Wir sitzen schon eine Viertelstunde in dem Ocakbasi (Grillrestaurant), in dem wir uns verabredet haben, aber die beiden Freundinnen sind noch nicht da. Da wird Zeynep nervös. Sie hat Hunger. Wir schauen uns die Karte an. Wir nehmen einfach dieselben Sachen wie letztes Mal, sagt sie, das war gut: Muammar, Hummus mit Pastrami, den Salat mit Walnüssen, Baba Ganoush. Wieso kommen sie denn nicht? Sie ruft die anderen beiden an. Wir sind in fünf Minuten da. Wenn ein Türke sagt, er kommt in fünf Minuten, kommt er in einer halben Stunde, sagt Zeynep. Sie mag es nicht, wenn man zu spät kommt. Bevor wir uns hier getroffen haben, rief sie mich dreimal an, um zu sagen, dass sie wohl zu spät kommen würde und entschuldigte sich furchtbar dafür. Aber dann war sie doch zehn Minuten zu früh da. Genauso wie ich. Das ist unsere deutsche Erziehung, sage ich zu ihr. Ich werde nie vergessen, wie böse mein Großvater war, als ich einmal fünf Minuten nach der verabredeten Zeit zu Besuch kam. Bei ihr ist es die deutsche Schule. Ich bin eben mit der deutschen Disziplin groß geworden, sagt sie. Wenn ich eine Freundin hatte, die mehr als einmal zu spät kam, hat die Freundschaft nicht lange gehalten. Da geht schon die Tür auf und die beiden Kurdinnen kommen herein. Als erstes tauschen wir Komplimente aus. Die beiden sehen sehr hübsch aus, haben sich aufgemotzt für heute Abend. Ein Grund für s Zuspätkommen wird nicht genannt. Jetzt endlich können wir bestellen. Eine große Flasche Raki, zwei von uns trinken Raki, die anderen beiden Wasser. Wasser und Feuerwasser. Dann wird schon angestoßen. Auf den Tod von Hanefi, Hanefi ölecek, sagt Nurgül und lacht übermütig. Hanefi ist der Exfreund von Merve. Als wir das letzte Mal in diesem Lokal waren, war er noch mit uns hier. Vor zwei Monaten hat er unsere Freundin verlassen. Wir anderen fragen nach. Macht es Dir nichts aus, dass wir hier sind, in diesem Lokal, wo er das letzte Mal doch noch dabei gewesen ist. Nein. Abermals stoßen wir auf seinen Tod an. Dann gehen zwei von uns rauchen. Die eine dreht sich ihre Zigarette selber. Die andere hat ein Päckchen Zigaretten dabei. Zeynep, die einzige Türkin hier am Tisch, stammt aus behüteten Istanbuler großbürgerlichen Verhältnissen, hat studiert und anschließend lange beim Fernsehen gearbeitet. Als sie mich vor vierzig Jahren in Bremen besucht hat, hat sie nicht geraucht. Damals habe ich geraucht, es aber bald wieder aufgegeben. Sie hingegen hat erst mit 40 Jahren angefangen. Nun genießt sie das Rauchen sehr und würde nie ein Lokal aufsuchen, wo es keine Möglichkeit zum Rauchen gibt. Die andere, meine Freundin, die Schmuckverkäuferin, die Kurdin, ist mit 16 Jahren aus Diyabarkir mit ihren zehn Geschwistern nach Istanbul gekommen und hat gleich angefangen zu arbeiten und arbeitet seitdem jeden Tag. Sie hat schon als junges Mädchen angefangen zu rauchen und nie damit aufgehört. Zum Rauchen stellen die beiden Frauen sich an den großen Grill, der am Ende des Lokals steht und nach dem das Lokal benannt ist. Dieser qualmt und pafft, da fällt es nicht so auf, wenn rauchende Menschen daneben stehen und hier in der Türkei beschwert sich sowieso niemand, wenn geraucht wird. Merve, die schöne Schwägerin von Nurgül und ich sitzen währenddessen am Tisch und unterhalten uns über Religion. Denn, was ich nicht wusste, sie ist religiös. Auch sie stammt aus Diyabarkir, auch sie aus einer Großfamilie mit religiösen Eltern, aber ihre Brüder sind alle nicht religiös, erzählt sie, nur sie und ihre beiden Schwestern. In die Moschee geht sie allerdings nicht, betet aber zu Hause und bedeckt sich dafür. Das ist nun wieder etwas, was Zeynep nicht verstehen kann, wie sie mir später zuflüstert. Wie kann man nur religiös sein? Vielleicht ist es auch deshalb, dass Merve keinen Alkohol trinkt und keine Hunde mag. Ihre Familie gehört einer islamischen Sekte an, für die Hunde unreine Tiere sind. Nurgül aber hat kein Problem mit Hunden. Sie spricht dem Raki ebenso fleißig zu wie Zeynep. Kaum sind die beiden wieder zurück vom rauchenden Kamin, wird wieder auf den Tod von Hanefi angestoßen und wir müssen alle sehr lachen darüber. Jetzt kommen die Vorspeisen mit dem knusprigen hauchdünnen Brot, das am Grill mitgebraten wurde. Der Raum ist inzwischen voller Menschen und es wird immer lauter und heißer, bis Zeynep sich beschwert und den Kellner anpflaumt, dass er doch gefälligst die Heizung runterdrehen solle. Die Preise für Heizung sind hier so hoch, aber alle verschwenden sie, sagt sie. Ja, davon kann ich auch berichten. In meiner Wohnung ist die Heizung immer an und runterdrehen darf ich sie nicht, wurde mir gesagt. Wir reden über die Liebe und die türkischen Männer und die drei Freundinnen sind sich einig, dass die Türkischen Männer schwierig sind. Zwei von ihnen haben keine Beziehung und wollen auch keinen Mann mehr haben, die dritte ist unglücklich in ihrer Ehe. Wieder wird auf den Tod von Hanefi angestoßen. Ich bin glücklich heute Abend, sagt Zeynep jetzt. Eben hat sie mir noch gesagt, wie seltsam es ist, dass wir hier zusammensitzen, die beiden Kurdinnen und wir beide, vier Frauen, zwischen denen Welten liegen. Orient und Okzident. Religiöse Herkunft und mehr oder weniger atheistische Herkunft. Behütetsein und in die Welt hinausgeworfen. Aber richtig in die Welt hinausgeworfen wurden die beiden Kurdinnen auch wieder nicht. Sie haben immer mit ihren Brüdern zusammengelebt. Merve lebt bis heute mit einem unverheirateten Bruder zusammen und Nurgül mit ihrem Mann, der auch ein Kurde ist, den Besitzer des Ladens, der auch Kurde ist, gut kennt und der auch aus Diyabarkir stammt und wenig später vor unserem Tisch steht und uns begrüßt. Aber so schnell wie er gekommen ist, verschwindet er auch wieder. Nurgül atmet erleichtert auf und ich denke, dass sie mir leid tut. Sie ist nicht glücklich, aber sie kann ihn nicht verlassen, hat sie mir bei früherer Gelegenheit gesagt. Sie würde dann ihre Kinder verlieren und müsste um ihr Leben fürchten. Das erzähle ich Zeynep nicht, die uns eben aufgefordert hat, mit ihr am 8. März zur großen Frauendemo zu gehen, wo sie natürlich nicht fehlen darf. Na klar kommen wir mit! Der Kellner bringt Tee und stellt vier Gläschen ab. Der Tee schmeckt immer und jederzeit, egal ob mit Raki, Cola oder Wasser. Trink auch etwas, fordert Zeynep mich auf, du musst Wein trinken! Und so bestelle ich mir ein Glas Rotwein und wir stoßen wieder auf den Tod von Hanefi an: „Hanefi Ölececk!“ Zeynep erzählt, wie ihr Vater reagiert hat, als sie ihm erzählte, dass sie unverheiratet schwanger war. Er hatte ihr damals auf die Schulter geklopft und gratuliert. Sie regt sich über den Lehrer ihres Sohnes auf, der sie eines Tages darauf hinwies, dass der ein Bild gemalt habe, auf dem seine Familie zu sehen war: Ihr Sohn, Zeynep, die sich ein Jahr nach der Geburt des Jungen hatte scheiden lassen und Zeyneps Mutter, die sich um den Enkel kümmerte, weil Zeynep beim Fernsehen arbeitete und Tag und Nacht beschäftigt war. So ein Blödmann, dieser Lehrer, sagt Zeynep. Es gibt doch auch jede Menge andere Familienkonstellationen als Vater Mutter Kind. Es ist besser für die Kinder, wenn die Eltern geschieden sind und sich noch gut verstehen als wenn sie zusammen sind und sich dauernd streiten. Nurgüls Mutter hat ihr Leben lang einen schwarzen Umhang getragen und Kopfschleier, wenn sie auf die Straße ging und sie hat nach dem Tode ihres Mannes, der vor dreißig Jahren gestorben ist, nicht mehr geheiratet. Nurgül hat die Haare sehr kurz geschnitten und sieht jünger aus als sie ist. Sie raucht und sie trinkt und stößt jetzt mit Zeynep an und als die beiden laut lachen, merke ich, dass sie beide schon ein wenig betrunken sind. Dann werde ich umarmt und sagt Zeynep mir, dass sie mich liebt (auf englisch), was ich ganz bezaubernd finde. Die anderen beiden sagen, dass sie es so bezaubernd finden, dass wir beide uns nach so vielen Jahren noch so gut verstehen. Das ist etwas ganz besonderes heute Abend, raunt Zeynep mir dann zu. Sie sei früher nie mit Frauen wie diesen zusammengekommen, die aus so traditionellen Verhältnissen stammen, Mütter haben, die den Tschador tragen und die nicht wissen, wann genau ihrer Kinder geboren wurden, weil sie ihrer vielen Kinder wegen vergessen haben, sich den Tag zu merken. Aber es zeigt, dass sich doch etwas ändern kann und dass diese Änderung hier in Istanbul möglich ist. In Istanbul werden die Menschen anders, besser, sagt Zeynep. Würdest du gerne wieder in Diyabarkir leben, frage ich Merve, die ja als einzige von den dreien sagt, dass sie religiös sei. Nein, auf gar keinen Fall, sagt sie. Da wird man von allen kontrolliert und das Gerede und die üble Nachrede ist so groß. Das ist hier in Istanbul ganz anders. Hier kann ich mehr oder minder leben wie ich will. Hier in Istanbul bin ich frei! Dann wird ein Teller mit Fleischstücken gebracht, dicke Stücke Lammfleisch vom Grill, dem Ocakbasi, zart und köstliches Fleisch ist das. Dann erklingt eine Musik, die die anderen kennen. Sezen Aksu, die Sängerin, der vor kurzem noch vom türkischen Präsidenten die Zunge herausgeschnitten werden sollte, weil sie in einem Lied angeblich Adam und Eva beleidigt hatte. Alle drei lieben sie. Sie hat die schönsten Liebeslieder, sagt Zeynep. Sie ist die einzige türkische Sängerin, die gute Liebeslieder singt. Und schon fangen sie an zu singen. Und sie singen nicht alleine. Bald singt das ganze Lokal mit. Das kenne ich schon, das irgendwann alle anfangen zu singen. Schade, dass ich den Text des Liedes nicht kenne. Das Lied heißt git, was „geh“ heißt, aber was, wie Zeynep mir erklärt, in Wirklichkeit „gel“ meint, was „komm“ bedeutet.

Das ist das schönste Lied über die Liebe, das es gibt, sagt Zeynep und spielt es mir dann noch einmal auf dem Handy vor und dann kommen noch weitere Lieder, bei denen wieder alle hier im Ocakbasi mitsingen und Bewegungen mit den Armen machen, die so ähnlich aussehen wie die, die die Kölner im Karneval machen, wenn sie ihre Karnevalslieder singen. Dies Lied ist von Ahmed Kaya, sagt Zeynep beim übernächsten Lied und dass sie traurig ist, dass er gestorben ist. Seine Lieder handeln auch von der Liebe, aber sie sind immer politisch gemeint. Als sie das den beiden Kurdinnen sagt, sind die ganz erstaunt, weil sie es noch nicht wussten. Ein letztes Mal wird auf den Tod von Hanefi „Hanefi ölecek“ angestoßen. Jetzt ist er endgültig unter der Erde, sagt Zeynep, mit viel Raki begraben worden. Es ist spät geworden, lange nach Mitternacht und wir rufen den Kellner. Nurgül zahlt, wie schon beim letzten Mal in diesem Lokal, sie duldet es nicht, dass eine von uns das Portemonnaie zückt, vor allem ich, die Deutsche nicht, denn das würde sich mit der kurdischen Gastfreundschaft nicht vertragen und weil sie am meisten getrunken hat und trotzdem sehr nüchtern wirkt, wagen wir keine Widerworte. Aber erst wird noch eine weitere Runde Tee gebracht. Dann gehen wir aus dem Lokal, umarmen uns noch einmal und sagen, wie sehr wir uns lieben und ich gehe ganz beschwingt und glücklich nach Hause. Auf der Istiklalstraße laufen immer noch hunderte von Menschen entlang und die schmale Straße, die von ihr aus zu meiner Wohnstraße führt, ist voller Shisha rauchender Männer und Frauen, die allesamt aussehen wie aus 1001 Nacht. Ich gehe durch die Rauchwolken hindurch und sehe in die vielen orientalischen Gesichter und als ich in meiner Wohnung bin, kann ich lange nicht schlafen, weil in den umliegenden Diskotheken noch bis vier Uhr morgens lautstark gesungen wird. Sezen Aksu oder Ahmed Kaya? Ich kann es nicht genau sagen. Istanbul, die Stadt der Trinker und Sänger. Ich kann nicht schlafen, aber es hört sich schön an…