Am 6. Januar, an dem in vielen christlichen Ländern die Ankunft der heiligen drei Könige gefeiert wird, die vielleicht durch die Türkei gekommen sind, als sie dem Stern folgten, der sie zu dem neugeborenen König führen sollte, fahren wir nach Fener. Denn am 6. Januar feiern die Griechen hier das Fest von Epiphanias, das bei ihnen Teophany heißt und auf Deutsch so etwas wie die Erscheinung des Herrn. Die Gelegenheit, dieses Fest in Istanbul, das ja die vormalige Hauptstadt des byzantinischen/griechischen Reiches war, mitzubekommen, will ich mir nicht entgehen lassen. Die Fähre von Karaköy nach Fener trägt einen in zehn Minuten das goldene Horn hoch. Es ist heute bewölkt und ein wenig diesig, über dem Bosporus liegt dicker Nebel, aber der Bogac, wie das goldene Horn auf türkisch heißt, ist befahrbar. Als wir in Fener, dem Viertel, in das sich nach der Eroberung Konstantinopels durch die Muslime im Jahr 1453 viele griechische Byzantiner zurückgezogen haben, ankommen, werden wir auf unserem Weg zum griechischen Patriarchat, der Aga Yorgi (hl. Georgs) Kathedrale, dreimal an Polizeisperren angehalten und auf Waffen durchsucht. Die Angst vor Anschlägen gegen die Rum, wie sich die türkischen Griechen nennen, deren Zahl im letzten Jahrhundert durch immer wieder stattfindende Progrome von 200000 auf inzwischen nur noch 2000 Menschen gesunken ist, ist groß. Zuletzt wurde 1997 ein Terroranschlag auf die Kathedrale verübt und 2013 sollte der Patriarch, der das Oberhaupt von 300 Millionen orthodoxen Gläubigen ist, von einem türkischen Attentäter ermordet werden. Seitdem steht er, der öffentlich sagt, dass er und die griechischen Gläubigen in der Türkei wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden, unter Polizeischutz. Dass die Polizei (polis) ihre Mitbürger, die sich deshalb Rum (Römer) nennen, weil Konstantinopel/Istanbul, das sie noch heute als Polis (Die Stadt) bezeichnen, die Hauptstadt des Oströmischen Reiches war, heute beschützt, ist erstaunlich. Denn das Patriarchat von Bartholomäus I. wird auch seitens der offiziellen Politik und des Präsidenten, mit dem der Patriarch deshalb schon mehrere ergebnislose Treffen hatte, nicht offiziell anerkannt. Für die türkische Regierung ist er nur ein einfacher Bischof. Wir gehen durch die Sicherheitsschleuse in den inneren Bereich des Patriarchats, das man von seiner Bedeutung her – der Patriarch ist schließlich das Oberhaupt der oströmischen orthodoxen Kirche – mit dem Vatikan vergleichen kann. Aber sowohl das Gebäude der Aya Yorgi-Kathedrale als auch die angrenzenden Gebäude sind eher klein und unauffällig, nicht zu vergleichen mit der Hagia Sophia, die bis 1453, als sie zur Moschee wurde, die eigentliche Hauptkirche der Oströmisch-Orthodoxen war und 2020, nach einer hundertjährigen Pause, in der sie, von Atatürk angeordnet, als Museum diente, wieder in eine Moschee umgewandelt wurde. Ein auffällig schwarzes Tor im Eingang des Aya-Yorgi- Komplexes, der ursprünglich ein griechisches Kloster gewesen ist, ist seit 1821 nicht mehr geöffnet worden. Damals hatte Griechenland seine Unabhängigkeit vom ottomanischen Reich erklärt. Daraufhin erstürmte auf Anstiftung des Sultans ein türkischer Mob das Patriarchat und ließ den Patriarchen Gregor I. in diesem Tor aufhängen. Anschließend wurde seine Leiche im Wasser des goldenen Horns entsorgt. Zu diesem Wasser gehen wir jetzt, nachdem wir in der Kirche eine Weile dem schon seit drei Stunden stattfindenden Gottesdienst zugesehen haben. Der Kirchenraum ist voller Menschen, ganze Busladungen Griechen sind auch aus Griechenland gekommen, um an diesem heutigen höchsten Feiertag hier, in der Stadt und dem Land ihrer Vorfahren, Ephiphanias zu feiern. Fernsehkameras sind aufgebaut, wichtig aussehende Leute laufen herum. Wir hören fast nur Griechisch, sehr wenig türkisch, aber auch italienisch wird gesprochen. Auch die Italiener, die seit dem 12. Jahrhundert in Istanbul lebten, sind heute von hier so gut wie verschwunden, aber jahrhundertealte gute Nachbarschaft der verfolgten Christenminderheiten in der Türkei schweißt wohl heute zusammen. Der Gottesdienst wird vom griechischen Fernsehen übertragen, überall laufen Fotografen herum und fotografieren die Gläubigen bei jeder Regung. Die alten Ikonen, die Särge mit den Gebeinen der Märtyrer, die beim letzten Kreuzzug 1204 von hier nach Rom geschafft wurden und erst vor wenigen Jahren aus dem Vatikan nach Istanbul zurückkamen, der Patriarchenthron aus dem 5. Jhd., die Säule mit dem Kreuznagel von Jesus, die seltsam archaischen Gesänge der zahlreichen Priesterschaft; die altertümliche Atmosphäre in der Kathedrale ist beeindruckend. Es ist Viertel vor zwölf, um zwölf soll die große Zeremonie am Wasser stattfinden und so folgen wir den Massen Richtung Goldenes Horn, überqueren die Autostraße, die die malerisch-bunte Häuserflut von Fener vom Wasser trennt und gehen weiter bis zu der Stelle, wo ein Podest mit einem roten Teppich aufgebaut ist, von dem aus der Patriarch sein Kreuz ins Wasser werfen wird. Gegenüber sind auf einem Anleger eine ganze Reihe junger und älterer Männer und auch eine Frau in Badekleidung, die nachher versuchen werden, das Kreuz aus dem Wasser zu fischen. Derjenige, dem dieses gelingt, wird ein ganzes Jahr unter dem besonderen Schutz von Jesus stehen, heißt es. Im Wasser vor dem Podest kreuzen mehrere große Boote der Wasserpolizei und einige Charterboote mit Griechen liegen auch dort, die von der Wasserseite aus eine bessere Sicht auf das Geschehen haben. Wir müssen noch den Gesang des Muezzins abwarten, bis gegen 12.30h endlich die Glocken läuten und sich die Prozession der Priester, Bischöfe und des Patriarchen nähert, der das hölzerne Kreuz in den Händen hält. Rings um ihn ist alles voller Sicherheitsbeamter, anders würde der Papstbesuch wahrscheinlich auch nicht aussehen. Hinter dem Patriarchen geht ein Mann, der zwei weiße Tauben in den Händen trägt, die nachher als Zeichen für den hl. Geist in die Lüfte hochsteigen werden. Das Fest der Erscheinung des Herrn hatte als profanen Vorläufer übrigens die Ankunft des byzantinischen Herrschers in seiner Stadt, die auch als Epiphanie bezeichnet wurde. Seit dem 3. Jhd. wird statt der Ankunft des realen Herrschers am 6.1. die Erscheinung des christlichen „Herrn“ gefeiert, in der auch an Jesus Taufe erinnert wird. Im Wasser sind schon Taucher unterwegs, die das Ganze wohl von unten überwachen sollen und auch von oben sind Drohnen damit beschäftigt, das Geschehen zu kontrollieren. Dann geht es sehr schnell und sehen können wir gar nichts, weil das Podest inzwischen voller Priester ist, die den Blick auf das Wasser verdecken. Plötzlich spritzt es, die Schwimmer sind ins Wasser gesprungen, dann, sehr schnell, hat schon der erste Glückliche das Kreuz gefunden, ein Jubel bricht aus, denn der Fund bedeutet, dass das folgende Jahr Glück bringen wird. Die weißen Tauben fliegen in die Höhe, aber eine der beiden landet auf der Schulter eines blau gewandeten Priesters und will partout nicht mehr hochfliegen. All diese Griechen hier in der sonst so muslimischen Stadt Istanbul zu sehen und ihre eigenartig vertraute Sprache zu hören, hat einen ganz seltsamen Effekt auf mich. Bis vor fünfhundert Jahren war es doch noch genau umgekehrt, muss ich denken. Man sah hier in der Stadt fast nur Griechen. Wie das wohl gewesen sein mag, kann ich mir gut vorstellen, denn die dort vorne auf dem Podest stehen in ihren liturgischen Gewändern, sahen damals schon genauso aus wie heute mit ihren langen Bärten und Haupthaaren. Wir drehen uns um und gehen langsam in Richtung der Straße, wo wir den Bus nachhause nehmen wollen. Ich muss an meine Heimatstadt Bremen denken, wo immer am 6. Januar die Eiswette begangen wird. Ein Schneider kommt dann an die Weser, wird gewogen und muss prüfen, ob der Fluss „geit“ oder „steit“. Da es in den letzten Jahren immer eher warm war, ist es schon lange her, dass er das Eis betreten konnte. Die Wettgelder, die vorher eingesammelt wurden, werden anschließend für wohltätige Zwecke verwendet, das Ganze wird anschließend bei einem zünftigen Kohlessen mit Schnaps begossen. Das christliche Fest der Epiphanie, das wir in Deutschland in katholischen Gegenden ja vor allem als heilige drei Könige kennen, ist von den protestantischen Bremern also in ein profanes Kohl und Pinkelessen umgewandelt worden. Vielleicht gefällt mir gerade deshalb dieses spirituell so hoch aufgeladene Ritual am Goldenen Horn so besonders!? An der Bushaltestelle hat sich ein buntes Grüppchen von Frauen mit langen bunten Gewändern und schmutzigen Füßen in abgetretenen Sandalen eingefunden, die ebenso wie ich auf die andere Straßenseite gucken, wo noch eine Schar schwer bewaffneter Polizisten steht, die die Griechen bewachen sollten und jetzt nichts mehr zu tun haben. Ein kleines Mädchen mit gefärbten Haaren und Tattoos auf den Händen zieht an meiner Jacke und streckt mir eine kleine schmutzige Hand entgegen. Diese Menschen kommen aus Balat, dem Nachbarviertel, in dem es noch sehr arme Distrikte gibt. Die weiblichen Verwandten des Kindes, die auch Angehörige der Roma sind, reden laut und aufgeregt, lachen schrill und zeigen ihre weißen Zähne. Eine sehr schwangere Frau streckt mir auch ihre leere Hand entgegen, als schon der Bus kommt. Jetzt steige ich inmitten der Frauen in den Bus und sitze zwischen ihnen, die mit ihrem lauten Gerede, Lachen und weiterem Handhinhalten den Bus auf Trab halten. Ich würde mir die Frauen gerne genauer angucken, aber ich traue mich nicht, weil ich fürchte, dass sie das falsch verstehen würden und Ärger will ich nicht riskieren. Also halte ich vor allem meine Handtasche gut fest und passe auf, dass mein Handy in meiner Jackentasche nicht verloren geht. Auch die neben mir sitzenden Türken verhalten sich wie ich. Es geht so etwas Wildes und Ungebärdiges von diesen exotisch gewandeten, wild tätowierten und blondierten Frauen aus, das uns alle ein wenig erschreckt. Aber dann bekomme ich mit, dass sie nach dem Weg fragen, diese Busstrecke nicht kennen und da ich es weiß, kann ich es ihnen erklären. Und auf einmal sehen sie mich ganz erstaunt an und haben dabei ganz sanfte Augen, so dass ich mich für meine Voreingenommenheit und Ängste ihnen gegenüber ein wenig schäme. Auch diese Romafrauen gehören zu einer Minderheit hier in der Türkei, einer Minderheit, für die es normal ist, schon die kleinen Kinder zum Betteln zu schicken, einer Minderheit, der es ersichtlich nicht gut geht. Aber sie haben, anders als die meisten von den Griechen, die heute nach Fener gekommen sind, und die aus ihrem eigenen Land vertrieben wurden, kein Land, in das sie zurückgehen könnten.