Am Morgen nach Sylvester gehen wir in die griechische Kirche St. Nikolaus, die 1857 auf den Ruinen einer byzantinischen Vorgängerkirche errichtet wurde und die das schöne Zentrum des Hauptortes in Heybeliada bildet. Die Glocken läuten am 1. Januar in einem großen freistehenden Glockenturm. Neben einer heiligen Quelle, die der heiligen Paraskevi, einer christlichen Märtyrerin aus dem 2. Jhd. gewidmet ist, befindet sich in dem Ensemble auch noch das Grab des Patriarchen Samuel I., von 1775. Umgeben ist der Gebäudekomplex von einem wunderbaren öffentlichen Garten, in dem Mandarinen an den Bäumen hängen und Hibiskus blüht. Hier hat mein Dichterfreund als Kind oft gespielt und manchmal mit seinen kleinen Händen die großen Kirchentüren ein wenig geöffnet, hat er uns gestern erzählt, weil er neugierig war, was für seltsame fremdartige Gesänge und Gerüche daraus hervordrangen. Heute riecht es hier nach Weihrauch, der Priester geht gerade mit laut klimperndem Weihrauchschwenker durch alle Räume, als wir eintreten. Ein paar wenige Frauen sind in dem großen lichten, hellblau und weiß ausgemalten Innenraum, durch dessen große Kuppel wir in den Himmel gucken können. Wir werden freundlich begrüßt. Die griechisch-orthodoxe Zeremonie erlaubt es, zu kommen wann man will und auch, sich zu unterhalten und neue Ankömmlinge begeistert zu begrüßen. Aber es kommen insgesamt nicht mehr als fünf Frauen, die laut miteinander reden, während vorne einer der beiden Priester seine Litaneien singt und der andere hinter der Ikonostase mit dem Weihrauchschwenker klimpert. Als wir wieder aus der Kirche treten, scheint die Sonne auf das rote Kirchengebäude, das schon einige Risse und Einschusslöcher aufweist. Wir gehen in Richtung des Strandes, wo wir heute mit unserer neuen türkischen „Familie“, mit der wir gestern schon Sylvester gefeiert haben, zum Frühstück verabredet sind. Dies Frühstück ist opulent wie immer, ein Schälchen nach dem anderen mit Köstlichkeiten wird auf den Tisch gestellt, besonders gefällt mir die „Möhrenmarmelade“ (gehackte in Sirup gekochte Möhrenstücke) mit Walnuss. Während wir essen, kommt ein junger Mann mit einem großen Sack an unseren Tisch, der uns Socken verkauft. Nicht nur wir, sondern auch die türkischen Freunde kaufen die sehr günstigen und sehr schönen Motivsocken, auf denen Szenen berühmter Gemälde zu sehen sind, der Finger Gottes von Michelangelo, der Schrei von Munch, die Sonnenblumen von Van Gogh. Dann bezahlen wir das Frühstück für alle, was bei den Türken wie immer, wenn wir im Restaurant zahlen, Entsetzen auslöst. Denn das Gesetz der Gastgeberschaft lässt das ja eigentlich nicht zu. Wollt ihr eine Tour über die Insel machen? werden wir gefragt. Und als wir Ja sagen, bestellt der Bruder meines Dichterfreundes, der auf der Insel gut vernetzt ist, bei einem Kumpel drei kleine Elektrofahrzeuge, die in einer Seitenstraße auf uns warten. Eigentlich dürfen hier nur offizielle Transporteure Touristen fahren, aber die Kumpels haben angeblich trotzdem eine Konzession. Nun gut! Wir sind ja nur die nichtsahnenden Passagiere. Wir steigen ein und fahren los, sehr langsam und knatternd geht es den Berg hoch. Währenddessen unterhalte ich mich mit unserem Chauffeur. Bis vor zwei Jahren, als es hier auf Heybeliada wie auf allen Prinzeninseln als Transportmittel nur Kutschen gab (auf Heybeliada 100 Kutschen, auf Büyükada an die 1000), um Touristen zu transportieren, war er selber auch Kutscher, mit 5 Pferden. Die Kutschen wurden abgeschafft, weil die Pferde extrem gequält wurden und weil die Kutscher eine richtige Mafia bildeten, was ich ihm nicht sage, aber erzählt bekommen habe. Sein Ekarren pufft und rattert, bleibt an der steilen Steigung stehen, er dreht an einem Rädchen, dann fährt er wieder weiter. Die beiden sehr viel kleineren Wagen hinter uns haben noch mehr Mühe, den Berg hochzukommen. Aber dann sind wir da: Am griechischen Seminar von Chalki, das bis 1971, als es durch den türkischen Staat geschlossen wurde, das wichtigste Ausbildungsseminar für griechische Priester war. Das Seminar bildet ein Ensemble mit der Kirche Agia Triada, die auf den Ruinen einer Vorgängerkirche aus dem 9. Jhd. erbaut wurde. Auch der jetzige Patriarch Bartholomäus I., der in Istanbul residiert, wurde hier noch ausgebildet. Seit den neunziger Jahren gab es viele Proteste von seiten der USA und der EU gegen diese Schließung, die mit der Behandlung der christlichen Minderheiten und dem Umgang mit der freien Religionsausübung, die in der Türkei seitens der Regierung sehr erschwert wird, zu tun hat. Denn in der Türkei bekommen in den Kirchen nur Priester, die in der Türkei geboren sind, vom Staat die Genehmigung, Gottesdienste zu leiten. Aber sie können ja hier seit 1971 nicht mehr ausgebildet werden. Das bedeutet, dass die letzten türkischen griechisch-orthodoxen Priester in Kürze gestorben sein werden und anschließend die vielen Kirchengebäude verwaisen. Seit einem Jahr gibt es Verhandlungen über eine Wiedereröffnung des Seminars, die mit Forderungen des türkischen Präsidenten bezüglich der Behandlung muslimischer Minderheiten in Griechenland verknüpft werden. Unsere Chauffeure sprechen mit dem Pförtner im Eingang und wir werden eingelassen und dürfen das Gelände betreten. Ein großer und sehr gepflegter Park, von dem aus man weit über das Meer Richtung asiatischem Kontinent gucken kann, empfängt uns. Mitten im Park ist wie immer eine große goldene Atatürkstatue. Hatte der nicht die Griechen 1923 aus der Türkei vertrieben? Egal. Wir gehen einmal um das riesige Gebäude herum und als wir wieder zurück am Tor ankommen, sind unsere E-Karren verschwunden. Aber einige andere E-Karren stehen dort, deren Fahrer sich eifrig bemühen, uns in ihre Gefährte zu bugsieren. Ich rufe meinen Dichterfreund an, was denn hier los sei und wo unsere Chauffeure sind. Als ich ihn erreiche, kommt schon unser Chauffeur von vorhin wieder den Berg hochgeknattert. Ein Streit bricht los mit den hier wartenden Chauffeuren, die sich wohl auf eine Fuhre gefreut hatten. Aber wir steigen schnell ein und fahren weiter. Unterwegs erzählt mir unser Chauffeur, dass es auf der ganzen Insel 250 Pferde gab. Und wo sind die jetzt? Frage ich. Er sagt, er wisse es nicht. Und wo sind die Kutschen geblieben? Frage ich. Das weiß er auch nicht. Es sei keine einzige mehr da. Nirgendwo könne man noch eine Kutsche sehen. Plötzlich läuft neben uns im Wald ein Rappe. Es gibt nur noch drei Pferde hier auf der Insel sagt er, daran sind die Tierschützer schuld. War dieses wilde Pferd hier auch ein Kutschpferd frage ich. Ja, sagt er. Wir fahren weiter, einmal um die ganze Insel. Unser Chauffeur kennt fast jeden Menschen, an dem wir vorbeikommen, immer wieder wird gegrüßt und ein lustiges Wort zugeworfen. Dann kommen wir zu einer herrlichen Bucht, wo wir uns in ein Café setzen und Gözleme essen und Tee trinken. An den Enden der Bucht sind auf Anhöhen die beiden ehemaligen Krankenhäuser der Insel zu sehen (eines für Männer, eines für Frauen), die später Sanatorien waren und seit 2005 stillgelegt wurden. Wenn hier einer auf der Insel schwer erkrankt, erklärt mir mein Chauffeur, muss er mit dem Schiff bis nach Istanbul, dann mit dem Wagen zum Krankenhaus auf dem Festland gebracht werden. Bis er dort ankommt, ist er längst tot. Als wir weiterfahren, sehen wir einen Strand, an dem im ersten Weltkrieg die beiden deutschen Kriegsschiffe SMS Goeben und Breslau zehn Tage lang lagen und der seitdem deutscher Strand heißt. Dass sie hier lagen, hatte vielleicht damit zu tun, dass zu dieser Zeit die osmanische Marineakademie auf Heybeliada unter Leitung eines deutschen Offiziers stand. Die deutsch-türkische Bindung hat eine längere Geschichte, die man manchmal vergisst, wenn man „nur“ an die Gastarbeiter denkt. Am Schluss fahren wir noch an der sefardischen Beht Yakov Synagoge vorbei, die erst 1953 für die 250 jüdischen Bewohner der Insel erbaut wurde und zurück in die kleine Seitenstraße, in der wir schon eingestiegen sind. Von dort ist es nur ein kleiner Fußweg an alten, etwas heruntergekommen wirkenden Häusern, die früher einmal Griechen gehörten, an einer Bäckerei, aus der es herrlich duftet, an sich sonnenden viel zu dicken Hunden vorbei, bis wir wieder am Hafen und am Anleger stehen, von wo uns unser Fährboot wieder zurück nach Istanbul bringen wird.