Um zur Canettigesellschaft zu gelangen, muss man, sagte man mir, durch eine Kneipe gehen und kurz vor der Theke nach rechts abbiegen und zwei Treppen hoch. Die Canettigesellschaft hat ihren Sitz in der österreichischen Bibliothek am Freiheitsplatz in Russe, der ein gewaltig großer Platz ist, voller Grün und Spielplätzen und Springbrunnen und Cafés und einer großen Freiheitsstatue im Zentrum. Die österreichische Bibliothek ist heute zwar offen, aber es ist kein Mensch zu sehen, weder Besucher noch Angestellte. Ich gehe trotzdem rein und fotografiere fleißig. Immer noch kommt niemand und fragt mich nach meinem Begehr. Als ich wieder rausgehe und in die Kneipe, wo laute Musik läuft, sehe ich an mehreren Tischen Menschen sitzen, die mich aber nicht beachten. Als ich sie anspreche, stellt sich heraus, dass an einem der Tische Prof. Penka Angelova, die Vorsitzende der Canettigesellschaft sitzt, neben ihr Viktor Kirilov, der Kulturmanager des Canettifestivals, das gerade zu Ende gegangen ist. Alle sprechen Deutsch und als sie nach dem Grund meines Aufenthalts fragen und ich erkläre, dass ich zufällig in Russe gelandet sei, aber immer auf Spuren meiner Lieblingsschriftsteller wandele, zu denen Canetti schon lange gehört, sind sie sehr freundlich und hilfsbereit und sagen, dass sie mir die Häuser zeigen wollen, die mit Canetti verbunden sind. Ich verabrede mich für diesen Abend mit dem Manager am Haus des Großvaters. Dieses, von außen völlig unbeschadet und wunderschön mit Stuckelementen verziert, wurde von dem armenischen Architekten Nikos Bedrosyan erbaut. Es ist von innen aber nur eine einzige leere riesige Halle mit groben Backsteinen als Wänden. Es ist überhaupt nichts von dem ehemaligen Haus übriggeblieben, auch die Treppen sind Betonkonstruktionen, bis vor zehn Jahren konnte man nur mit Holzleitern die Stockwerke hoch, erzählt man mir. Ringsum und gegenüber sind fürchterliche Bauten des Sozialismus, das Scheußlichste ist das Haus, in dem die Verantwortlichen für die Zerstörung des Canettihauses gearbeitet haben. Heute steht dieses Haus auch leer und sieht von außen sehr marode aus und wartet wohl auf seinen Abriss. Die Fassade vom Canettihaus sieht immerhin noch prächtig aus. Dann treten wir im ersten Stock auf den Balkon und gucken Richtung Donau, von wo Großvater Canetti seine Waren erhielt, die er in seinen großen Hallen aufbewahrte. Sofort steht mir Canettis Beschreibung plastisch vor Augen, wie er als Kind das goldene Korn aus Syrien und den Reis aus China immer aus den großen Säcken nahm und durch seine Finger rieseln ließ und dass er den Geruch und das Geräusch nie vergaß. Hier auf dem Balkon, wo die erhaltenen Fassaden auch der Nachbarhäuser, die auch allesamt von vor 1900 hin sind, durch die hoch wachsenden Platanen zu sehen sind, bekommt man einen Eindruck, wie prächtig und schön diese Straße einmal war, als das aufstrebende sefardisch-spanischsprachige und aschkenasische Judentum in Russe wirtschaftlich einen enormen Aufschwung nahm und das Kultur- und Politikleben im bis Ende des 19. Jhds. osmanischen Rustschuk beherrschte, das Juden traditionell Freiheiten zugestand. Die Vorfahren von Canetti, alle aus dem sefardischen Judentum, also ursprünglich 1492 aus Spanien Vertriebene, kamen bevor sie sich in Russe niederließen, aus Edirne und Konstantinopel, wo sie sich auf Einladung des Sultans Mehmed angesiedelt hatten. Reste der Pracht ihrer Häuser sehe ich auch wieder am nächsten Morgen, als ich erneut durch Russe gehe, das Geburtshaus von Canetti gezeigt bekomme und das nicht weit entfernte Haus des Arztes, der Canetti, der als Kind in einen Topf mit siedendem Wasser gefallen ist und schwerste Verbrühungen erlitt, gerettet hat. All die eindringlichen Kindheitserinnerungen Canettis, beschrieben in „Die gerettete Zunge“ stehen mir hier wieder deutlich vor Augen, obwohl es schon jahrelang her ist, dass ich diesen ersten Band seiner autobiographischen Erinnerungen gelesen habe. Wir sehen dann den Canettiplatz, das Holocaustdenkmal und eine ehemalige Synagoge, die heute einen jüdischen Verein beherbergt: „Shalom!“ Die Tür geht auf, als wir davor stehen und eine kleine rothaarige Frau bittet uns herein und kocht uns einen Kaffee. Canetti war selber in einer jüdischen Freimauerloge und aktiv in verschiedenen jüdischen Vereinigungen. Es gibt in Ruse noch immer viele Juden, aber keinen Rabbi mehr, erzählt Sarah uns. Der nächste Rabbi ist erst wieder in Plovdiv, das 250 Kilometer entfernt ist. Um 1905 herum, als Canetti geboren wurde, gab es noch 18000 Juden in Russe. Der bulgarische König Boris III. und die orthodoxe Kirche haben sich während des Nationalsozialismus gegen die Deportationen in Vernichtungslager gewendet. Daran beteiligt, die Juden in Bulgarien zu retten, war auch der damals noch in Konstantinopel/Istanbul lebende spätere Papst Johannes XXIII., der mit bürgerlichem Namen Angelo Roncalli hieß (in Istanbul, wo er sehr beliebt war, ist eine Straße nach ihm benannt). Aber ein Grund dafür war auch, lese ich, dass in Bulgarien die verschiedenen Religionen und Ethnien einigermaßen friedlich nebeneinander hergelebt haben und dass es kaum Antisemitismus gegeben hat. Trotzdem sind die meisten bulgarischen Juden später nach Israel oder in andere Länder ausgewandert. Wir gehen wieder aus dem jüdischen Verein hinaus auf die Straße, wo sich der so genannte amerikanische Markt befindet, der ein kleiner Wochenmarkt mit mehreren Obst- und Gemüseständen ist und ich verabschiede mich von unserem Führer. Ich kaufe Postkarten und Rosenparfüm, das typisch ist für die Gegend hier, wie ich höre und rufe den Taxifahrer Mehmed an, dessen Nummer ich mir gestern habe geben lassen, weil er so vertrauenswürdig wirkte. Ob er mich zum Bahnhof bringen könne? Der Bahnhof, der gigantische Ausmaße hat und für eine ganz andere Stadt gemacht zu sein scheint, war übrigens ursprünglich mal die erste Endhaltestelle der Orientbahn. Ich muss weiter, nach Warna diesmal, am schwarzen Meer gelegen. Von dort kann ich dann über Nacht mit dem Bus nach Istanbul fahren. Denn die Zugverbindung gibt es anscheinend schon lange nicht mehr.