häuser und über das, was sich an Müll und Matsch zwischen den Häusern befindet. Ich kann nichts entdecken, was mein Auge erfreuen würde. Viel Nebel ist heute und ich bin ein wenig gestresst, weil unser Chauffeur so schnell gefahren ist. Über die schlammige Landstraße, an der die Schilder 50 erlaubten, bretterte er zuweilen mit 140. Wir steigen aus und sofort kommt uns eine kläglich aussehende Romafrau mit ausgestreckter Hand entgegen, hinter ihr ein noch viel trauriger aussehendes schmales Kind mit entzündeten Stellen im Gesicht. Dann gehen wir in ein großes Haus. Das ist Versammlungshaus, wo sowohl die Trauerfeiern als auch die Hochzeiten stattfinden, höre ich, den rechten Eingang bitte nehmen, denn dort sind die Frauen, links gehen die Männer rein. Mir fallen wieder die Fernsehsendungen ein von gestern Abend, der TV-Sender, den wir sahen, es war wohl so eine Art kurdischer Propagandasender. Es waren darin fast nur kurdische Soldatinnen zu sehen, mit Gewehren, in schönen Positionen, lachend, dann wieder Demonstrationen gegen die Zustände im Iran und trauernde Mütter mit Kopftüchern und dann sangen plötzlich vier Menschen in Militäruniformen und mit Masken vor dem Gesicht, begleitet zur Gitarre, ein deutsches Lied. Ich traute meinen Ohren nicht: Hannes Wader „Dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war“. Ein Lied der deutschen Friedensbewegung, vorgetragen von martialisch kostümierten Soldaten, aktzentfrei. Warum singen denn da die Deutschen im kurdischen Fernsehen? fragte ich. Das sind welche, die für uns kämpfen und uns unterstützen, sagten mir meine Gastgeberinnen. Deutsche? Fragte ich. Ja, sie kommen aus allen Ländern, um uns zu helfen, gegen den IS und gegen das Militär. Dass die etwas gegen die Kurden haben, ist hier in Diyarbakir mit Händen zu greifen. Sobald man aus der Stadt fährt, passiert man Grenzposten und rings um die Stadt sind überall riesige türkische Militärzonen und -lager und hoch umzäunte Wohngebiete für die Angehörigen. Seit 2016 hat das Militär bei Straßenkämpfen und Angriffen gegen die Bevölkerung in der Altstadt ein Drittel der Häuser und alle Kirchen zerstört. Auf der angeblichen Suche nach „Terroristen“, sagt meine Freundin. Kurdisch darf auch in der Schule immer noch nicht gesprochen werden und so sprechen die Kinder meiner Gastgeber zu Hause meist türkisch, weil sie es so aus der Schule und dem TV kennen, obwohl die Eltern mit ihnen kurdisch reden. Denn kurdische Kindersender gibt es nicht und die kurdischen Sender, die hier empfangen werden, kommen aus dem Irak, so wie der von gestern Abend, der aber seines Inhalts wegen für Kinder eigentlich nicht geeignet ist. Aber zurück zu Bismil, der Stadt am Tigris, der hier zurzeit ausgetrocknet ist und von dem mir, wenn ich seinen Namen höre, als erstes die Bibel einfällt und das Paradies und als zweites, dass 1915 Zehntausende von ermordeten Armeniern hineingeworfen wurden, sodass sein Wasser noch an der syrischen Grenze blutrot war. Ungefähr 60 sunnitisch-muslimische Frauen sitzen in dem großen Versammlungsraum, in den wir jetzt der Trauerfeier wegen gehen, sprechen untereinander Kurdisch und tragen fast alle Kopftuch, die meisten ein weißes mit Spitze, und sie haben alle Röcke oder die weiten Pluderhosen der kurdischen Bäuerinnen an, die Frauen ab 50 sind  übergewichtig und sehen zwanzig Jahre älter aus als sie sind. Keine von ihnen kann Englisch. Einige wenige jüngere Frauen tragen kein Kopftuch, sie haben meist Hosen an. Auch ein paar wie immer unerzogene Kinder laufen hier herum und stören die Versammlung. Ich werde freundlich begrüßt, die Verstorbene hatte 9 Kinder, drei ihrer Töchter sind da. Dann setzen wir uns an den Rand und reden über dies und das. Manchmal ertönt die Stimme des Imams, der natürlich im Raum mit den Männern ist, dann schnellen die Hände der Frauen hoch zum Gebet und 1 Minute lang wird geschwiegen oder gemurmelt, dann wischt frau sich mit den Händen über das Gesicht, sagt Al Hamdullilah und es wird wieder weiter über dies und jenes geschwatzt. Manche lesen auch in einem dünnen Heft, in dem Koranausschnitte sind, das Ziel der Versammlung ist, für die Verstorbene aus dem Koran zu lesen. Nach einer Weile gehen wir wieder hinaus. Dann fahren wir zurück nach Diyarbakir, da ich erst gestern Abend angekommen bin, habe ich die Stadt noch nicht besichtigt. Die Landschaft ist steinig und wenig hügelig, auf den vielen Feldern sind noch die Reste der Baumwolle zu sehen, die hier vor allem wächst und geerntet wird. Die Stadt Diyarbakir hat fast 2 Millionen Einwohner, die in hastig errichteten hochhausartigen anonymen Siedlungen wohnen, sehr viele von ihnen sind erst in den letzten sechs Jahren vom Lande und aus der Altstadt dorthin gezogen, wo sie sich vor den Konflikten zwischen PKK und Türkischem Militär flüchten wollen. Nun besichtigen wir in der Altstadt, die das einzig interessante Gebiet von Diyarbakir ist und von einer großen uralten Stadtmauer umgeben, die Reste der Kirchen von Diyarbakir, das bis 1915, als die Armenier von hier vertrieben und umgebracht wurden, noch 30 Prozent christlicher Bevölkerung hatte. Die armenische Kathedrale Surp Giragos von 1371 – erbaut also fast 700 Jahre nach der Eroberung der christlichen Stadt durch muslimische Araber – , war die größte armenisch-apostolische Kathedrale im Nahen Osten. Sie wurde 1915 im Rahmen des Genozids fast völlig zerstört, 2011 wiederaufgebaut und 2016 wiederum fast völlig zerstört. Vor kurzem aber wurde sie wieder aufgebaut und erstrahlt in altem Glanz. Finanzieren tut sie dies unter anderem mit dem Verkauf von hauseigenem Wein, der ausgeschenkt wird und mir gut mundet, wenn es mir auch seltsam vorkommt, in einer so ausgesprochen muslimischen Stadt Wein zu trinken. Die assyrische Marienkirche aus dem 3. Jhd., in der die Gebeine des Apostels Thomas liegen, ist leider heute geschlossen, aber gegenüber hat sich eine kleine Gemeinschaft Evangelikaler in einer Kirche eingerichtet. Seit 30 Jahren sind sie hier und haben inzwischen 90 Mitglieder, alles muslimische Konvertiten, erzählt uns ein sehr aufgeschlossener junger Mann, der vom Sunniten zum Protestanten geworden ist. Die Altstadt ist wunderschön – verglichen mit dem was ich bisher von Diyarbarkir und der Umgebung gesehen habe – aber große Teile sind bis heute zerstört und unbewohnt und auch von den noch hauptsächlich von einigen alten Menschen bewohnten Häusern kann man sich kaum vorstellen, wie sie es in solch primitiven zerbrechlichen Häusern aushalten können, deren obere Teile oft zerschossen sind. Aber immerhin sind viele schön bunt bemalt, was einen liebevollen Eindruck macht. Hier, in dem Labyrinth der Gassen der Altstadt bekomme ich zum ersten Mal einen Eindruck von orientalischem Gassengewirr. Wir gehen weiter und besichtigen einige Moscheen. Die Hauptmoschee, errichtet auf den Resten der Thomaskirche, ist nach dem Vorbild der Moschee in Damaskus gebaut und hat einen wunderschönen Innenhof, der mit Säulen aus einem antiken römischen Theater dekoriert ist. Dann gehen wir weiter und kommen an einigen uralten und sehr beeindruckenden Hanen/Geschäftsblöcken vorbei, von denen Diyarbakir ebenso wie eine Reihe von Innenhöfen noch eine ganze Menge besitzt. Die Häuser und Mauern sind aus großen dunklen und weißen Basaltblocken gefertigt, man kann Gestaltungswille und Schönheitsliebe in den Details erkennen. Warum aber geht das den heutigen Menschen in ihren neu erbauten Dörfern und Städten so völlig ab, was vor fünfhundert und tausend Jahren an Wille zur Schönheit noch selbstverständlich war? Dann kommen wir zu einer alten Karawanserei mit einem magischen Innenhof, wo wir von einem kurdischen Mann am Eingang, der erzählt, dass er Mediziner sei und in Deutschland gelebt habe, zum Essen eingeladen werden. Inzwischen ist es sehr dunkel und eiskalt und der Nebel hat von der ganzen Stadt Besitz ergriffen. Wir sitzen deshalb gerne mit ihm und dem Hotelbesitzer Mehmed am warmen Kaminfeuer der Karawanserei auf den winzigen Stühlen und essen Hammel und selber gemachten Schafsjoghurt in dem frisch gebackenen Fladenbrot und fühlen uns um mehrere Hundert Jahre zurückversetzt, als hier noch manchmal bis zu 700 Kamele halt machten und ihre Waren in den großen Räumen abluden auf ihrem Weg die Seidenstraße entlang. Als wir dann gehen, nehmen wir einen Minibus, der uns in rasender Fahrt zum vorläufigen Endpunkt dieses Blogs bringt. Ich muss dir unbedingt eine kurdische Hochzeit zeigen, sagt meine Freundin. Wie, eine kurdische Hochzeit, frage ich? Kann man dort einfach so hingehen. Na klar, wir gehen dort einfach hin, die freuen sich immer. Und so ist es. In dem großen Saal, in dem die Hochzeiten jeden Tag stattfinden, besonders an Wochentagen, da ist es günstig, heiratet eine junge Frau mit extrem blond gefärbten Haaren und der Halay wird getanzt, der Rundtanz, bei dem Frauen und Männer mitmachen und sich an den kleinen Fingern festhalten und dabei stoßen sie die schrillen Trillerlaute aus und stampfen auf. Die Frauen tragen die wunderschönen langen Kleider der Kurdinnen und viel Gold um den Hals und an den Ohren und die Stimmung ist ausgelassen und wir werden für morgen gleich noch zu einer Hochzeit eingeladen. So nah liegt das hier alles beieinander. Sterben und Heiraten und wenn wir gleich nach Hause kommen, in das Heim unserer Gastgeberin, empfangen uns fünf Kinder und das sechste kommt im März….es ist ein Mädchen. Und ob dieses Mädchen so wie die vielen Frauen im kurdischen Sender eines Tages als Soldatin in die Berge gehen wird, will ich nicht hoffen. Wenn es groß ist, wird es hier in Diyarbakir hoffentlich ganz anders und besser aussehen, als jetzt noch.