Als ich Reyhan frage, ob sie Türkin sei, sagt sie: Nein! Sie gehöre zum Volk der Zaza! Die Zaza sind ein kurdischer Volksstamm, der im Süden der Türkei lebt und bis heute in der Türkei nicht als eigenes Volk anerkannt wird. Viele von ihnen sind Aleviten, werden also von den sunnitischen Muslimen nicht als „rechtgläubige“ Muslime angesehen. Ihre Sprache ist ein Dialekt des Kurdischen, das mit dem Farsi verwandt ist, also eine indogermanische Sprache, die nichts mit dem Türkischen zu tun hat. Jahrzehntelang war die Sprache verboten und durfte nicht unterrichtet werden. Reyhan hat ihre Muttersprache erst als Jugendliche gelernt. Das ärgert sie, genauso wie es sie ärgert, dass viele Zaza inzwischen ihre Religion aufgegeben haben und Sunniten geworden sind. Kennengelernt habe ich sie im Restaurant von Ayse Tükrükcü, über das ich ja schon auf vorherigen Blogeinträgen berichtete (https://sabineschiffner.de/blog-17-taksim-istanbul/…), weil sie dort jeden Tag aushilft und abends Essen an die Obdachlosen verteilt. Eigentlich studiert sie ja Medizin. Bzw. hat sie Medizin studiert. Zuletzt in der Ukraine. Aber das kann sie dort jetzt nicht mehr und ist zurückgekehrt in die Türkei und lebt nun in Istanbul. Reyhan ist sehr klein und sehr schlau. Sie ist eine der wenigen Menschen hier in Istanbul, die pausenlos Witze machen und die Witze der Anderen verstehen können. Als ich ihr gestern beim Dienst für die Obdachlosen erzählte, dass ich heute in der Deutschen Kirche Orgel spielen würde, wollte sie sich das ansehen. Dann weiß ich endlich mal, wie es weihnachtsmäßig bei euch in der Kirche ist, sagte sie. Orgeln gab es übrigens schon im alten Byzanz, Konstantin V. schickte im 9. Jhd. eine Orgel an Karl den Großen. Damals wurden Orgeln allerdings noch nicht in den Kirchen gespielt, weswegen es in den wenigen übriggebliebenen alten byzantinischen Kirchen dieser Zeit, die ja inzwischen alle ohne Ausnahme in Moscheen umgewandelt worden sind, auch keine Orgelemporen gibt. Und in den Moscheen wird ja sowieso keine Orgel gespielt. Die Kreuzkirche, auch deutsche evangelische Kirche genannt, befindet sich in Tarlabasi, dem Elendsviertel gleich neben meinem Viertel Beyoglu, welches bis vor zwanzig Jahren auch sehr heruntergekommen war, aber inzwischen mächtig gentrifiziert und herausgesputzt worden ist. Wer weiß, wie Tarlabasi, das auf Geheiß gewisser Herren, die Schmutz, LGTB und Drogen nicht ausstehen können, eigentlich schon längst abgerissen werden sollte, in zwanzig Jahren wohl aussehen mag? Die Kirche in Tarlabasi wurde 1861 erbaut, damals war Tarlabasi noch ein von Griechen bewohntes und zu dieser Zeit noch sehr ansehnliches Viertel, wie man den anderen alten Häusern ansehen kann, die dort auch herumstehen. Vorher hatten dort schon eine Schule und Wohngebäude gestanden, die der evangelischen Kirche gehörten. Neben dem großen, mit Holz ausgekleideten Innenraum der Kreuzkirche, die wie fast alle Kirchen in Istanbul eine Hallenkirche ist und etwas sehr schmuckloses wilhelminisch-protestantisches hat, gibt es auf dem Grundstück noch jede Menge Anbauten und Räume und auch einen ganz wunderbaren Garten mit großen Feigenbäumen, in dem wir bei gutem Wetter nach dem Gottesdienst auch schon mal gesessen und Tee getrunken haben.1884 kam die Orgel in die Kirche, eingebaut von einer Firma aus Sachsen, nachempfunden der Orgel von Thomaskantor Bach. 1889 dann besuchte der deutsche Kaiser, der gut Freund mit dem Sultan war (ich berichtete schon darüber) die Kirche. Eine*n Organist*in gibt es nicht hier in Istanbul, die evangelischen Auslandsgemeinden müssen sich selbst finanzieren. Wie sie das hinbekommen, ist mir allerdings ein Rätsel, die Gemeinde ist in den letzten acht Jahren, seit den Protesten am Gezipark, zunehmender Ausländerfeindlichkeit und den Terroranschlägen auf deutsche Touristen stetig geschrumpft. Als ich heute auf die Kirche zugehe, steigen ein paar schwarz gekleidete Menschen eine Treppe hoch. Das sind die Armenier, die in die armenisch-protestantische Kirche gehen, die sich gleich neben der deutsch-protestantischen Kirche befindet. Auch dort gibt es eine Pastorin, wie ich weiß, weil ich einmal aus Versehen in diese Kirche geriet, ich hatte geglaubt, es wäre dort auch ein Zugang zur Deutschen Kirche. Die armenisch-evangelische Kirche in Istanbul ist übrigens die älteste armenisch-evangelische Kirche der Welt. Dass es in Armenien schon lange auch Protestanten (und nicht nur armenisch-apostolisch-orthodoxe) gibt, kann man dem Buch von Franz Werfel „Die 40 Tage des Musa Dagh“ entnehmen, das zur Zeit des Genozids an den Armeniern im Jahr 1915 spielt. Hier wird u.a. von einem protestantischen Pastor berichtet, der ein Heim betreut, in dem Waisenkinder untergebracht waren, die auch deportiert wurden. Denn die türkischen Verfolger machten bei der Religion der Armenier keinen Unterschied, alle Armenier, egal ob katholisch, evangelisch oder orthodox, wurden vertrieben, „umgesiedelt“ und ermordet. Genauso war es übrigens auch bei den Griechen und den Assyrern. Die übrigen Christen allerdings, die aus dem Westen, die Italiener, Franzosen und erst recht die Deutschen, die ja Bündnispartner der Türken waren, wurden vollkommen in Ruhe gelassen. Für die Armenier war der Beitritt zum Katholizismus oder Protestantismus vor 1914 auch deshalb von Vorteil, weil diese Religionsrichtungen sehr gute Schulen hatten und die Kinder dieser Schulen ins Ausland geschickt wurden, was der Weg zu späterem beruflichen Erfolg war. Vom Genozid weiß Reyhan wie die meisten Türken und Kurden allerdings wenig bis gar nichts, darüber wurde und wird hier nicht gesprochen, sagt sie mir. Dass in der deutschen Kirche nun eine Pastorin ist, findet sie ganz außerordentlich und es gefällt ihr. Aber gehört hat sie davon, dass es weibliche Pastorinnen gibt, auch noch nicht. Und dass Gott hier nicht nur in der männlichen sondern auch in der weiblichen Form bezeichnet wird, erkläre ich ihr auch, bevor ich mich an die Orgel setze. Es ist das erste Mal seit 11 Jahren, dass ich wieder im Gottesdienst Orgel spiele, zuletzt habe ich es in Mallorca gemacht, wo ich einige Jahre in spanischen Kirchen die Orgel spielte. Damals schon hatte ich Hilfe von meinem Sohn, der derzeit hier zu Besuch ist und deshalb auch heute neben mir sitzt und die Register ziehen wird, bei deren Ausarbeitung er mir bei der gestrigen Probe geholfen hat. Aber jetzt muss er erst einmal um die Empore herumlaufen und die Glocke läuten. Denn die Glocke wird noch von Hand geläutet und nicht zu lange, bitte, sagt die Pastorin. Die Muslime ringsum sollen sich ja nicht genervt fühlen…Dann nimmt der Gottesdienst seinen Lauf, ich spiele Orgel, mein Sohn zieht die Register und Reyhan, die mit uns auf der Empore sitzt, kommt von Zeit zu Zeit, um mir begeistert auf die Schulter zu klopfen. Nach einer Stunde ist der Gottesdienst zu Ende und wir gehen nach unten in den Gemeindesaal. Reyhan ist begeistert. Das war so schön, sagt sie, nächsten Sonntag will ich wieder mitkommen. Wir trinken Tee und essen Stollen, den jemand aus Deutschland mitgebracht hat. Jedes Kind bekommt heute eine Kerze in von den beiden Pastorinnen selber gebastelten Papiersternen. Gestern Abend habe ich sie noch in der großen Küche sitzen und falten sehen. Abends auszugehen ist in ihrem Viertel Tarlabasi, wo Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution nachts die Straßen beherrschen, fast unmöglich. Auch die Kerzen, die es hier in der Kirche gibt, sind aus Deutschland, es ist schwer, in Istanbul Kerzen zu bekommen, ich musste lange suchen und fand sie schließlich nur im Rossmann. Oft sind nicht viele Gemeindemitglieder in der Deutschen evangelischen Kirche, aber heute ist die Kirche voll, denn es wird zusammen mit den Katholiken gefeiert; die Ökumene wird in Istanbul, wo es sogar ein Konstantinopler Glaubensbekenntnis gibt, tatsächlich praktiziert. Dass ich das ganz gut finde, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen, als der junge Mann in der Lederjacke, der mir gegenübersitzt und mit dem wir eben noch über die Feinheiten der türkischen Sprache diskutiert haben, sich als der Pfarrer der katholischen Gemeinde entpuppt. Es gibt Unterschiede, aber wir müssen zusammenhalten, sonst wird es nicht gut ausgehen mit unseren Kirchen, sagt er und wir stimmen ihm zu. Hier, in der christlichen Diaspora in der Stadt und dem Viertel, in dem vor hundert Jahren noch sehr viel mehr Christen als Muslime wohnten und bis heute viel mehr Kirchen als Moscheen sind, wissen nicht nur die evangelischen Armenier von nebenan sehr genau, was das bedeutet. Besonders gut gefällt mir, sagt Reyhan, als wir dann gehen und die lange Holztreppe zur Straße hinuntersteigen, dass ihr Deutschen hier alle so ruhig seid. In Istanbul ist immer überall Hektik und Stress, aber ihr habt irgendwie die Ruhe weg. Wer von Euch meine Blogs mag und jetzt vor Weihnachten etwas spenden möchte an das Obdachlosenrestaurant von Ayse, kann das gerne tun. Ich leite Überweisungen auf mein Konto (IBAN: DE50370100500005305507, BIC:PBNKDEFF) persönlich an sie weiter, sie kann jeden Pfennig gebrauchen!