Heute Morgen muss ich früh aufstehen und mich sputen; um halb zehn will ich an der Theodosianischen Landmauer sein. Dort, gleich hinter dem Eingang des Topkapi-Tors (Kanonenkugeltor), durch das die muslimischen Eroberer unter Mehmed II. im Jahr 1453 die bis dahin byzantinisch/griechische Stadt Konstantinopel eroberten, stehen zwei kleine und sehr alte Kirchen. Beide sind dem heiligen Nikolaus gewidmet und da heute Nikolaus ist, mache ich mich rechtzeitig auf den Weg, in der Hoffnung, dass sie an seinem Namenstag mal geöffnet haben; bei vorherigen Besuchen waren die hohen Mauern um die Kirchen, die aus Bruchstücken der antiken Stadtmauer gebaut worden sind, verschlossen und die Anwesen wirkten verlassen. Letztes Jahr war ich an zwei anderen Nikolauskirchen, worüber ich auf dem Blog Zeynep Suchen berichtet habe, wer noch einmal nachlesen möchte, kann dies unter folgendem Link tun https://sabineschiffner.de/blog-138-topkapi-istanbul/Ich fahre also mit der U-Bahn über das goldene Horn, weiter bis nach Yenikapi und steige um, weiter in Richtung Topkapi/Ulubatli, was „erhaben“ bedeutet und auf einen der vielen Hügel verweist, auf dem die Altstadt steht und auf den ich auch jetzt hinaustrete, als ich aus der U-Bahn gehe. Rechts von mir ragen die Ruinen der alten Stadtmauer empor. An manchen Stellen sind Tore eingelassen, ein junger Mann quetscht sich durch ein Gitter in eines dieser Tore, ein Obdachloser, der in dem vollgerümpelten Raum dahinter übernachtet. Etwas weiter füttert jemand wilde Hunde, die sich hinter einem Gitter am Rande der Mauer aufhalten. Dann bin ich schon an der armenischen Kirche, deren Eingang man erreicht, wenn man an der Seite durch ein Gartencafé gegangen ist. Aber ich habe kein Glück, sie ist auch heute geschlossen. Mit dem Mut der Verzweiflung klingele ich, ein Vogelzwitschern erklingt, das ist wohl das Klingelzeichen. Und plötzlich öffnet mir eine junge Frau, die eine Duschhaube auf dem Kopf trägt. Die Kirche sei heute zu, sagt sie auf türkisch. Ach, wie schade, entgegne ich. Ich sei doch extra wegen des Nikolaustages gekommen. Das scheint sie zu rühren und sie öffnet mir die Tür. Ich darf eintreten, gehe in den uralten Patio mit seinem Brunnen und sehe mich um. Ein großer Olivenbaum wächst vor dem Eingang, der Innenraum der Surp Nigogayos (Heiliger Nikolaus) Kirche ist sehr viel größer als ich gedacht hätte. Ich schaue mir dann die Kirche an, die wie alle armenischen Kirchen hell, aufgeräumt, licht und schön ist. Ich zünde eine Kerze an, ein paar ältere Männer gehen an mir vorüber, der Kirchenraum ist versperrt, also muss ich ein Foto durch das Gitter machen. Draußen fotografiere ich noch den Glockenturm. Bilde ich es mir ein, oder haben wirklich alle Glockentürme der Nikolauskirchen eine Nikolaushaube? Ich gehe fünfzig Meter weiter zur griechischen Aya Nikolao Kirche, sie ist von außen genauso schäbig und abweisend aussehend wie die armenische Kirche, die man ohne Kenntnisse nicht finden würde. Ein Nebeneingang steht offen und ich trete ein. Auch hier empfängt mich wieder ein wunderbar friedlicher uralter Patio mit einem Brunnen und alten Bäumen. Der Gottesdienst hat schon begonnen, es wird drinnen gesungen. Ich gehe in die Kirche, deren Boden, aus uralten marmornen Grabsteinen bestehend, mit Orientteppichen ausgelegt ist. Als ich die Tür öffnen will, stoße ich fast mit einem Priester zusammen, der gerade mit Weihrauch alle Räume ausräuchert. Vorne sind vier oder fünf Priester, im Kirchenraum sitzen eine Frau und zwei Männer. Ein uralter Mann mit weißen Haaren und Bart ist der Oberpriester, er steht an der Seite und singt, gemeinsam mit einem jüngeren Mann Mann. Der gesamte Gottesdienst wird gesungen abgehalten, nach byzantinischem Ritus, der der gültige Ritus für alle orthodoxen Ostkirchen ist, also auch die russischen und die bulgarische und die georgische Kirche. Zwischendurch stehen wir immer mal wieder auf und setzen uns hin. Später kommt noch eine Frau dazu. Zweieinhalb Stunden dauert der Gottesdienst. Der Höhepunkt des Gottesdienstes ist, als der alte Priester hinter seiner Ikonostase (das ist so eine Art Abtrennung von Kirchenraum und Altarraum, eine Mauer mit mehreren Türen, die es in jeder orthodoxen Kirche gibt) verschwindet und eine Zeit später mit einem überaus prächtigen Gewand und hohem glitzerndem goldenen Hut (der an den Nikolaus erinnert) und einem goldenen Stab wieder eintritt, eine Ikone küsst und von den anderen Gläubigen die Hände geküsst bekommt. Einmal steigt ein anderer Priester, der auch ein sehr auffälliges Gewand mit einem sehr langen breiten Schal trägt, den er sich auf verschiedenste Weise um den Körper bindet, um ihn dann wieder loszubinden und nun wiederum auf verschiedenste Weise durch die Hände gleiten zu lassen, auf eine hohe Kanzel, die auch nach dem Nikolaushut aussieht. Am Ende des Gottesdienstes werde ich, wie schon vor einem Jahr in der Nikolauskirche am Marmarameer, nach vorne gebeten und bekomme mein Nikolausbrot in die Hand gedrückt und eine Ikone des hl. Nikolaus noch dazu. Anschließend bittet man mich, doch mit in den Gemeinderaum zu kommen, dort gäbe es noch Tee. Der uralte Priester und die anderen Priester kommen auch hinzu. Eine der Frauen aus der Kirche kann Englisch, sie übersetzt, weil die anderen neugierig sind, was ich hier mache. Anschließend erzählt sie mir ihre Geschichte. Sie heiße Eleni und sei Griechin, aus Athen, aber mit einem Griechen aus Istanbul verheiratet. Die hießen Rum, was von römisch komme, und sich darauf beziehe, dass Istanbul früher die Hauptstadt des oströmischen Reiches (Rum) gewesen sei. Sie sei sei vielen Jahren mit ihrem Mann verheiratet, der jedoch vor vier Jahren, nach dem Tode seines Vaters nach Istanbul zurückgekehrt sei, um dessen Geschäfte zu übernehmen. Die vielen Griechen Istanbuls, 200000 seien es noch bis 1914 gewesen, hätten ihre Stadt, in der sie seit 2000 Jahren gelebt hätten, inzwischen bis auf 2000 Personen alle verlassen. Alle 10 Jahre gab es ein Progrom seit 1914, erzählt ihr Mann mir, das schlimmste war 1955. Aber danach gab es auch immer wieder Ausweisungen und Progrome. Dann haben sie unseren Besitz geschätzt und einfach eine Null drangehängt und uns Christen darauf entsprechend die Steuern auferlegt, obwohl wir doch seit immer hier lebten. Und wenn wir die nicht bezahlen konnten, kamen wir ins Arbeitslager. Diese Geschichte hatte ich schon in der Serie „Külüb“ gesehen, die letztes Jahr erschienen ist und die Ereignisse um das große Griechenprogrom 1955 herum beschreibt. Mit den Deutschen oder den Italienern haben sie nichts gemacht, mit den Franzosen auch nicht, die haben sie alle in Ruhe gelassen. Nur mit den Griechen und den Armeniern sind sie so schlimm umgegangen, fast so wie die Nazis mit den Juden, aber davon würde niemand reden, das würde immer noch verschwiegen, sagt sie dann. Ihr Mann, der neben ihr sitzt, erzählt mir dann, dass seine Eltern ihn und seine Geschwister 1974, als es wieder ein Progrom gab, nach Griechenland geschickt hätten, damit sie eine Zukunft haben. Er sei Architekt und jetzt sei er nach seiner Pensionierung hierher zurückgekommen und führe den elterlichen Betrieb weiter. Und ob ich den Film „Politiki kusina“ kennen würde? Ja, den kenne ich. Er handelt von der Ausweisung der Griechen aus Istanbul im Jahr 1964. Aber der deutsche Titel des Films, der 2003 gedreht wurde lautet Zimt und Koriander, ähnlich wie auch der türkische Titel „Bir tutam baraha“ (eine Tüte Gewürze), sage ich. Da erklärt er mir, dass Politika Kusina, der griechische Titel, ein Wortspiel sei. Es beziehe sich auf polis, das alte Wort der Griechen für ihre Stadt Konstantinopel, die sie nur die „Stadt“ nannten, verbunden mit politika/Politik, für die Machtspiele, die die Türken mit den Griechen betrieben haben. Nur habe man den Film in der Türkei unter diesem provokanten Titel nicht zeigen dürfen. Und hört man denn einen Unterschied, wenn Sie oder Ihr Mann, die ja beide Griechen sind, ihr griechisch sprechen, frage ich Eleni. Mein Mann ist kein Grieche, er ist ein Rum, verbessert sie mich, ein „Grieche“ aus Istanbul eben. Die sprechen genauso griechisch wie ich, aber sie haben einen feinen Akzent, sagt sie und sieht verliebt zu ihm hin. Ich verabschiede mich per Handschlag von den beiden und von den Priestern und gehe raus, auch um die Kirche noch einmal von innen zu fotografieren. Im Innenraum hängt ein wunderschönes beleuchtetes Schiff, das Symbol des hl. Nikolaus, der ja der Patron der Seefahrer ist, was hier, in der von See umspülten ehemaligen Stadt Polis. eine wichtige Rolle spielt. Und mir fällt ein Sprichwort ein, das ich von meiner Türkischlehrerin hörte: Gemileri Yakmak (Schiffe abbrennen). Das haben die Juden gesagt, als sie im 15. Jhd. im Rahmen der Inquisition aus ihrer Heimat Spanien vertrieben, hier in Istanbul ankamen und ihre Schiffe verbrannten. In manchen Synagogen hier in Istanbul stehen als Symbol dafür noch Gebetskanzeln in Form von Schiffsbugen. Und das Wort „gemileri yakmak“ ist inzwischen ein türkisches geflügeltes Wort dafür, dass man nicht mehr zurückkehren wird, gültig auch für die meisten ehemaligen Gastarbeiter, die in Deutschland geblieben sind. Aber die Rum, die Griechen in der Türkei, die von hier vertrieben wurden, sehnen sich nach ihrer Heimat. So wie der Mann der Frau, der eben noch zu mir gesagt hat: Mein Vater hat mich nach Griechenland geschickt, aber ich habe mich immer nach meiner Heimat zurückgesehnt. Und das war Istanbul.