Wir fliegen nach Konya, weil wir uns die berühmten Derwischtänze ansehen wollen. Von dem kleinen Flughafen der Millionenstadt Konya (1,3 Millionen Einwohner), an dem pro Tag nur drei Flugzeuge landen und abfliegen und der ansonsten als Natostützpunkt dient aus, fahren wir mit dem Bus in die Innenstadt. Auf dem Weg dorthin kommen wir vorbei an einem Viertel voller Nachtclubs, fahren dann durch Viertel voller alter Hochhäuser und stehen nun vor unserem Hotel. Das befindet sich gegenüber einer großen Moschee, die an die Sultansmoscheen in Istanbul erinnert. Die sind wie diese hier fast alle der Hagia Sophia nachempfunden. Als erster hat Sinan, der berühmte Architekt Süleymans des Großen, Moscheen in diesem Stil gebaut. Vor uns geht ein winzig kleines Pärchen über die Straße. Die beiden Türken sind nur etwas über einen Meter groß. Ich muss denken, dass ich in Deutschland schon ewig lange keine so kleinen Menschen mehr gesehen habe. Gibt es sie dort nicht mehr? Es ist später Nachmittag und es wird hier in Anatolien früher dunkel als in Istanbul, das die westlichste türkische Stadt ist. Es ist dunkel und es regnet. Und Karten für den Derwischtanz gibt es nicht mehr, erfahren wir, als wir im Hotel nachfragen. Die seien ausverkauft. Wir machen uns dann trotz des Regens auf in Richtung des Mevlevi Kültür Merkezi, wo eine ganze Woche lang die Tänze aufgeführt werden und bekommen dort doch noch Karten, es gibt eine Abendkasse, die Tickets kosten 75TL, das sind ungefähr 3 Euro. Die Stadt ist plakatiert mit Plakaten, die auf die jedes Jahr im Dezember stattfindenden Feierlichkeiten anlässlich des Todestages von Rumi, dem sufistischen Derwischphilosophen, hinweisen. Dieses Jahr finden sie zum 749. mal statt. An seinem Todestag, dem 17. Dezember, wird es hier sehr voll sein. Die Feiern sind nur zwischen 1923 und 1954 ausgefallen. Seitdem werden sie auch nicht mehr in der Derwischloge von Rumi sondern in einer extra dafür gebauten Halle begangen. Wir sind schon eine Woche eher gekommen in die Stadt Konya, die als religiöseste Stadt der Türkei bekannt ist, als die Stadt, in der die regierende Partei AKP die meisten Wähler hat. Trotzdem sei Konya, und das weiß jeder in Istanbul, mit dem ich über Konya gesprochen habe, derjenige Ort, in dem der höchste Alkoholkonsum pro Kopf der Türkei ist. Dieses Jahr stehen die Feierlichkeiten anlässlich von Rumis Todestag unter dem Zeichen der Freundschaft. „Dost“ heißt „der innige Busenfreund“ und zu „Dostlaren“ sollen die Menschen werden, die Rumis wegen hierhergekommen sind, dazu fordern wenigstens die vielen Plakate auf, mit denen Konya plakatiert ist. Rumi rief insbesondere zu Toleranz zwischen den Religionen auf, Gebetsnische und Kreuz sollen nicht zu Feindschaft verleiten, sagte er, der auch in Klöstern betete. Konya ist übrigens wie alle Städte in der Türkei eine ursprünglich byzantinische Stadt und hieß auf griechisch „iconicum“, was von „Ikone“ kommt und sich u.a. darauf bezieht, dass aus der Stadt Konya so berühmte und später zu Ikonen gewordene Heilige kommen wie der hl. Timotheus und die hl. Thekla (das ist die, die ihres Christseins wegen in die Löwengrube geworfen, aber von den Löwen verschont wurde, an meinem Geburtstag ist ihr Namenstag). Beide hatten mit dem Kirchenvater Paulus zu tun, der auch nicht weit von hier geboren wurde und nach dem die einzig erhaltene Kirche in der Stadt benannt ist. Aziz Paulus heißt sie und ist römisch-katholisch, was auch sonst. Wäre sie armenisch oder griechisch-orthodox, wäre sie spurlos verschwunden, wie es mit den Kirchen der Armenier und Griechen geschah, von denen es hier sehr viele gab; der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung betrug bis 1915 dreißig Prozent. Dann wurden sie – bis auf die französischen Christen, die die St. Paul Kirche erbaut hatten – im Rahmen des Genozids vertrieben und ermordet. Konya war auch wegen seiner starken Derwischorden schon im osmanischen Reich eine Hochburg des Islams. Als Atatürk nach Ende des 1. WK an die Macht kam, versuchte er, das einzudämmen. Als er 1923 die türkische Republik ausrief, erließ er eine Reihe von Befehlen, die u. a. die Verknüpfung von Herrschaft und Religion aufheben sollten. Dazu gehörte, dass er die Derwischorden verbot. Danach wurde Konya zwar nicht weniger religiös, aber die Derwische spielten keine Rolle mehr im öffentlichen Leben. Aber jetzt kehre ich noch einmal zurück zur Stadt Konya. Wir haben sie einen Tag lang durchlaufen, haben uns viele Moscheen (die älteste, eine Seldschukenmoschee ist aus dem 13., die neuesten oft erst aus dem 20. Jhd.) angesehen und waren auch am Grab von Rumi und haben darüber gestaunt, wie viele versunken wirkende Gläubige aus aller Herr*innen Länder mit nach oben ausgestreckten Händen vor Rumis Sarkophag standen, der imposant und riesig wirkte neben all den kleinen Särgen, die dort sonst noch so herumstanden. Aber warm wurden wir nicht mit der Stadt, in der nichts wirklich Altes zu finden ist, in der dort wo die Altstadt gewesen sein muss, riesige planierte Flächen sind, auf denen neue gigantische Moscheen gebaut werden. Die alten Moscheen sind so aufgeputzt, dass sie auch aussehen wie neu, ähnlich ist es ja auch in Istanbul. Und um die Moscheen herum ist alles ein wenig Disneyland, aufgehübscht, glatt gemacht, Blumenbeete, gestutzte Bäume. Rund um das Mausoleum von Rumi sind Museen mit Panoramen von Konya, das auf einer Hochebene liegt, umgeben von seltsam zackigen Hügeln. Die ganze Gegend um das Gelände, auf dem das Mausoleum steht, ist mit spiegelglattem Marmor gepflastert, Springbrunnen sprudeln und daneben ist ein gigantischer Friedhof mit den Gräbern der Gläubigen, die nah bei ihrem verehrten Sufifreund liegen wollen, damit sie bei ihm sind, wenn der Prophet am jüngsten Tag zur Auferstehung ruft. Nur ein winziges Grab steht alleine und verloren auf einem der vielen abgesperrten Bürgersteige rund um das Mausoleum. Dort liegt Semi begraben, er war ein Dichter, lesen wir. Er lebte von 1777 bis 1834. Erstaunlicherweise ist Konya eine richtige Fahrradstadt, es gibt jede Menge Fahrradwege, auf denen Menschen mit uralt und klapprig aussehenden Fahrrädern fahren. Der Öffentliche Nahverkehr ist sehr gut ausgebaut, es gibt eine Straßenbahn, die ursprünglich mit ausgemusterten Triebwagen der KVB in Gang gesetzt wurde. Heute sind es neue ultramoderne Wagen, die die vielen Menschen transportieren, die vom Zentrum nach draußen, in die riesigen Wohngebiete fahren. Der sich über ein großes Gebiet erstreckende Basar von Konya ist jetzt noch in heruntergekommenen Häusern aus den siebziger und achtziger Jahren untergebracht, aber inzwischen wird auch hier schon wieder viel gebaut, damit er demnächst in ganz einheitlich aussehenden neuen Häusern untergebracht ist. Alles wird gleich gemacht, Spuren der Geschichte verwischt. Aber der schöne Schein trügt. Gleich dahinter sieht man noch schäbige ärmliche Straßen, auf denen Bettler mit kleinen Kindern sitzen und kaum fährt man aus dem Zentrum heraus, ist die Armut besonders zu spüren. Nach Sille sollen wir fahren, das sei so schön, sagen sie uns in der Touristinfo am Mausoleum, wo wir uns am nächsten Morgen erkundigen, was wir denn noch sehen könnten außer den Moscheen und Museen rund um die Moscheen. Sille, so lese ich, ist ein ehemals griechisches Dorf, in dessen Kloster Rumi öfter war und betete. Er bat seine muslimischen Mitbrüder, die er gut kannte, von denen er wusste, wie schäbig sie mit seinem Derwischfreund Schems umgegangen waren, der ihm den Tanz beigebracht hatte, darum, die Griechen in Ruhe zu lassen. Das taten sie auch, bis 1923. Da wurden die Griechen, die eigentlich keine Griechen sind, sondern Nachfahren der Byzantiner, die hier seit 2000 Jahren lebten und Rum hießen, nach Griechenland expediert. Ihr Dorf, das nach der Vertreibung sofort von muslimischen Türken besetzt wurde, ist idyllisch gelegen, viele Häuser zerfallen, in den Ruinen jede Menge Kaffees und Andenkenläden untergebracht. Oben am Berg sieht man die Höhlen, in denen schon steinzeitliche Menschen gelebt haben, vor einer Höhle findet gerade eine Beerdigung statt, die Männer wiegen sich im Gebet. Die Meryem Ana Kirche, der einzige Bau aus byzantinischer Zeit, der noch gut erhalten ist, wurde zum Museum umgebaut. Wir trinken Tee und essen einen Saz Börek, der uns hervorragend schmeckt und in Istanbul Gözleme heißen würde. Die lustigen Bäckersfrauen mit ihren Pluderhosen lassen sich unsere Namen geben, nennen mich Tatli (Süße) und zeigen uns, wie sie den Börek in ihrem großen Holzofen zubereiten. Das ist schön. Dass in dem sprudelnden Fluss, der das einstmals griechische Dorf umgibt, Springbrunnen sprudeln, ist nicht wirklich schön; auch in Sille wird vor der Disneysierung nicht halt gemacht. Wir fahren am späten Nachmittag wieder zurück, mit dem öffentlichen Bus, der 2,30 TL kostet, das sind ca. 20 Cent. Als wir am Mevlanamausoleum ankommen, wo unser Hotel ist und die Straße entlanggehen, an vielen Menschen vorbei, die hier, wo um sieben Uhr Abends die Läden zumachen, noch einkaufen, sage ich zu meinem Sohn: Hier sind die Türken genauso, wie ich sie aus Deutschland kenne. Sie haben dieselben Klamotten an, sehen so aus und gehen auch so wie die „typischen“ Deutschtürken und sie haben dieselbe Art, mich anzusehen. Hier fühlen wir uns besonders groß und fremd. In Istanbul ist es hingegen ganz anders. Dort sind die Menschen so, wie ich sie aus Westeuropa kenne und man wird auch nicht besonders bestaunt. Ich stehe an der Straße und gucke zur Moschee, in der eben der Muezzin anfängt zu singen. Der Muezzingesang, das muss ich neidlos anerkennen, ist hier schon noch einmal schöner als in Istanbul. In diesem Moment sehe ich drüben einen winzigen Mann über die Straße gehen und in der Moschee verschwinden..