Wieso sich hier zum Jahresende alle „Merry Christmas“ wünschen, ist mir bis jetzt nicht wirklich klar. Auch die geschmückten Tannenbäume stehen noch allerorten und man schenkt sich etwas in der Nacht vom 31. auf den 1., höre ich. Auch in Georgien wird erst an Sylvester der Weihnachtsbaum aufgestellt, der eher eine Art Neujahrsbaum ist, aber, obwohl alle Nordmanntannenbäume in Deutschland aus georgischem Tannenbaumsaatgut gezogen worden sind, ist es keine Tanne, sondern eine aus Haselnusszweigen gebaute kleine Tannenimitation namens Tschitschilaki. In Istanbul aber gibt es richtige Tannen, erst recht nach Weihnachten und über Sylvester und Sterne werden aufgehängt und überall werden Weihnachtsmannmützen verkauft. Schon bevor das Sylvester beginnt, das in meinem sehr zentralen Viertel Beyoglu überfüllt, sehr laut und ein einziges Chaos sein soll, wird mir von allen möglichen Leuten ein „Merry Christmas“ gewünscht. Wir haben uns zum Sylvesterfest auf den Weg nach Heybeliada gemacht, der zweitgrößten Prinzeninsel. Eine jede der 8 Prinzeninseln, die im Marmarameer liegen, hat ihr ganz eigenes Charakteristikum. Auf  altgriechisch hieß Heybeli demonos (Volksinsel), danach wurde sie von den Griechen ihrer Kupfervorkommen wegen Halkis genannt, diesen Namen kennt man dort heute auch noch. Die türkische Bezeichnung Heybeli ist neu. Denn Türken gibt es auf der Insel noch gar nicht so lange, noch 1920 waren nur 15 Prozent der Einwohner muslimische Türken. Auf Heybeli lebten besonders viele Griechen, aber auch viele Juden und einige Armenier. Es gibt hier alleine fünf griechische Klöster, von denen eines bis 1970, als der türkische Staat es auflöste, das wichtigste Ausbildungskloster des griechischen Patriarchats war, außerdem zwei große griechische Krankenhäuser (seit fünf Jahren verlassen) und eine sehr große griechische Schule, die aber auch nicht mehr in Betrieb ist. Häuser mit solchen Kapazitäten sind für eine Insel mit nur wenig mehr als 2000 ständigen Einwohnern allerhand. Mein türkischer Dichterfreund Erkut Tokman, der von der Insel kommt, hat uns heute zum Sylvesterfeiern eingeladen. Seine Mutter ist eine gebürtige Insulerin. Auf der Insel befindet sich seit osmanischen Zeiten die Marineakademie, die der Ausbildung der türkischen Marineoffiziere dient. Dort wurde der Vater meines Freundes ausgebildet, hier lernte er vor vielen Jahren seine Frau kennen. Ich fahre nach Heybeliada in Begleitung, mein Bruder mit Frau und zwei Kindern ist zu Besuch in Istanbul und wir haben heute schönes Wetter, es ist ca. 14 Grad und auf dem spiegelglatten Marmarameer sieht man die Delfine in die Höhe springen, die den Mövenschwärmen folgen. Das ist heute das erste Mal überhaupt, dass ich Delfine sehe und ich bin sehr glücklich über den Anblick. Wir stehen am Heck der Fähre und werfen Stücke von Sesamkringeln in die Höhe, die sich die Möwen schnappen; das soll wohl Glück bringen! Als wir auf der Insel angekommen sind, die von den Prinzeninseln – wird uns später mitgeteilt – die normalste und am wenigsten touristisch frequentierte Insel ist – das einzige Grand Hotel, das wunderbare Halkishotel, aus zartrosa Holz erbaut, steht schon seit fünf Jahren leer – lassen wir unsere Sachen erst einmal in unserer Wohnung und fahren noch einmal rüber zur größten Insel Büyükada, die man von Heybeliada gut sehen kann. In der Ferne ist das Panorama der sich unendlich am Horizont entlangziehenden Hochhausfront der 20Millionenstadt Istanbul zu erkennen. Gut, dass es so weit fort ist, der Stress, der Lärm, der Verkehr kann uns hier auf den Inseln, wo Autos nicht erlaubt sind und ein anderes gemächliches Tempo herrscht, nicht kratzen. Überall begegnen wir gemächlich dahintrottenden viel zu dicken Hunden, die sich, wenn sie sich setzen, an Mauern anlehnen, damit sie nicht umkippen. Auf Büyükada fahren wir mit einem E-Bus bis ans andere Ende der Insel, wo wir die griechische Kirche Aya Yorgi (Hl. Georg) besuchen, die auf einer Höhe liegt, von der aus man einen phantastischen Blick über das Meer hat. Hier, in der Kirche, die man von der Busstation aus in einem 1/2 stündigen Fußweg erreicht, befindet sich als Reliquie u.a. das Kissen, auf dem Jesus zur letzten Ruhe gebettet wurde. Als wir wieder hinuntergehen, begegnen wir einem Mann mit zwei weißen Kaninchen und einer Menge Zettelchen. Er ist ein Wahrsager, lässt die Kaninchen Zettel ziehen, auf denen uns und unserem jeweiligen Liebsten etwas für das nächste Jahr vorhergesagt wird. Das kostet 1,50 pro Person und macht Spaß. Dass manchmal nicht das Kaninchen sondern der Mann die Zettel zieht, fällt hinter seinem hohen Holzkasten kaum ins Gewicht. Ich beschwere mich auch nicht darüber, dass auf meinen beiden Zetteln zweimal dasselbe steht. Als wir Abends wieder auf Heybeliada sind, ziehen wir uns um und gehen dann in das Restaurant, wo unser Freund uns mit seiner Familie erwartet. Die Restaurants in Heybeli liegen alle in einer Reihe am Strand. Wir feiern in einem großen Raum, der voller Menschen ist, alles Insulaner, die sich seit ihrer Kindheit kennen, nur wir sind fremd, werden aber begeistert aufgenommen, als würden wir schon seit langem hierher kommen. Das erinnert mich auch wieder an Georgien, wo Gäste ganz besonders am 1. Januar sehr wichtig sind und eine große Ehre für den Gastgeber. Außer meinem Freund sitzen noch sein Bruder, sein Cousin und die über achtzigjährigen Mütter der beiden mit am Tisch. Der Cousin und seine Mutter haben lange in Deutschland gelebt, sind aber vor 10 Jahren in die Türkei zurückgekehrt, wo die Mutter von ihrer Rente prächtig leben kann. Ihr Sohn, ein Ingenieur, ist gerade pensioniert worden: mit 52 Jahren. Das hat anscheinend ein neues Gesetz erlaubt, das vor ein paar Tagen verabschiedet wurde, gerade noch rechtzeitig vor den Wahlen. Ein wenig seltsam findet mein Bruder, der als Lehrer erst mit 67 Jahren pensioniert wird, das schon. Aber es ist auch nicht alles Zuckerschlecken hier in der Türkei und von der türkischen Rente kann dort kaum jemand leben. Als erstes werden heute Abend Mezze serviert, die typischen türkischen Vorspeisen, wozu eingelegte Bohnen, Auberginen, Yoghurt etc. gehören. Der Wirt spricht perfekt Deutsch und hat sein ganzes Erwachsenenleben lang jeden Tag gearbeitet, erzählt er uns später. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung, türkische Musik wird gespielt, einige Frauen fangen an, zwischen den Tischen zu tanzen, orientalisch, ein paar Männer gesellen sich dazu. Die Menschen hier machen einen eher ungewöhnlichen Eindruck, sie sehen nicht so aus, wie man sich Türken sonst vorstellt, viele Frauen sind blond, einige sehr große Männer sind hier, ein paar Griechen von der Insel auch, sagt Erkut, der in seiner Kindheit mit griechischen Kindern gespielt hat. Seine Mutter ist noch in einer rein griechischen Nachbarschaft aufgewachsen. Die Griechen sind dann aber nach den Progromen alle fortgegangen, erzählt sie uns. Diese Progrome fanden 1923, 1955 und 1967 statt, nicht nur in Istanbul, sondern auch auf den Inseln wurden die Griechen von ihren Nachbarn vertrieben, auch heute noch stehen viele ehemalige Griechenhäuser, deren Besitz ungeklärt ist, leer. Nun kommt der zweite Gang, warme Zigarrenböreks, dann Krabben. Auf dem Tisch steht eine große Flasche Raki, der typische Anisschnaps der Türken. Worte fliegen hin und her, es wird viel gelacht, Masken werden herumgereicht und aufgesetzt, nur am Nebentisch, wo die einzigen vier Menschen sitzen, die nicht von hier kommen, bleibt die Stimmung ruhig. Ein Mädchen sitzt dort an einem Computer und spielt Computerspiele, neben ihr liegen zwei Pistolen auf dem Tisch. Die Wirtin, die eben noch wild getanzt hat, kommt und bringt uns Zettel. Wir sollen Musik aufschreiben, aber deutsche Musik, zu der wir tanzen können. Uns fällt nichts richtiges ein, was adäquat wäre mit der Musik, zu der hier so ausgelassen getanzt wird. Also schreibt meine Schwägerin Helene Fischer auf „Atemlos“. Als die Musik ertönt, müssen wir natürlich alle aufstehen und tanzen, was wir auch gerne tun, selbst die beiden Kinder meines Bruders (14 und 18) machen mit. Während wir tanzen, steht an einer langen Tafel ein Mann auf, der dort der Chef zu sein scheint und ruft uns begeistert zu: Wir lieben Deutschland! Anschließend gibt es die Hauptspeise: Blaufisch von der Insel. Nun wird griechische Musik gespielt. Und jetzt tanzen die Griechen einen Sirtaki und alle im Saal singen mit, sehnsüchtig einige, sie scheinen die griechischen Texte hier alle zu kennen. Der Sirtaki wird sehr schnell und wild und in fast gebückter Haltung getanzt. Griechische Musik kommt heute noch häufiger. Aber zwischendurch wird auch kurdische Musik gespielt. Jetzt sind die Kurden an der Reihe zu tanzen, sie tanzen ihren Halay, bei dem man sich an den kleinen Fingern hält und laut trillerende Geräusche ausstößt, der vorderste Tänzer hält ein kleines Tuch in der Hand. Und immer wieder werden wir zum Tanzen aufgefordert und auch die Kinder, sie sollen mehr mit den Schultern wackeln, versuchen, orientalischer zu tanzen, wird ihnen gesagt. Als es in Richtung Mitternacht geht, tanzen die Insulaner sogar auch paarweise. Kerzen werden gebracht, die wir am Tisch anzünden sollen. Das hat es hier früher oft gegeben, erzählt mir Erkut, seine Mutter sei regelmäßig auf Tanztees eingeladen worden, im Offizierscasino, dann habe sie ihr schickstes Kleid angezogen und sei hochhackig am Arm ihres Mannes losgegangen. Hier in diesem Raum erleben wir heute Nacht, was die Auswirkung des multikulturellen Charakters der neuen und von Atatürk gegründeten Republik Türkei auf Feste wie diese einmal ausgemacht hat: Die vielen verschiedenen Menschen auf einem Raum, die Tänze, bei denen Mann und Frau gleichberechtigt und ausgelassen mitmachen, es ist heute das erste Mal, dass ich so etwas mitbekomme und ich bin begeistert. Um Mitternacht gehen wir durch das Restaurant ans Wasser und wünschen uns ein frohes Neues Jahr  (Mutlu Yillar) und wieder wird mir auch „Merry Christmas“ gewünscht und dann schauen wir lange in Richtung des asiatischen Kontinents, der gegenüber von unserer Insel liegt und wundern uns darüber, dass die Türkei zwar irgendwie dort vor unserer Nase liegt, dass aber hier auf den Inseln so ein ganz anderes Leben zu herrschen scheint, als wir es bisher in Istanbul kennengelernt haben. Da kommt ein kleines Mädchen vorbei, die eine Weihnachtsmannmütze trägt und mein Dichterfreund wünscht mir nun auch Merry Christmas. Seltsam ist es doch, muss ich denken. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Na klar, wir sind doch hier in einem ehemals orthodox-christlichen Land. Hier wurde schon immer Weihnachten erst nach Sylvester gefeiert, das anders als Weihnachten für alle religiösen und nichtreligiösen Menschen am selben Tag stattfindet.