Ayse Türkükcü wurde als 9jährige über Monate hinweg von ihrem Onkel vergewaltigt und später von ihrem Mann an ein Bordell verkauft. Sie stammt aus Gaziantep, einer Stadt im Südosten der Türkei. Später dann gelang es ihr, der Zwangsprostitution zu entkommen und nach Deutschland zu fliehen, wo ihr Vater seit den sechziger Jahren als Gastarbeiter lebte. Sie erzählte mir, dass es in der Türkei immer noch 62 (!) „staatliche“ Bordelle gebe, in denen offiziell der Prostitution nachgegangen wird. Sie selber kämpft seit Jahren dafür, dass man die Prostitution als das bezeichnet, als was sie es aus eigener Erfahrung kennengelernt habe: Als Sklavenarbeit und Vergewaltigung. Sie war nach ihrer Flucht aus dem Bordell ein paar Jahre in Berlin, lernte in dieser Zeit fließend Deutsch und eröffnete, als sie in die Türkei zurückkam, ein Lokal mit dem Namen Hayat (Heimat). Zur selben Zeit schrieb sie auch mithilfe eines Ghostwriters ihre Biographie mit dem Titel „Hayatsiz“ (Heimatlos). Ayse Türkükcü heißt gar nicht Ayse. Das ist der Name, der ihr im Bordell gegeben wurde, in Wirklichkeit heißt sie Seda. Und ihr Nachname, so erzählt sie mir, bedeute Spucker. Das käme daher, dass ihr Großvater ein bedeutender muslimischer Hodscha, aber auch ein Heiler gewesen sei und mit seiner Spucke jede Wunde habe heilen können. Sie macht es mir vor, zeigt mir eine Stelle auf ihrem Arm, die entzündet gewesen sei. Kaum sei die Spucke des Großvaters darauf verrieben worden, sei die furchtbare Rötung sofort zurückgegangen. Zu dieser Zeit gab es in der Türkei noch keine Nachnamen und als um 1930 herum alle Türken Nachnamen bekommen mussten, wurde für ihren Großvater dieser Ehrenname gewählt, der mit seiner Spucke zu tun hatte. Diese Art Medizinmänner waren im Orient in allen hier vertretenen Religionen früher sehr verbreitet. Mit ihrer Familie hat Ayse heute keinen Kontakt mehr, sie ist ihrer Vergangenheit wegen von ihnen verstoßen worden. Nur zum Grab ihres Vaters, den sie sehr verehrt, fährt sie noch. Kennengelernt habe ich sie über eine Freundin, die mir von ihrer Geschichte erzählte und davon, dass Ayse seit fünf Jahren in ihrem Café an Obdachlose Essen verteilt. Kaum habe ich sie kennengelernt, frage ich schon, ob sie Hilfe gebrauchen kann. Gerne, sagt sie. Komm morgen Abend vorbei, dann kannst Du uns behilflich sein.
Jeden Abend um 20h kommen obdachlose Menschen zu ihrem Café, um sich eine warme Mahlzeit abzuholen. Sie verteilt ca. 250 Mahlzeiten, erfahre ich durch einen Bericht im Fernsehen auf RB, der von ihr und der Obdachlosigkeit in der Türkei handelt. Da in letzter Zeit auch in Köln so viele Obdachlose auf den Straßen sind, fallen sie mir hier in Istanbul wenig auf. Nur die elendsten Gestalten bemerke ich noch. Sie liegen am Rande, oft dort, wo viele Menschen vorübergehen. Die meisten betteln auch nicht. Sie liegen zerlumpt auf dem Boden, manchmal denke ich, dass sie tot sind. Auch hier, wie auch in Köln, sind es fast ausschließlich Männer. Gestern bin ich abends ins Hayat gegangen, um mit anzupacken. Außer mir waren dort noch ein paar junge Frauen, die junge Lehrerin Demet, die Kopftuch trug und islamische Kleidung und die „Finanzen“ (Wirtschaft) an einer Schule unterrichtet und zwei ihrer Schülerinnen, die sie mitbrachte. Alle drei sprachen kein Englisch. Außerdem war dort Edda, eine Pharmaziestudentin, mit ihrem Freund. Und eine Frau in meinem Alter, die Abla genannt wurde (ältere Schwester) und die mir hinterher in tadellosem Englisch erzählte, sie sei Bankerin und würde tagsüber in einer Bank arbeiten und habe u.a. in Boston studiert und viel in Berlin zu tun gehabt. Und jeden Abend nach der Arbeit ginge sie ins Hayat, um zu helfen. Dann waren da noch drei junge Tierärzte, die aber nur zu Beginn da waren, um Stühle nach draußen zu stellen, auf denen das Essen ausgelegt wurde. Und Ayse, die aber schon bald nach Beginn ging. Sie ist oft damit beschäftigt, Sponsoren zu finden, erzählte sie mir. Dafür geht sie auf Messen und in die Hotels, um dort für Unterstützung zu werben. Der Staat tue nichts für die Obdachlosen, sagte sie mir, eine staatliche Essensausgabe gäbe es nicht. Ganz im Gegenteil würden sie bei der Stadt behaupten, es gäbe keine Obdachlosen, denn es hätten sich bei der Stadt keine registiert. Um kurz nach sieben Uhr wurden die Tische abgedeckt und kam langsam Bewegung in unsere Gruppe. Wir banden uns Schürzen um und wuschen uns die Hände. Nachdem wir unter Aufsicht eines sehr strengen Mannes zwei riesige Säcke Brot aufgeschnitten hatten, wurde das Essen auf lange Tische gestellt. Ein riesiger Topf mit Bulgur, ein ebenso riesiger Topf mit Kichererbsensuppe mit Hackfleisch, ein großer Topf mit einer braunen Masse, die sich als Helva mit Zimt entpuppte und für die ich zuständig war. Alles war frisch gekocht und mit Gewürzen aus Ayses Heimatstadt Gaziantep gewürzt, sie will das Essen lecker zubereiten und ein bisschen scharf soll es auch sein, sagte sie, damit die Menschen, die die kalte Nacht überstehen müssen, es wenigstens im Bauch warm haben. Sie wisse aus eigener Erfahrung, wie wichtig dass sei, denn sie selber sei auch ein paar Jahre obdachlos gewesen. Jeder von uns hatte heute Abend seinen Aufgabenbereich, als es jetzt ans Einpacken des Essens ging, das in Plastikbehälter verpackt und in Tüten getan wurde. Die Lehrerin füllte erst den Bulgur ein, eine andere Frau die Suppe, ich gab das Helva dazu, die Frau neben mir packte das Paket, nachdem sie es verschlossen hatte, in eine Tüte, die Schülerin daneben gab ein Stück Brot dazu, die nächste ein Paket Wasser und verschloss die Tüte… Als wir in Akkordarbeit die 250 Tüten fertig hatten, die jetzt überall im Raum herumstanden, stellten wir uns an der Tür auf. Ab 20h kamen dann die obdachlosen Männer aus der Dunkelheit Richtung Taksim. Auch ein Deutscher käme manchmal, der sei aber verwirrt, sagte mir die Bankerin. Ayse hatte schon mit ihm gesprochen, er sei angeblich seit 2002 in der Türkei und könne aus irgendwelchen Gründen nicht in die Deutsche Botschaft gehen, wo man ihm vielleicht geholfen hätte. Aber der Deutsche kam heute nicht. Sie traten aus dem Dunklen, blitzschnell, diese Männer, die irgendwie alle gar nicht wie Obdachlose aussahen. Sie sahen mich nicht an, als ich ihnen ihre Tüte übergab und „Afiyet Olsun“ sagte, wie man es mir aufgetragen hatte, dass ich es tun solle. So blitzschnell wie sie hier waren, waren sie auch wieder fort. Sie schämen sich, sagte mir die Bankerin. Der strenge Mann stand neben mir, während ich verteilte, er kontrollierte alles und kannte seine Klientel und wenn er jemanden nicht kannte, nahm er ihn beiseite, um mit ihm zu reden. Innerhalb von 20 Minuten waren die 250 Mahlzeiten verteilt, ein junger Mann mit Rastafrisur, der erst um 20.30h kam, zog ohne Mahlzeit und mit enttäuschtem Gesicht wieder von dannen. Anschließend räumten wir die Stühle vor der Tür wieder ein und putzten noch den Raum. Dann hielt der strenge Mann, der uns zur Arbeit angetrieben hatte und alles kontrolliert, noch einen kleinen Vortrag, indem er darüber sprach, wie wertvoll unsere Arbeit doch sei und wie gut, dass die junge Generation – damit meinte er die beiden Schülerinnen – sich auch daran beteilige. Und ganz zuletzt machten wir noch ein Foto. Alle standen, aber ich setzte mich auf einen Tisch. Damit ich nicht so riesig über die anderen hinausragte….
…wer von Euch Lesenden sich mit einem Beitrag an Ayses Projekt Hayat beteiligen möchte, kann das gerne über meinen Paypalaccount tun, ich werde es dann an Ayse weiterleiten. Über meine Mailadresse könnt ihr es überweisen: mail@sabineschiffner.de oder an DE50370100500005305507 und bitte als Kennwort Hayat dazuschreiben.