Heute bin ich mit Zeynep am Bahnhof Sirkeci verabredet. Sirkeci heißt Essigmacher und der Sirkeci-Bahnhof wurde einst als Endhaltebahnhof des Orientexpress erbaut, der von Paris bis hierher fuhr. Er hat seine Jugendstilschönheit auf wundersame Weise bis heute erhalten. Sein Erbauer war übrigens ein Deutscher namens August Wasmund, dessen Name nicht vermuten lässt, dass er soviel für den orientalischen Art Nouveau- Stil übrig hatte. Während ich warte, gehen lauter Menschen in sehr altmodischer Kleidung vorüber, mit Fezen, in Kostümen von vor hundert Jahren; es wird gerade ein Film im Bahnhof gedreht, Filme der ottomanischen Zeit sind bei den Türken sehr beliebt. Nun kann ich mir besonders gut vorstellen, wie es damals gewesen sein muss, wenn die Passagiere von Paris aus bis hierhin, ans Ende des Okzidents, kamen und in sänftenartigen Behältnissen zu ihren Luxushotels hoch oben auf dem Hügel von Beyoglu getragen wurden, zu dem Hotel Tokatlyan oder dem Pera Palast, die beide extra zu diesem Behufe erbaut worden waren. Züge kommen hier heute keine mehr an, schon seit Jahren liegt der Bahnhof still. Dann kommt Zeynep, sie ist mit der Fähre von ihrem Wohnort bis hierher gefahren, was immer noch der schnellste Weg ist, die Hügel und den Verkehr in Istanbul zu umgehen. Wir umrunden den Sarayburnu, die Nase des Palastes, gehen am Wasser entlang, an der Küste des Marmarameeres, das eine ganze Weile lang nicht zu sehen ist, weil zum Wasser hin Abdeckungen sind, dort finden Ausgrabungen statt. Ein wundersames großes Haus ist am Wasser zu sehen, ein ehemaliger kaiserlicher Palast, der steht dort, wo das Marmarameer auf den Bosporus und das goldene Horn trifft. Er trägt den Namen „Sepetciler Köskü“ (Korbmacherhaus). Der Sultan, der von seinem Palast aus, der auf der anderen Seite der Straße auf den Höhen des Gülhaneparks liegt, bis hierhin gucken konnte, kam dorthin, um seine Marine zu begrüßen und zu verabschieden. Nachdem die Republik gegründet wurde, stand es sehr lange leer. Eine Zeitlang, erzählt mir Zeynep, wurde es für Veranstaltungen genutzt, aber jetzt finden dort schon lange keine öffentlichen Veranstaltungen statt; der grüne Halbmond hat sich in dem Gebäude eingerichtet. Das ist eine islamistische Organisation, die sich dem Kampf gegen Drogen, Alkohol und Zigaretten verschrieben hat. Wir sehen durch das Gittertor auf den gepflegten sauberen Rasen und stellen uns vor, wie die Feste hier wohl gefeiert werden. Mit Ayran, Tee und Wasser, die Frauen mit Kopftuch, die Männer ohne Schlips, aber von hier aus mit dem herrlichstem berauschenden Blick. Wusstest du, dass in der Hochburg der Islamisten, in Konya, am meisten Alkohol in der ganzen Türkei konsumiert wird? fragt Zeynep. Nein, das wusste ich nicht. Wir gehen weiter am Wasser entlang. Rechts von uns sind die Reste des alten Kaiserpalastes, des Palaeologenpalastes, viele Mauern auch, manche mit griechischen Inschriften. Dann sind wir auf der Höhe von Cankurtaran, dem Viertel, das Zeynep mir heute zeigen will. Cankurtaran heißt Rettungsschwimmer/Lebensretter. So nannte man das Viertel, weil die noch von den Byzantinern erbauten hohen Stadtmauern, hier an dieser Stelle die fünf Meter hohen Tsunamiwellen abhielten, die 1509 von einem Erdbeben verursacht worden waren. Als wir jetzt die Schnellstraße überqueren und in das Viertel gehen, bin ich sehr erstaunt darüber, wie ruhig und normal das Leben dort ist. Es gibt noch sehr viele uralte Holzhäuser, manche schon halb ruinös, trotzdem wohnen in einigen offensichtlich noch Menschen, Wäsche wurde zum Trocknen vor das Fenster gehängt, Licht brennt. Das ist gefährlich, sagt Zeynep. Wenn das nächste Erdbeben kommt, brechen diese Häuser als erste zusammen. Erdbeben? frage ich. Ja, es ist ein großes Erdbeben angesagt worden, das kann in nächster Zeit kommen. Oje, sage ich. Vor einer Woche haben wir ja hier noch die leichten Wellen des letzten Erdbebens gespürt. Aber mein Haus in Beyoglu ist, anders als diese malerischen Bruchbuden hier, wohl erdbebensicher – hoffe ich zumindest! Wir gehen weiter, an einem kleinen Platz suchen wir nach einem Cafe, in dem sie früher oft verkehrt hat und das nach einem berühmten Filmbösewicht benannt ist, nach Erol Tas. Aber das Haus vom Café ist auch nur noch eine Ruine. Beim Koreaner nebenan würden wir gerne essen, können aber nicht, weil gerade eine Busladung Koreaner verköstigt wird. Da kommen die nach Istanbul und essen koreanisch, seltsam findet auch Zeynep das. Ob ich weit kommen würde, wenn ich in Istanbul nach einem deutschen Restaurant suchen würde?. frage ich mich. Wir kommen zu einer sehr touristisch wirkenden Straße. Zwischen den vielen Restaurants, in die man uns hineinzulocken versucht, sind die Ruinen eines alten Hamams, dann Turmruinen des paleologischen Palastes aus dem 10. Jhd., alle nicht ausgeschildert. Wir entdecken hoch über unseren Köpfen eine Dachterrasse, fahren mit dem Fahrstuhl drei Stockwerke hoch, gehen nach draußen und zwei Treppen hoch und dann muss ich mich am Geländer festhalten, weil mir schwindlig wird: Die Aussicht ist überwältigend! In Richtung Altstadt steht in aller Größe und Schönheit die Sultan Ahmed/Blaue Moschee, zur anderen Seite hin liegt das im Sonnenschein glitzernde Marmarameer mit seinen Inseln. Im nahen Überseehafen liegen viele Schiffe auf Reede. Wir machen Fotos von uns mit der Moschee im Hintergrund. Das ist das erste Mal, das ich vor einer Moschee posiere, sagt Zeynep und fragt mich dann, welche Moschee es eigentlich sei. Sie kenne sich damit nicht aus. Wir bestellen Tee und ein junger Mann kommt, um uns zu bedienen. Zeynep spricht ihn an, fragt ihn aus. Er erzählt ihr, dass er Afghane sei, seit zwei Monaten in Istanbul. Warum er denn so gut Türkisch sprechen würde. Er sei fünf Monate in Malatya im Gefängnis gewesen. Und wieso das? Er sei aus Kabul geflohen, mit seinem Bruder und seinem Cousin. Die Talibans wollten sie abholen, deshalb hätten sie fortgemusst. Sie seien zu Fuß bis an die iranische Grenze und von da weiter bis zur Türkei gegangen. Teilweise sei er stundenlang durch brusthohen Schnee gewandert, erzählt er uns. Zwei Monate hätten sie gebraucht, um bis zur Türkei zu kommen. An der Grenze hätten sie dann seinen Bruder und seinen Cousin festgenommen, aber er habe entkommen können. Er habe es bis in die Türkei geschafft, sei aber in der Türkei doch festgenommen und ins Gefängnis gesteckt worden. Und als man ihn nach fünf Monaten freigelassen habe, sei er zu Fuß bis nach Istanbul gegangen. Das alles erzählt er mit einem Lächeln. Wie alt bist du, frage ich. Sechzehn Jahre, sagt er. Zeynep bestellt die Rechnung, er sagt, man müsse unten an der Kasse zahlen. Als sie ihm ein Trinkgeld in die Hand drücken will, will er es partout nicht annehmen. Wir bezahlen für unsere beiden Tees fast 7 Euro, das sind hier die Touristenpreise. Ich schäme mich, dass ich für soviel Geld dort oben gesessen und mich von einem so armen Jungen habe bedienen lassen und erzähle Zeynep die Geschichte meines syrischen Schülers, der als Koch in der Türkei gearbeitet hat, um seine Familie zu ernähren. Wir gehen wieder zurück, kommen zu einem riesigen Geschäft, das in die alte Stadtmauer integriert ist und nur falsche Luxusartikel verkauft. Als wir in einen Raum kommen, in dem lauter Teppiche von der Wand hängen, auf denen Scheichs abgebildet sind, ergreifen wir fluchtartig das Weite. Und gehen langsam wieder am Sarayburnu (die Nase des Palastes, so wird das Ende dieser Halbinsel genannt, auf der die historische Altstadt steht und der Palast des Sultans errichtet wurde) entlang zurück Richtung Eminönü, wo Zeynep ihre Fähre nehmen will. Unterwegs begegnen uns viele wilde Katzen und Hunde, die hier, zwischen den großen Steinen am Rande des Ufers, wohnen. Alle sind wohlgenährt. Die haben immer jemanden, der sich um sie kümmert, sagt Zeynep. Als wir wieder an den Abdeckungen der Ausgrabungen vorbeigehen und kurz vor dem Palast des grünen Halbmondes sind, sind dort auf einmal ganz viele Katzen, die auf etwas zu warten scheinen. Hinter einem Plakat sitzt ein Junge von ca. 14 Jahren auf dem Boden vor einem aufgerissenen Plastikmüllsack und sucht sich etwas Essbares heraus. Die Katzen lauern darauf, ob etwas für sie übrigbleibt. Zeynep zückt ihr Portemonnaie und auch ich leere nun meine Taschen und gebe ihm meine restlichen Scheine. Das ist aber nicht mehr als der Tropfen auf den heißen Stein….