Heute begebe ich mich mit Zeynep auf die europäische Seite der Symplegaden (grch.: Die Zusammenschlagenden), der mythologischen Felsen also, die Jason mit seinen Argonauten per Schiff queren musste, um zum direkt dahinter gelegenen Schwarzen Meer zu gelangen, von wo er weiter fuhr, bis er nach Kolchis kam. Wir aber fahren heute nur bis nach Rumelikavağı , welches die letzte Haltestelle der Bosporusfähre ist, bevor dieser im Schwarzen Meer mündet. Auf dem Weg dorthin ist alles wie immer: Der Präsidentenpalast steht noch, daneben ist die Deutsche Akademie Tarabya, wie in einem Märchenschlaf in ihrem großen Park, am Bosporusufer ziehen die teilweise wunderschönen, teils auch sehr zerfallenen Yals, die alten Holzvillen der Reichen und Mächtigen, der Sultanssöhne und Bankenbesitzer kilometerlang an uns vorüber. Am Anleger Rumelikavağı steigen wir aus. Eben sind wir noch an Rumeli Hisarı vorbeigekommen, der alten Festung von Mehmed II, von der aus dieser sich erst 23jährig aufmachte, die Stadt Konstantinopel zu erobern, was ihm den Beinamen Fatih der Eroberer bescherte. Was heißt denn eigentlich Rumeli? Ich bin erstaunt, als ich feststelle, dass Rumeli ein anderes Wort für die Byzantiner, also die Griechen, ist. Denn Rumeli heißt eigentlich Römer. Dass die Griechen sich Römer nannten und bis heute von den Türken so genannt werden, ist irgendwie seltsam. Dann lese ich noch einiges anderes über das Wort rumeli. Für die beiden Orte hier am Bosporus dürfte gelten, was ich dann entdecke. Die Gegend, die in der Antike als Thrakien bezeichnet wurde, wird heute noch in vielen Ländern als Rumeli bezeichnet. Damit ist das Land gemeint, das sich vom Balkan bis zum Bosporus hinzog, denn der markiert die Grenze zu Asien. Aber es gab im Mittelalter auch schon islamische Rumeli-Reiche in Anatolien. Auch dort wollte man also den Römern nacheifern oder fand sie so bemerkenswert, dass man sich nach ihnen benannte. Und Kavağı heißt Posten, in militärischem Sinne ein Aufsichtsposten, denn hier, in Rumelikavağı befindet sich der Eingang vom Schwarzen Meer in den Bosporus, von wo die Barbaren und Vandalen und heute die bösen Russen kommen konnten und können, Völker also, vor denen sich schon die alten Griechen, die sich Rumeli- Römer nannten, fürchteten. Denn weiter als bis zum Schwarzen Meer sind die Griechen vor zweitausend Jahren nicht gekommen, alles was dahinter lag, war Terra Inkognita und reine Erfindung des Griechen Homer. Weil der Ort Rumelikavağı im Türkisch-Russischen Krieg von 1877-78 als strategischer Posten eine gewisse Rolle spielte, siedelten sich dort viele vor den Russen geflüchtete Menschen an. Bis dahin und noch lange danach lebten aber in diesem kleinen Fischerort vor allem Griechen und niemand sonst. Es gab eine St. Georgskirche und ein Kloster hier, aber keine Moschee. Es gab auch eine alte byzantinische Festung, die sozusagen die Schwester der Festung Yoros auf der anderen Seite des Bosporus in Anadolu Kavağı war, die bis heute majestätisch auf ihrem Hügel thront. Aber von der Burg in Rumelikavağı ist heute nichts mehr übriggeblieben. Die Fischerboote sind immer noch da, die Fischrestaurants auch, aber als wir uns auf die Suche nach einem Lokal machen, wo es zum Fisch Alkohol gibt, sind wir erst einmal erfolglos. In vielen Lokalen sitzen Frauen mit Kopftuch, was immer ein Hinweis darauf ist, dass hier bestimmt kein Bier getrunken wird. Aber dann finden wir doch ein Lokal, welches eigentlich ein Strand ist, umgeben von einer Vielzahl von Umkleidekabinen, in denen wir uns umziehen könnten, wenn wir schwimmen gehen wollten. Ein Stück weiter sind wir eben noch am Bayan Beach vorbeigekommen. Am Bosporus gab es und gibt es noch heute viele Frauenbadestellen. Aber dieser Strand hier ist eine Erfindung der Religiösen, um sich abzuschotten. Sie nennen den Strand, der hinter hohen Mauern verborgen ist nicht, wie früher, Kadinlar-Beach, also Frauenstrand, wie die reinen Frauenbadestellen heute noch heißen, sondern Bayan-Beach, also Damenstrand, sagt Zeynep, weil es ihnen peinlich ist, das Wort Frau auszusprechen Auf dem Schild im Eingang erklärt ein Mann, wie man sich richtig die Maske aufsetzt. Und das ausgerechnet dort, wo die religiösen Fundamentalisten es schon anzüglich finden „Frauenstrand“ zu schreiben und stattdessen lieber das Wort „Damenstrand“ verwenden. Die Sonne scheint, es ist 10 Grad warm und wir setzen uns an einen Tisch direkt am Wasser, lauschen erst eine Weile den Wellen, die an den Strand schwappen und lassen uns von einem herrlich altmodischen Kellner Vorspeisen und gegrillte Sardinen bringen, trinken das Bier, das es dazu gibt und schauen von unserem Standort aus hinüber zur Burg Yoros auf der asiatischen Seite. Möwen kommen und lassen sich mit Pommes füttern. Als der Kellner das sieht, bringt er einen großen Sack voller Brot, das er ins Wasser wirft. Jeden Tag würde er die Möwen füttern, erzählt er dann. Im Nu sind an die hundert Möwen da, die um seinen Kopf schwirren. Zeynep erzählt mir währenddessen, wie sie am Vortag gemeinsam mit einer ganzen Schar von besorgten Mitbürgern neben einem Auto wartete, in dessen Motor sich eine winzige Katze versteckt hatte. Ein paar Stunden standen sie um das Auto herum, bis es der Feuerwehr schließlich gelang, das Kätzchen dort rauszuholen und Zeynep zu übergeben, die es in ihre Tasche tat und mit nach Hause nahm. Das Kätzchen ist schon das zweite aus einem Autogetriebe gerettete Kätzchen, das sie mit nach Hause genommen hat. Nun hat sie also vier Katzen zu Hause und auch noch ihre beiden Straßenhunde. Ich bekomme die erste einer ganzen Reihe von Nachrichten aus Deutschland, in denen mir von dem Sturm berichtet wird, der über Deutschland fegt und der Zeynep heißt. Als ich Zeynep davon erzähle, wundert sie sich sehr. Wieso geben die Deutschen einem Sturm in Deutschland einen türkischen Namen? Das würde es umgekehrt in der Türkei nicht geben. Nach dem Mittagessen gehen wir noch ins Zentrum vom Dorf Rumelikavağı , wo es schon lange keine Griechen mehr gibt, auch keine Kirche und kein Kloster, aber viele auf den Straßen in der Sonne herumliegende Straßenhunde und viele Moscheen und die ältesten Gebäude sind militärische Gebäude aus ottomanischer Zeit, auf die uns vor den Cafés am Marktplatz sitzenden jungen und alten Männer hinweisen. Die Fähre zurück haben wir inzwischen verpasst und nehmen nachmittags den Minibus zum nächstgrößeren Ort Sariyer, von wo aus häufiger eine Fähre bis zurück zur Altstadt geht. Eine fuchsfarbene Katze verfolgt mich eine Weile und begleitet mich auf einen malerischen Anleger, wo sie sich streicheln lässt. Auf dem Kopf einer Adenauerstatue sitzt eine Möwe und schreit. Ein Stück weiter sitzen zwei riesige Raubmöwen auf dem Boden, ein Mann, der neben ihnen hockt, kennt sie beim Namen. Hier in Istanbul sind irgendwie alle Tierliebhaber, egal welcher Art. Katzen, Hunde, Tauben, Möwen. Wir gehen wieder auf die Fähre und fahren zurück und hinter uns verschwindet das, was man für bläuliche Felsen halten könnte, die schon Homer in seiner Ilias inspiriert haben, im Dunst des am Nachmittag vom Schwarzen Meer hochsteigenden Nebels.