Es ist 17.45h. Seit einer Stunde fliegt ein Hubschrauber nach dem anderen über meine Wohnung. Das ist ein schlechtes Zeichen. Ich weiß ja, weshalb sie fliegen. Ich bekomme pausenlos beunruhigte Nachfragen per Whatsapp, von Freunden aus Deutschland und der Türkei. Ob ich okay sei. Es gibt eine Nachrichtensperre. Ich lasse noch einmal Revue passieren, was vorhin passiert ist. Um 15.30h géhe ich aus dem Haus, durch die Atlaspassage, überquere die Istiklalstraße, die Haupteinkaufsstraße, die wie immer an Sonntagen vor allem voller Arabischer Touristen ist und betrete auf der anderen Seite die Haleppassage. Dort fahre ich dann mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock zu einer Tanzschule, wo ich Tango tanze. Das heißt, ich nehme Tangounterricht. Der türkische Tanzlehrer, der ein gelernter Ingenieur ist und drei Jahre bei Audi in Ingolstadt war, bis er seine Berufung zum Tangolehrer bekam, wartet schon. Es ist erst meine zweite Tanzstunde heute, die erste Stunde vor ein paar Tagen hat mir Spaß gemacht. Seine Freundin ist auch da, mit ihr tanze ich auch manchmal, damit er zugucken und uns von außen korrigieren kann und auch sein zehnjähriger Sohn ist bei uns. Der ist zu Besuch aus Antalya gekommen, es sind eine Woche Schulferien derzeit, und er spricht sogar ein wenig Englisch. Wir fangen an zu tanzen, machen dann gegen 16h eine Pause, trinken ein Glas Zitronenlimonade und tanzen dann wieder weiter. Auf einmal ist ein lauter Knall zu hören. Wir halten im Tanz inne, mein Tanzlehrer guckt erschrocken zu seiner Freundin hin. Eine Bombe, eine Bombe, sagen sie. Mir ist der Knall gar nicht so besonders laut vorgekommen, ich denke nicht an eine Bombe, auch wenn ich weiß, dass es aus dem Grunde keine Mülleimer und Briefkästen in Istanbul gibt, weil dort jemand eine Bombe verstecken könnte. Aber ich habe das immer für Panik gehalten. In Köln gibt es auch manchmal einen lauten Knall, habe ich eben gerade gedacht, ohne dass das jedoch je eine Bombe war. Jetzt jedoch sehen wir vom Fenster aus in ca. 100 Meter Entfernung Richtung Taksim dunklen Rauch auf der Istiklal und Menschen, die in unsere Richtung rennen. Dann beruhigt es sich aber wieder, der Rauch verschwindet und es ist alles wie normal, außer dass vielleicht etwas weniger Menschen dort unten sind als sonst, aber auch das kann man nicht genau sagen. Jedenfalls scheint weiter scheint normaler Einkaufsbetrieb zu sein, die Menschen schlendern wie zuvor. Komm, wir tanzen noch ein wenig, sagt mein Lehrer und zieht mich wieder auf die Tanzfläche. Ich habe aber doch das Gefühl von der sinkenden Titanic, sage ich, als die Tangomusik wieder losgeht. Er lacht. Wir tanzen, müssen aber nach wenigen Minuten wieder aufhören, weil er einen Anruf bekommt. Es hat Tote gegeben, sagt er, nachdem er aufgelegt hat. Wir gehen wieder zum Fenster. Draußen wirkt alles immer noch halbwegs normal. Sirenen sind nicht zu hören, Krankenwagen fahren nicht vorbei. Einen Bombenanschlag hat es hier in Istanbul lange nicht mehr gegeben, sagt der Tanzlehrer. Der letzte war 2016, damals wurde eine Gruppe deutscher Touristen vor der Hagia Sophia in den Tod gerissen. Und wenig später sind doch hier gegenüber auch ein paar Menschen gestorben, Israelis, sagt seine Freundin, vor der Atlaspassage, gleich gegenüber. Jetzt gucke ich mit anderen Augen auf die Atlaspassage, durch die ich jeden Tag gehe. Die werde ich so schnell nicht mehr betreten, nehme ich mir vor. Zehn Minuten sind inzwischen seit dem lauten Knall vergangen. Jetzt endlich kommen Sirenen näher, vereinzelte Krankenwagen, Polizeiwagen, rasen über die Istiklal.  Inzwischen haben einige Geschäfte schon die Jalousien heruntergelassen, die Besitzer stehen vor der Tür, nach und nach sind immer weniger Menschen auf der Istiklal, aber es sind schon noch hunderte unterwegs, die völlig unbesorgt aussehen und teilweise in Richtung des Ortes gehen, wo die Bombe explodiert ist, er ist ja nur ca. 100 Meter entfernt, wir sehen dort jetzt blinkendes Blaulicht. Inzwischen gehen schon pausenlos Anrufe für die Tanzlehrer ein. Es soll eine Kofferbombe gewesen sein. Ich stehe am Fenster und gucke und packe dann gegen 16.35 meine Sachen, 25 Minuten sind seit dem Knall vergangen. Ich will nach Hause. Als ich dann gehe, überlege ich, ob ich mich denn überhaupt trauen kann, die Istiklal zu überqueren und nicht doch besser hier bleiben sollte, in der großen Wohnung, in Sicherheit. Aber es bringt ja doch nichts, ich muss nach Hause. Unten steht eine Bekannte an ihrem Schmuckstand und schaut ernsten Blickes in ihr Handy. Weißt du was passiert ist, frage ich. Sie sagt: Schau. Und zeigt mir ein Schwarzweißfotos, auf dem man Menschen am Boden liegen sehen kann. Es ist direkt beim Cottongeschäft. Um uns herum hat sich schon eine Schar von arabischen Touristen gebildet, die auch wissen wollen, was los ist. Ich gehe weiter, überquere die Istiklal und durch eine schmale Seitenstraße, in der immer sehr viele Araber shisharauchend sitzen, in Richtung meiner Wohnung. Die Straße ist inzwischen halbleer. Die Nachricht hat sich offenbar schnell herumgesprochen. Vor dem leergefegten Artistlercafé unterhalb meiner Wohnung stehen die Köche und Besitzer mit ernstem Gesicht. Ob ich wisse, was passiert sei. Ja, ich weiß es. Ich bringe meine Sachen in die Wohnung.  Als ich noch einmal rausgehe, um Wasser zu kaufen, weil ich vermute, dass ich heute Abend wohl nicht mehr rausgehen werde, laufen auf einmal sehr viele Menschen an mir vorüber. Was ist los? frage ich. Die Polizisten vermuten, es gäbe noch einen zweiten Anschlag und haben uns von der Istiklal verscheucht, rufen sie mir zu. Der Wasserverkäufer, der ein russischstämmiger Muslim und Erdoganfreund ist, wie ich von früheren Gesprächen her weiß, weiß auch schon Bescheid und weiß auch, wer die Schuldigen sind: Die Pkk, die Kurden, sagt er, immer die Kurden. Am Majestikcafe, gleich neben seinem Kiosk, sitzen meine Freunde, der Wahrsager und der Filmvorführer Ali Bey mit noch ernsterem Gesicht an Tischen vor dem Kino, an dem die Jalousien herabgelassen sind und gucken in ihre Handys. Sie laden mich zum Tee ein. Die Istiklal ist inzwischen komplett abgesperrt durch die Polizei, niemand wird mehr durchgelassen, wie wir von dort aus sehen können. Es hat Tote gegeben, viele Tote, sagen sie. Ich trinke den Tee, da räumen sie schon die Tische und Stühle rein und lassen die Jalousie komplett herunter. Das wird heute nichts mehr. Alles ist inzwischen voller Polizei. Also gehe ich zurück und noch einmal bei den kurdischen Köchen vom Artistlercafé vorbei, mit denen ich immer gerne ein Schwätzchen halte. Auch sie zeigen mir ein Schwarzweißfoto. Auf ihm kann man einen länglichen verbrannten Platz erkennen. Es ist direkt neben dem Mango passiert, sagen sie. Und dass es eine Nachrichtensperre gibt. Aber sie wissen schon, wer es gemacht hat. Auf keinen Fall die Kurden. Denn es war eine Attentäterin, eine dunkle Frau im Hidjab. Sie hat die Bombe dorthin gestellt. Sie hat 11 Menschen mit in den Tod gerissen. Alles Araber. Darunter waren auch zwei Kinder. Aber das Leben geht weiter, sagte einer. Die sind gestorben, aber wir leben. Und er lacht mich an, während er das sagt.