Was ein Derwisch war, kann man am besten bei der Autorin Elif Shafak nachlesen. Sie beschreibt in ihrem Buch „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ den Lebensweg des Derwischs Shems (1185-1248), der zum einflussreichsten Lehrer des Sufiphilosophen Rumi wurde und ihm den Tanz nahebrachte, mit dem man Mewlewiderwische heute verbindet. Die Derwische waren zu Shems Lebenszeiten arm, sie zogen über das Land, lebten von Almosen und betätigten sich als spirituelle Lehrer. Es gab Derwischkonvente wie den von Mewlewi (mein Herr) Rumi in Konya, der aber erst nach Rumis Tod entstand und in dem man nur Mitglied wurde, wenn man 1001 Tage als Eremit und Dienender lebte und weitere Aufgaben erfüllte. Derwische sind wie Sufis bekannt für ihre Bescheidenheit und Disziplin. Sie gelten als Quelle der Klugheit, der Heilkunst, der Poesie und der Erleuchtung, so steht es bei Wikipedia. Aber warum haben die Derwische nur so einen schlechten Ruf? Bei Karl May und auch bei Franz Werfel, in seinem „40 Tage des Musa Dagh“ kommen sie mit ihren Tänzen nicht gut weg. Die beiden hätten sich gefreut, wenn sie gewusst hätten, dass Atatürk pünktlich zur Republikgründung 1925 die Derwischorden verbot. Aus Derwischkreisen, die gebildet waren, kamen Mächtige und die Mächtigen verbanden sich gerne mit den Regierenden, um Einfluss zu nehmen. Sie hatten viel zu viel Einfluss. Es war immer diese Macht, die sie bedrohlich erscheinen ließen. Vielleicht aber auch, weil der Rumi/Mevlevi-Sufismus einige Elemente enthält, die sich nicht mit der strengen Auslegung des Islams verbinden lassen. Ich entsinne mich an meinen Schüler Habibi, der aus Lybien kam und Sohn eines Hodschas, also eines geistigen Lehrers war. Als ich den Schülern im Rahmen des Philosophieunterrichts von Rumi und den Derwischen in Konya erzählte, wollte er mir nicht glauben, dass es Muslime gibt, die so tanzen dürfen und dass das quasi ein spirituell/religiöser Akt sei. Er regte sich so darüber auf und drängelte so lange, bis ich ihm erlaubte, seinen Vater anzurufen, um zu hören, was der davon hält. Anders als der streng ausgelegte Islam es vorgibt, streben insbesondere die Mewlewiderwische sehr nach Bildung, sind an Kunst und Kultur interessiert, dürfen ein normales weltliches Leben führen und formierten im 1. Weltkrieg sogar ein eigenes Derwischregiment.
Heute streben wir mit Hunderten Zuschauern (2 Millionen kommen jedes Jahr, um sich die Derwische anzusehen) zu der Arena Kültür Merkezi Konya, in der die Derwischtänze diesen Dezember anlässlich des 749. Geburtstages von Rumi am 17. Dezember stattfinden. Wir haben tolle Plätze, sitzen in der ersten Reihe, direkt vor der kreisrunden Arena. Zu Beginn wird eine Stunde lang Musik gespielt. Ein orientalisches Orchester spielt auf und ein älterer Mann im Anzug ohne Krawatte, was auf einen Religiösen hindeutet (der Schlips ist bei den islamischen Politikern verpönt als Zeichen westlicher Dekadenz), singt dazu. Er macht den Eindruck eines gealterten Showmasters mit viel Erfahrung und ist, wie ich später lese, ein ehemals berühmter Schauspieler des Yesilcamkinos, der irgendwann ins Fach des Gesangs gewechselt ist, ich berichtete ja schon auf Blog 25 davon, dass sein Lebensweg alles andere als heilig ist. Dieser Gesang klingt manchmal ein wenig nach Oper, dann ist es wieder ein Raunen. Die Texte sind sprituell-mystisch, zwischendurch erzählt er Episoden aus Rumis Leben. Rumi wird ja nachgesagt, eine homosexuelle Beziehung mit seinem Busenfreund Schems gehabt zu haben, aber davon ist heute und hier natürlich keine Rede. Aber die ganze Veranstaltung ist schon sehr männerlastig, auf der Bühne und im Tanzrund sind keine Frauen zu sehen. Als wir vorhin über den Basar gingen, sahen wir auch manchmal ältere und jüngere Männer, die Hand in Hand gingen, so etwas hält man hier in der Provinz für normales Gebahren heterosexueller Männer. Wie man hier hingegen auf den Verdacht homosexuellen Gebahrens reagiert, beschreibt auch wieder Elif Shafak in ihrem Buch „Unerhörte Stimmen“, in der es um die Ermordung einer transsexuellen Exprostituierten geht und habe ich in meinem gestrigen Blog in Bezug auf den Film „burning days“ berichtet; in den Nachbarländern Iran und auch in Saudiarabien wird man dafür sofort zum Tode verurteilt. Neben uns in der Arena sitzt ein Pärchen aus Antwerpen, sie verstehen Türkisch und sind wegen anderer Geschäfte in der Türkei und haben nun die Gelegenheit wahrgenommen, die Tänze zu sehen. Auch sie fangen wie wir nach einer halben Stunde Musik an zu gähnen. Die Musik ist nämlich irgendwie sehr schnulzig und fast ein wenig langweilig. Wir sehnen das Ende der Musik herbei, das erst nach einer Stunde kommt. Nun tritt der erste Derwisch auf. Ist er echt? Zieht er noch wie zu Schems Zeiten als armer Mönch durch das Land und bekommt Almosen? Er hat ein rotes Fell über dem Arm, das eine wichtige Rolle spielt bei den Derwischen und post heißt. Nun geht er ans Ende der Arena, wo ein Teppich liegt und legt das Fell darauf. Anschließend geht er wieder zurück. An der anderen Seite der Arena liegen 40 weiße Schaffelle. Jetzt kommen die Derwische nach und nach von der Seite des Orchesters, das verschwunden ist und einem Derwischorchester Platz gemacht hat. Das wichtigste Instrument dieses Orchesters ist die Ney, eine lange Flöte, die ein wenig wie eine klagende Querflöte klingt. Aber auch Trommeln und eine Art kleine Gitarre, die Saz, dürfen nicht fehlen. Immer mehr und mehr Derwische kommen die Treppe herunter, in schwarzem Umhang, mit dem hohen braunen Hut (Sikke), der den Grabstein symbolisiert, aus Kamelhaar auf dem Kopf. Es ist sehr still geworden im Saal. Die Derwische halten, als sie die Manege betreten, kurz inne, verbeugen sich in Richtung des roten Fells, das für ihren Großmeister gedacht ist und an Rumi erinnert und gehen dann nach rechts weiter, um sich der Reihe nach auf den Fellen aufzustellen. Der erste Derwisch ist ein mächtiger großer Mann mit einem schneeweißen Bart. Die nach ihm kommenden werden immer jünger und die letzten fünf Derwische sind höchstens 12 Jahre alt. Die ziehen bestimmt nicht über Land. Frauen sind keine dabei, dabei gab es früher auch weibliche Derwische, in der Mewlewiderwischlodge in Galata in Istanbul sind Grabstellen von weiblichen Derwischen und wird von einer berichtet, die Schriftstellerin war. Als alle Derwische auf ihren Fellen stehen, kommt ein älterer Mann, der als einziger ein grünes Band um sein Tuch trägt. Er ist der Scheich, der Oberste des Ordens und das grüne Band weist ihn als einen Nachfolger des Propheten aus, er ist schon in Mekka gewesen. Er verbeugt sich, geht dann zum roten Fell und setzt sich hin. In diesem Moment verbeugen sich die anderen Derwische und setzen sich auch hin. Der Mann fängt dann an zu singen, auf arabisch, das hört sich wunderschön an. Als er fertig ist, steht er wieder auf und rezitiert etwas auf Arabisch. Der weißbärtige Mann geht jetzt zum Scheich, verbeugt sich vor ihm, geht an ihm vorbei, dreht sich zu ihm um, beide verbeugen sich. Der weißbärtige Mann geht rückwärts weiter, dreht sich dann um und fängt an einen großen Kreis zu gehen. Nun kommt der nächste Derwisch auf den Scheich zu, der sich zu ihm umdreht, die beiden verbeugen sich zueinander, dann geht der Scheich rückwärts, dreht sich um und schreitet dem Weißbärtigen hinterher. Zehn weitere Derwische folgen, alle schreiten irgendwann im großen Kreis. Sie machen dieselbe Bewegung, das gegenseitige Verbeugen vor dem roten Fell, mit schleppendem Gang, den immergleichen Bewegungen, insgesamt dreimal gehen sie den großen Kreis, mit vielen Verbeugungen, immer entgegen des Uhrzeigersinnes, nach links, zum Herzen, hin. Dann bleibt der Scheich auf seinem Fell stehen, während die anderen Männer zurück zu ihren Fellen gehen. Dort angekommen, lassen alle auf einmal ihre schwarzen Gewänder fallen. Das heißt, dass sie in der Wahrheit wiedergeboren werden. Die weißen Gewänder sind ihre Totenkleider/Leichentücher, sie stehen für den Tod des Egos. Nur der Scheich und der alte Mann behalten die schwarzen Umhänge an. Anschließend entfernt sich der weißbärtige Mann rückwärtsgehend vom Scheich. Der erste der Derwische geht zum Scheich, beugt sich vor ihm nieder, der Scheich küsst seinen Nacken. bei den Derwischen geht es ganz besonders um Disziplin und Unterwerfung, das ständige Verbeugen hat damit zu tun. Dann geht der Derwisch in den Raum und fängt an, sich langsam zu drehen, er umarmt die Welt in dieser Drehung. Die Arme hat er dabei noch verschränkt vor der Brust, die Hände auf den Schultern, welche Haltung das arabische Aleph, den ersten Buchstaben des Alphabets und den Namen Allahs symbolisieren soll. Diese Haltung bezeugt die Einheit Gottes und wird zwischen den Tänzen immer wieder eingenommen. Nach und nach wandern dann ihre Arme nach unten und wieder nach oben. Gedreht wird sich nach links, wobei der Kopf etwas nach rechts gewendet werden soll. Die linke Hand ist nach unten gerichtet, die rechte nach oben. Diese empfängt von Allah, während die linke nach unten weitergibt. Nach und nach kommen nun alle Derwische am Scheich vorbei, verbeugen sich vor ihm und er küsst ihren Nacken und dann tanzen sie. Der alte Mann ist so etwas wie der Choreograph dieser perfekten Choreographie, die mit geschlossenen Augen getanzt wird. Einige haben ihre Gesichter hell geschminkt, nach einer Weile sind Kreidespuren auf dem Boden zu sehen. Sie berühren sich, obwohl für die vierzig Mann hier wenig Platz ist, gar nicht, bilden perfekte Formen im Raum. Irgendwann gibt die Musik ein Signal, woraufhin sie alle stehenbleiben, rückwärts an die Seiten zurückgehen, die Hände überkreuzt auf die Schultern legen und dann in Reihe wieder zum Scheich, vor dem sie sich verbeugen, ohne dass er sie diesmal küsst und dann fangen sie wieder, einer nach dem anderen an, zu tanzen. Dieses Ganze, Sema genannt, findet viermal statt, Jedes Mal ist es eine andere Choreographie, einmal tanzen nur die ganz Jungen in der Mitte. Jeder Tänzer tanzt irgendwie anders, aber sie haben eine bestimmte Technik aufzutreten und sich zu drehen, die ihnen das viele Drehen erleichtern mag. Immerhin haben sie diese Woche jeden Abend Auftritte, das ist bestimmt sehr anstrengend. Aber für sie ist der Drehtanz wie ein Gottesdienst, man sieht ihnen ihre Erschöpfung, aber auch die Beglückung an, die es bringen mag, bei so etwas mitzumachen. Manchmal hört man ein leise ausgestoßenes Allah, sonst nur die Schritte der Tanzenden. Nach dem vierten Tanz, der Selam heißt, gehen sie zu ihren Fellen, ziehen sich die schwarzen Umhänge an und setzen sich. Nun setzt erst der Scheich zu einem wunderbaren arabischen Gesang an, in den dann teilweise auch die Zuschauer einfallen, als er das Bismillah spricht, das Friedensgebet für die Seelen aller Propheten und Gläubigen. Anschließend geht der Scheich durch den gesamten Raum und am Orchester vorbei, die Derwische folgen ihm langsam. Nun ist Schluss. Wir sind immer noch ganz benommen. Es war wunderbar, ich hätte noch Stunden zusehen und hören können. Als wir rausgehen, stehen schon einige der jüngeren Derwische, die eben noch so konzentriert und unabgelenkt ihre schwierigen Tänze aufführten, im Freundeskreis draußen, es wird gelacht und gescherzt und ein Mädchen versucht ihn nachzumachen. Ich gucke unauffällig hin. Sie sehen eigentlich ganz normal aus, die Tänzer, wie alle anderen hier und vielleicht sogar weniger religiös als viele der Zuschauer. Seit 1954, nach Atatürks Tod, wurden zwar nicht die Lodges, aber die Tänze wieder erlaubt und sind heute eine gute Einnahmequelle für das Touristikministerium. Die Tänzer müssen keinen spirituellen Hintergrund mehr haben, so wie früher. Und in ihren Tekkes/Derwischlogen dürfen sie auch nicht mehr tanzen, die Tänze sollen möglichst an nichtreligiösen Orten stattfinden. Aber die Derwischtänzer hier in Konya sollen angeblich schon richtig spirituell ausgebildete Tänzer sein, lese ich. Ich denke daran, was mir mein Tangolehrer vor ein paar Tagen erzählte. Er hat mir, als ich ihm sagte, ich würde der Tänze wegen nach Konya fahren, erzählt, dass er in seiner Jugend auch Derwischtänze aufgeführt habe und dass jeder Tanz für ihn eine sehr beglückende und bereichernde Erfahrung gewesen sei. Sollen wir morgen nochmal gehen, fragt mein Sohn und ich sage ohne Zögern: Ja! Die Derwischtänze sind noch das Beste an Konya…Am Schluss für diejenigen unter Euch, die sich den Tanz ansehen mögen, hier noch der Link zu einem Video.
Und wenn Euch mein Blog gefallen hat und Ihr noch etwas Gutes tun mögt vor Weihnachten, wieder die Bitte, etwas für die Obdachloseninitiative von Ayse zu spenden.https://sabineschiffner.de/blog-17-taksim-istanbul/
Meine Kontonummer lautet: DE50370100500005305507, bitte als Vermerk: Obdachlosenhilfe dazuschreiben. Ich reiche es dann an Ayse weiter.