Nachdem ich letztes Jahr vor allem mit Karl May durch Istanbul gegangen bin, habe ich mir dieses Jahr ein anderes Buch mit hierhin genommen, das auch von einem deutschsprachigen Autor ist und einige Passagen enthält, die in Istanbul spielen. Es handelt sich um Franz Werfels 1928 geschriebenen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. In ihm geht es um die Rettung von 4000 Armeniern, die sich während des Genozids des Jahres 1915 auf einen Berg im Süden der Türkei gerettet hatten und nach 40 Tagen von französischen Kriegsschiffen entdeckt und in Sicherheit gebracht wurden. Der Roman basiert auf wirklichen Geschehnissen, sein jüdischer Autor beschreibt darin aus der Rückschau des Jahres 1928 die Ereignisse von 1915, die an den späteren Holocaust in Deutschland denken lassen. Die Stellen, in denen es um Istanbul geht, handeln vom vergeblichen Versuch des deutschen Pastors Johann Lepsius, beim damaligen Kriegsminister Enver Pascha um die Rettung der Armenier zu bitten. Er hatte zuvor in Deutschland bei höchsten Stellen interveniert und war, als er auch in Berlin – die Deutschen waren damals Verbündete der Türkei – nicht erfolgreich war, wieder in die Türkei zurückgereist. Das im Buch von Werfel wiedergegebene Gespräch zwischen Lepsius und Enver beruht übrigens auf den Gesprächsprotokollen dieses Treffens, die Lepsius später angefertigt und dem Auswärtigen Amt übergeben hat. Lepsius übernachtet im Roman während seines Aufenthaltes in Istanbul in einem Hotel an der Istiklal, der Straße, die sich nur ca. 70 m von meiner Wohnung entfernt befindet und auf der am letzten Sonntag das Bombenattentat stattgefunden hat, von dem immer noch nicht klar ist, wer es letzten Endes begangen hat. Bevor ich auch herumspekuliere und die Aussagen meiner vielen kurdischen Freunde wiedergebe, die alle sagen, dass das nicht von Kurden verursacht worden sein kann, verweise ich auf den letzten Artikel von Bülent Mumay in der FAZ, seinen Brief aus Istanbul: „Ein Anschlag, so blutig wie seltsam…“

Es werden mal wieder Buhmänner gesucht. Zu Anfang des letzten Jahrhunderts waren die Armenier, von denen es damals noch 2 Millionen in der ganzen Türkei gab und heute nur noch einige wenige zehntausend und diese auch nur noch in Istanbul, die Buhmänner hier in der Türkei. Noch immer behaupten selbst intelligente gebildete Türken, die ich hier in Istanbul kennenlerne oder treffe, das, was die offizielle türkische Geschichtsschreibung seitdem berichtet: Die Armenier seien selber schuld an ihrer Vertreibung, die doch nur eine Umsiedlung gewesen sei. Sie hätten sich schließlich mit den Russen verbündet und seien sozusagen Feinde im eigenen Land gewesen. Dass davon jedoch nicht die Rede sein kann, berichtet schon Werfel in seinem großartigen Roman. Und auch, dass die Armenier vor allem verfolgt wurden, weil sie eine andere Religionsangehörigkeit hatten, nämlich Christen waren und auch, weil viele von ihnen an wichtigen Schaltstellen von Kultur und Wirtschaft saßen. Sie wurden samt und sonders enteignet. Entschädigungen oder Rückgaben fanden nie statt. Ihre Kirchen, die bis auf wenige Ausnahmen nur noch in Istanbul stehen, sind heute hinter hohen Mauern verborgen. Aber ich kehre zurück zur Istiklalstraße und zum Hotel, in dem Lepsius – ob er nun wirklich dort übernachtet hat oder nicht, konnte ich nicht herausfinden – im Roman übernachtet. Dieses Hotel gab es nämlich tatsächlich, es hieß Hotel Tokaniyan und war eines der beiden berühmtesten Luxushotels im Vorkriegs- Kriegs- und Republikgründungskonstantinopel, das erst später in Istanbul umbenannt wurde. Es diente ebenso wie das noch heute existierende und gleichfalls berühmte Grand Pera unter anderem dazu, die Gäste des Orientexpress aufzunehmen und zu bewirten, die mit dem Zug am Bahnhof Sirkeci, unten am golden Horn, ankamen und dann nach oben auf den Hügel von Beyoglu, wo die beiden Hotels standen, mit Sänften getragen wurden. Der Gründer dieses Hotels hieß Mıgırdiç Tokatlıyan und war ein armenischer Gastwirt. Das Hotel hatte er 1895 auf dem Grundstück der benachbarten armenischen Kirche Üc Horan, die noch heute dort steht und gerade frisch renoviert wurde, errichtet. Zuvor war auf diesem Grundstück erst ein Theater, das Orienttheater gewesen, später war dort ein Gasthaus, das Tokatliyan hatte erbauen lassen, anschließend dann errichtete er das Hotel, das 160 Zimmer, prächtige Ballsäle, eine riesige Lobby und verschiedene Restaurants beherbergte. Es entwickelte sich bald zu einem Anziehungspunkt der Boheme und der Politik. Unter anderem Josefine Baker, Lawrence von Arabien und Leo Trotzky übernachteten hier. Aber in der Türkei wurde es vor allem berühmt durch Mustafa Kemal, der später Atatürk genannt wurde und dessen Lieblingshotel es gewesen ist. Zahlreiche Anekdoten sind überliefert, in denen von ihm und Begebnissen im Tokatliyan berichtet wird. Im Buch von Werfel ist nur kurz vom Hotel  Tokatliyan die Rede „…Johann Lepsius schleicht noch immer durch die Gassen Stambuls. Es ist längst schon Nachmittag. Das Mittagessen ist versäumt. Der Pastor wagt sich nicht nach Hause, ins Hotel Tokatlyan. Ein armenisches Haus. Schreck und Niedergeschlagenheit herrscht dort, von Wirt und Gästen angefangen bis zum letzten Kellner und Liftjungen. Sie kennen seine Wege, sie wissen von seinem Unterfangen. Kehrt er heim, so saugen alle Augen an ihm….“

Das Hotel war schon früh Ziel von Angriffen antiarmenischer Progrome, die nach dem April 1915 begannen, als die armenischen Notablen Istanbuls, die Priester, Ärzte und Rechtsanwälte, die Künstler und Schriftsteller festgenommen und bis auf wenige Ausnahmen sofort umgebracht worden sind. Sein Gründer und Namensgeber Mıgırdiç Tokatlıyan hatte sich auch deshalb schon kurz nach Kriegsbeginn nach Frankreich aufgemacht und ist nie wieder nach Istanbul zurückgekehrt. Er musste die Auslöschung seines Volkes nicht vor Ort mitbekommen. Sein Schwiegersohn, ein ehemaliger Türsteher aus Serbien, der Tokatliyans Adoptivtochter Mercedes geheiratet hatte, übernahm das Hotel nach Kriegsende. Später ging es dann an einen türkischen Besitzer über. Nach Ende des zweiten Weltkrieges stand es lange leer und verfiel. Sein prächtiger Kuppelturm wurde abgetragen. Auch heute noch ist es in einem halbleeren, sehr düsteren ungepflegten Zustand, dieser einstige Prachtbau, der immer noch so prominent an der Istiklal steht, genau gegenüber vom Renomeegymnasium Galatasaray. Gestern bin ich vorbeigegangen. Hätte ich nicht in Werfels Buch darüber gelesen, wäre es mir nie aufgefallen. Das einzige Zeichen seiner alten Größe ist eine alte Inschrift über dem ehemaligen Haupteingang, der heute in einen Handyladen verwandelt wurde, und auf der derjenige, der sich dafür interessiert „Hotel Tokatliyan“ lesen kann. Ansonsten deutet nichts mehr auf die alte Größe hin. Jede Menge leerstehende Ladenlokale im Inneren, dunkle lange Flure, Treppen, die ins Nichts gehen. Die einstige Schönheit, von der ich allerdings keine Fotos im Internet fand und der damals vorherrschende Wille zur Dekoration, den man heute noch wunderbar im Grand Hotel de Pera sehen kann: Hier im ehemaligen Tokatliyan wurde das alles mit Platten und Jalousien verhängt, unkenntlich gemacht. Dadurch ist noch ein wichtiges Stück armenischer Geschichte in Istanbul, von der die heutigen Türken nichts wissen wollen, dem Vergehen und Vergessen anheimgefallen.