Der Zug nach Russe/Rustschuck/Rousse (Bulgarien) fährt vom Bahnhof Bukarest einmal am Tag ab. Ruse ist zwar nur 70km entfernt, aber man muss eine Grenze überqueren und braucht dafür 3 Stunden. Das Ticket kostet 70 Lei, das muss man dann durch fünf teilen, um zu wissen, wieviel Euro man bezahlt hat.Als ich heute zum Bahnsteig gehe, steht dort nur ein einziger Waggon, der an die Lokomotive angehängt ist. Ob das der Zug nach Ruse sei? Ja, er ist es. Außer mir steigen fast nur Engländer ein, Mitglieder eines Chores, der nach Athen will. Als ich nach meinem reservierten Platz suche, sitzen dort zwei sehr beleibte osteuropäisch aussehende Männer und ein älterer Mann, westeuropäisch wirkend, mit einem Schlapphut auf dem Kopf. Er spricht mich auf Englisch an. Er sei Ire, sagt er und dass er auf dem Weg nach Sofia sei. Die beiden anderen Männer hält es nicht auf ihren reservierten Plätzen, als sie hören, dass wir beide anfangen, uns auf englisch zu unterhalten,  verziehen sie sich in den Hintergrund des Waggons, wo noch einige Plätze frei sind. Dann geht die Fahrt los, langsam und gemütlich, immer wieder von Halten unterbrochen, die jedoch nicht zum Ein- und Aussteigen dienen. So kann ich die Weite der rumänischen Landschaft gemächlich vorüberziehen sehen, es kommt mir so vor, als wenn ich seit Bukarest ständig nur durch ein unendlich großes Tal fahren würden. Martin, der Ire, fängt währenddessen an zu plaudern, erzählt mir, dass er zwei Monate mit einem Interrailticket 1. Klasse für 400 Euro durch Europa fahren würde und wo er schon überall war. Zuletzt war er wohl in Cluj-Napoca /Klausenburg, wo er zwei Wochen geblieben ist, dort ließe es sich gut aushalten, er sei völlig überrascht gewesen, wie schön und gut hergerichtet die Stadt sei und so sauber. Er habe in einem Hostel übernachtet, er schlafe immer in Hostels, auch wenn er dort nur Menschen treffe, die mindestens 40 Jahre jünger seien als er. Und was macht man zwei Wochen in Cluj? Frage ich. Och, faulenzen, sagt er und zieht ein T-Shirt mit Faultieren aus seinem Rucksack. Das habe er sich bei Humana gekauft, es sei sein Lieblingstier. In Sofia, seinem nächsten Ziel, wolle er auch ein Weilchen bleiben. Als er hört, dass ich nach Russe will und dass das die Geburtsstadt von Elias Canetti ist, ist er total begeistert. Ich liebe Elias Canetti, seit ich 1977 in Israel in einem Kibbuz gearbeitet habe, erzählt er mir. Da sei ein Jude aus Südafrika mit einer riesigen Bibliothek angekommen, von der er sich Bücher habe aussuchen können und da habe er zu einem Buch von Canetti gegriffen, den er bisher nicht kannte: Die Blendung. Das fand er so toll, dass er es anschließend sogar mehrmals verschenkt habe. Und 1984, da habe er in Frankfurt als Taxifahrer gearbeitet und während einer Taxifahrt zu Beginn der Buchmesse habe er auf einmal gehört, dass Canetti den Literaturnobelpreis erhalte und da habe er vor Freude die Faust hochgereckt und gerufen: This is my man! Ich glaube, ich mache auch einen Stopp in Russe, sagt er, als ich ihm erzähle, dass ich mir das dortige Canettihaus angucken will. Und schon habe ich wieder einen Begleiter für mein nächstes Abenteuer. Zwar redet er pausenlos. Aber ich mag seinen irisch-britischen Humor und die Witze über Deutsche, die er mir von da an auftischt, sind amüsant. Er entpuppt sich als echter Weltenbummler und unterhält mich die ganze Zugfahrt über mit Geschichten aus verschiedenen Ländern. Eine Freundin aus Bremen hat er natürlich auch schon gehabt. Und dann spielt er mir seine Lieblingssongs vor. An erster Stelle Kristallnacht von Bap. Und nicht genug damit, nun fängt er auch noch an, mitzusingen. Die Chorsänger schauen erstaunt zu uns hin! Kölsche Töne sind in der Bummelbahn von Rumänien nach Bulgarien nicht so oft zu hören. An der Grenze (Giurgi) werden uns die Pässe abgenommen, dann stehen wir eine halbe Stunde. Dann kommt jemand und teilt die Pässe wieder aus. Und nun sind wir endlich an der Grenze, die die Donau teilt, auf die ich mich besonders gefreut habe, der Fluss, dessen Quellen in Deutschland ich einmal entlanggewandert bin, ist hier an dieser Stelle, an der er kurz vor dem Schwarzen Meer ist, sehr breit. Lange fahren wir über die Eisenbahnbrücke, der Fluss erstreckt sich vor meinen Augen, hinten sehe ich schon die Hafenanlagen der alten Hafenstadt Russe. Russe war ursprünglich eine Römersiedlung und ist noch Anfang des letzten Jahrhunderts mit seiner günstigen Lage an der Donau ein Knotenpunkt des Verkehrs zwischen West, Süd und Osteuropa gewesen. Als wir am großen alten Bahnhof von Russe ankommen, werden schon wieder die Pässe eingesammelt. Dann sollen wir aus unserem Waggon aussteigen und draußen warten, während die Lokomotive abgekoppelt wird und einmal im Kreis fährt, bis sie auf der anderen Seite vom Waggon zum Stehen kommt. Da stehen wir nun auf dem Bahnsteig, alle bis auf mich und Martin fahren nach Sofia weiter. Rumänen interessieren sich wohl nicht für Ruse. Der Zug nach Sofia, der wieder nur aus einem Waggon besteht, wartet auf dem Nachbargleis. Eine Viertelstunde werden die Pässe ausgeteilt. Ein älterer Engländer kommt auf Martin zu und sagt: Der wollte mir eben schon Ihren Pass geben! Nun beeile ich mich doch, an meinen Pass zu kommen, denn mein Passbild ist ganz furchtbar und ich bin kaum zu erkennen. Währenddessen lässt sich Martin darüber aus, dass man in England und Irland ebensowenig wie in den USA einen Ausweis bei sich tragen müsse und dass der Bürger in diesen Staaten dem Staat gegenüber mehr Freiheit habe. Wir haben ein völlig anderes Selbstverständnis, nicht das napoleonisch-obrigkeitshörige, das ihr Europäer habt, meint er dann.

Vor dem Bahnhof finden wir ein Taxi. Der Taxifahrer ist Türke, was gut ist, denn die Verständigung mit den Einheimischen ist unmöglich. Um die Jahrhundertwende waren die türkischen Muslime in Russe die größte Bevölkerungsgruppe neben den Juden. Heute sind von beiden Gruppen kaum noch welche da. Die Fahrt zum Hotel dauert nicht lange und der Ire ist sehr zufrieden, als er erfährt, dass noch ein Zimmer frei ist. Das liegt zwar außerhalb meines Budgets, sagt er, aber ich spare doch sonst immer. Bist du Rentner? frage ich. Ja. sagt er. Wir haben ein tolles Rentensystem in Irland. Er erzählt mir, dass er 1200 Euro Rente bekäme, obwohl er nie ins Rentensystem eingezahlt habe, da er nie eine feste Arbeit hatte und viele Jahre im Ausland war. Außerdem würde er in einer Sozialwohnung kosten, davon gäbe es sehr viele, und die koste nur 100 Euro. Und er bekäme es hin, von 50 Euro in der Woche zu leben, mehr brauche er nicht für Lebensmittel. Die Straßen in Irland seien zwar nicht so picobello in Ordnung wie in Polen und Rumänien, aber dafür sei für die Alten gesorgt. Aber das beste war noch der Brief, den er vor zwei Wochen bekommen habe. Da habe er nämlich erfahren, dass er 600 Euro Energiezulage extra bekomme. Dabei zahle er doch sowieso nur 10 Euro für Gas im Monat und habe die Tanks noch voll….

Vom Hotel aus gehen wir an der Donau entlang bis zum Haus von Canettis Großvater. Das war der, der seinen Sohn Jacques, Elias Vater, verfluchte, als der Russe verließ, um nach London zu gehen. Und wie es danach weiterging, erzähle ich morgen.