Heute fahren Zeynep und ich mit der Fähre von Besiktas nach Üzküdar und von dort aus gehen wir am Bosporus Richtung des Schwarzen Meeres bis nach Kuzguncuk, wo wir uns auf die Suche nach Spuren des türkischen Dichters Can Yücel machen wollen. Als erstes besuchen wir das Café am Hafen von Kuzguncuk, in dem er jahrzehntelang den Tag  mit einem Glas Orangensaft und einer Tasse türkischen Kaffees begann. Dass dieser Orangensaft eine Portion Wodka enthielt, verrät mir Zeynep, die immer wieder Überraschendes zu erzählen hat und auch, dass sie ihn 1993 interviewt habe, in ebenjenem Lokal, wo wir jetzt unter der großen Platane sitzen, nach der es benannt ist (Cafe Cinaralti). Sie sagt, das wäre das schönste Interview gewesen, das sie je geführt hätte. Am meisten beeindruckt habe sie, als er im Anschluss an das Interview auch noch ein Gedicht rezitierte. Sie sagt mir die ersten Zeilen: „Verstreut vor dem Anleger an der Anlegestelle. Erst der Rumpf, dann die Bilge. Und dann die unteren und oberen Decks…“ jeder Istanbuler erkennt daran unschwer die geliebten Fähren, die auch uns nach Üsküdar gebracht haben. 1993 arbeitete Zeynep für das Fernsehen, damals war das Alkoholtrinken wohl auch noch normal in dieser Gegend, wo man heute weder im Cafe Cinaralti noch in irgendeinem der vielen neuen Lokale des In-Viertels mehr alkoholische Getränke erwerben kann. Stattdessen sitzen die brav wirkenden jungen Menschen vor und in den gentrifizierten Läden bei Kuchen und Tee oder essen türkische Ravioli (Manti) und trinken dazu Wasser und Ayran. Als Zeynep den jungen Bedienungen im Cinaralti erzählt, dass sie Can Yücel, von dem einige eher unauffällige Fotos im Lokal aufgehängt sind, hier vor dreißig Jahren interviewt hat, gucken die sie an, als sei sie eine Art Dinosaurier und stamme aus einer anderen Welt. Wir essen Spiegelei mit Sucuk und trinken türkischen Kaffee und schauen auf den Bosporus. Drei große Hunde kommen vorbei, wollen sich aber nicht streicheln lassen. Dann gehen wir weiter, an der Surp Krikor-Kirche  vorbei, die direkt neben der Moschee steht, die erst 1952 in ihrem Garten errichtet wurde. Wegen der Nähe der Gotteshäuser der verschiedensten Religionen und des friedlichen Miteinanders der Gläubigen der drei monotheistischen Religionen wurde Kuzguncuk früher mit Hatay/Antakya verglichen, wo es wohl ähnlich gewesen sein muss. Heute findet man in Kuzguncuk, wo das Kopftuch dominiert, jedoch keine christlichen oder jüdischen Gläubigen mehr. Durch Straßen voll wunderbarer Holzhäuser, an der Perivan Abla-Straße vorbei, die nach der gleichnamigen TV-Serie benannt wurde, kommen wir zum griechischen Friedhof. Schnell überlegt Zeynep, wie wir begreiflich machen können, dass wir obwohl ein Schild darauf hinweist, dass es verboten ist ihn zu betreten, trotzdem eintreten. Du sagst, dass du deine Tante Anna Mevridian besuchen willst, sagt sie zu mir. Aber ist das nicht ein armenischer Name? Wende ich ein. Wäre nicht ein griechischer Name besser? Ja, stimmt. Zeynep fällt auf, dass sie vor allem immer armenische und jüdische Freundinnen hatte, griechische nie. Die sind ja auch fast alle nach den Progromen vom September 1955 verschwunden aus Istanbul. Wir werden aber heute nicht kontrolliert und nach unserem Begehr gefragt, wie sonst immer auf den Friedhöfen, die ich schon besucht habe und wo es jedesmal eine Person gab, die im Eingang in einem kleinen Haus lebt und den Friedhof bewacht und für die ich mir dann irgendeine kleine Geschichte ausdenken musste, damit sie mich reinließ. Hier und heute treffen wir keinen einzigen Menschen. Ein großes Grab im Eingangsbereich weist auf einen Mann namens Marko Pascha hin. Marko Pascha wurde 1824 auf der griechischen Insel Syros geboren. Er studierte an der Military Medical School in Istanbul und promovierte 1851. Er wurde der erste Arzt in der osmanischen Geschichte, der Brigadegeneral wurde. Der damalige osmanische Sultan Abdülaziz ernannte Marko Pascha 1861 zum Chefarzt des Palastes. Er gründete den türkischen roten Halbmond (Pendant zum roten Kreuz) und sein Name wurde seiner Hilfsbereitschaft wegen zum Sprichwort. Erzählen Sie Marko Pascha ihre Probleme! sagt man auf türkisch, wenn man keine Lösung hat für ein Problem.  Aber der Friedhof, auf dem er nun schläft und auf dem eine wunderbare Stille herrscht und von dessen Höhe aus man den Bosporus überblicken kann, enthält nicht viele Gräber, nur ein Drittel des Terrains ist belegt und sehr viel mehr werden wohl nicht mehr hinzukommen, fast alle sind von vor 1955. Wir gehen weiter und suchen nach der Straße, die nach Can Yücel, dem größten Dichter von Kuzguncuk benannt ist. Aber als wir sie finden, ist sie die schäbigste heruntergekommenste Straße im ganzen Viertel. Das haben sie extra gemacht, diese Straße, an der nur illegal gebaute Schrotthäuser liegen, nach ihm zu benennen, sagt Zeynep. Auf der rechten Seite ist ein großes Friedhofsgelände. Der jüdische Friedhof von Kuzguncuk, das ja, ich berichtete vor wenigen Tagen darüber, eine sehr große alteingesessene jüdische Bevölkerung hatte, die heute fast vollständig nach Israel ausgewandert ist. Auf der Suche nach dem Eingang müssen wir treppauf treppab durch weitere illegale Siedlungen und stoßen in einer heruntergekommenen Straße auf eine Frau in typisch anatolischer Tracht mit Kopftuch und Pluderhose, die mich nur ansieht und sofort weiß, dass ich Deutsche bin; sie hat selber mal 5 Jahre in Deutschland gelebt und liebt Deutschland, sagt sie. Wir unterhalten uns ein ganzes Weilchen mit ihr. Sie will uns zu einer Suppe einladen, mehr habe sie zurzeit nicht da, sagt sie. Aber wir wollen weiter und verabschieden uns, gehen noch ein Stück weiter und kehren um und entdecken plötzlich hinter den hohen Mauern des jüdischen Friedhofs ein paar sehr magere Welpen. Da Zeynep eine große Hunde- und Katzenliebhaberin ist, beschließen wir, Futter zu kaufen und es ihnen zu bringen. Unterwegs machen wir einen Halt in der Buchhandlung mit Café in dem Jugendstilhaus, das von den armenischstämmigen Bayanarchitekten erbaut wurde. Die Atmosphäre in diesem Holzhaus nimmt uns sofort gefangen. Überall sitzen dort junge Leute an Tischen und arbeiten, daneben stehen die Bücher, die man erwerben kann. Licht scheint durchs Fenster herein, es riecht nach Holz und nach Vergangenheit und auf einmal sind wir wie in einer anderen Welt, aber auf der anderen Seite des Ozeans, in San Francisco zum Beispiel. Wenn nur nicht dieses Alkoholverbot wäre…Auf dem Weg zu einem Hundefutterladen essen wir in einem kleinen Imbiss Kokorec, gegrillte Kutteln mit Brot und Iskembe/Pansensuppe, die man früher wohl traditionell nach einer langen Nacht in Meyhanes und dem Genuss von viel Raki gegessen habe, so sei der Kater weniger schlimm geworden, sagt Zeynep, die es wissen muss. Der Besitzer des Ladens erklärt uns, wo das Geburtshaus von Can Yücel liegt; sein Vater war wohl mit dem Dichter gut befreundet. Da haben wir Glück gehabt, denn im Internet sind keine Informationen zu finden. Wir kaufen eine große Tüte Trockenfutter und eine Dose mit Hundefutter. Zeynep trägt den Plastikbeutel, in dem sich das Hundefutter befindet, das wollen wir später den Welpen bringen. Als wir in die Straße eingebogen sind, wo Can Yücel gelebt hat, und sie auf der Suche nach dem Haus, das nicht beschildert ist, entlanggehen, kommt eine rote Katze auf Zeynep zu und verbeißt sich in Zeyneps Plastiktüte, in der sie das Hundefutter trägt. Und dann zieht und zerrt sie so lange an der Plastiktüte, bis diese kaputtgeht und sie den großen Beutel mit Hundefutter  herausziehen kann und davontragen, Zeynep läuft ihr hinterher, bekommt sie aber nicht mehr eingefangen. Als nächstes sehen wir sie in der Entfernung sitzen und triumphierend das Futter fressen. Als Zeynep auf sie zugeht, nimmt sie den Beutel wieder ins Maul und rennt davon. So sind die Katzen, sagt Zeynep, sie hören einfach nicht, ein Hund hätte immer auf den Menschen gehört. Aber so großen Hunger kann sie nicht gehabt haben, gleich neben der Stelle, wo sie Zeynep das Futter entriss, stehen Futterbehälter, die auch voll sind. Wir müssen also nochmal zurück in den Futterladen und erneut Futter kaufen. Jetzt nehme ich aber den Plastikbeutel, sage ich, da kommen dann die Katzen nicht so leicht dran, ich bin doch viel größer. Aber sie lässt sich es sich nicht abnehmen und besteht wieder darauf, ihn selber zu tragen. Wir gehen zurück, endlose Treppen hoch Richtung Friedhof und kommen auf dem Weg dorthin noch einmal bei der anatolischen Frau vorbei. Jetzt kommt es mir schon so vor, als würde ich nach Hause kommen, wenn ich hier bei ihr entlanggehe, sagt Zeynep und auch mir kommt es fast so vor. Aber die Frau ist in ihrem Haus verschwunden und wir gehen weiter zum Friedhof und werfen den Hunden hinter dem Gitter, der den Friedhof umzäunt, der heute, des Sabbats wegen, geschlossen ist, das Futter zu. Erst sehen wir nur einen Welpen, aber als wir dann schon ein Weilchen entfernt sind, hören wir aus der Ferne laute Schreie. Jetzt kämpfen sie um das Futter, sagt Zeynep. Da bereue ich es schon fast, dass ich ihnen das Futter gebracht habe. Zeynep will heute Abend auf Twitter eine Anfrage stellen, wer sich um die Hunde kümmern kann. Auf dem Friedhof leben wohl sehr viele Hunde, hatte uns der Friedhofswärter erzählt, mit dem wir telefonierten. Leider ist der Friedhof heute des Sabbats wegen nicht geöffnet, sagte er auch. Und erzählte, dass die meisten Hunde auf dem Friedhof nicht gechipt und sterilisiert sind. Und Geld für Futter bekommen die Friedhofswärter nicht, das müssen sie schon selber aufbringen. Auf dem Weg kommen wir an ein paar kleinen Kätzchen vorbei, die sich auf den Armen nehmen lassen. Ihre Mutter liegt ein Stück entfernt und sieht ganz friedlich aus. Wir müssen wieder lachen, als wir an die gierige Katze denken, die Zeynep die Plastiktüte aus der Hand gerissen hat. Es gibt solche Katzen, sagt Zeynep, die zu Hause ja selber drei oder vier Katzen hat, die verrückt sind und tun was sie wollen. Als wir wieder zurück Richtung Hafen gehen und uns unterwegs noch ein Stück Kuchen kaufen, das wieder so unverschämt teuer ist wie beim letzten Mal, wundert Zeynep sich. Seltsam ist es schon, alles ist so teuer geworden. Aber die Leute hier verdienen doch nicht mehr. Wie können sie sich so etwas nur leisten? Ein Stück Walnusskuchen kostet 2, 30 Euro, soviel wie in Deutschland. Da wird auch für die Leute, die die wilden Hunde betreuen, nicht mehr genug übrig bleiben, um ihnen Futter zu spendieren. Wir gehen noch einmal bei dem Hundefutterverkäufer vorbei, dem Zeynep einschärft, er solle seinen Kunden doch anraten, Futter für die wilden Hunde zu spenden und machen uns auf den Rückweg Richtung Üsküdar. Und dann fahre ich wieder mit der Fähre Richtung Europa und stehe an der Reling und lasse mich vom noch milden Novemberwind um wehen und sehe einen wunderschönen Sonnenuntergang. Vom Wind und vom Meer handelt auch das folgende Gedicht von Can Yücel, der 1999 gestorben ist und das Ihr per Knopfdruck von ihm selber gesprochen hören könnt.