Das Poesiefestival in Eskişehir ist dieses Jahr Lale Müldür gewidmet. Sie ist der Ehrengast des Festivals. Sie ist neun Jahre älter als ich und zwei Köpfe kleiner. Als sie mich sieht, sagt sie: Das muss seltsam aussehen, wenn wir nebeneinander hergehen. Später entschuldigt sie sich dafür und sagt, sie mache eben gerne Witze. Sie lacht viel. Sie hat ein Lachen, das man nicht mehr vergessen kann. Es kommt von ganz tief unten, klingt nach tausenden von Zigaretten, nach durchsungenen Meyhanenächten, nach intensiv gelebtem Leben. Ihre Gedichte sind ganz große Klasse, einzigartig in der türkischen zeitgenössischen Lyrik. Sie verbindet Schmerz, Liebe, Natur, mit Mythologie und Religion. Wenn sie sie vorträgt, ist das ein ganz besonderes Erlebnis. Man kann sich ihrer Stimme, ihrer Intensität, ihrer Ausstrahlung nicht entziehen. Bevor ich sie traf, wurde ich vor ihr gewarnt. Sie sei verrückt, hieß es. Ziemlich verrückt. Vielleicht hat sie viel Schmerzhaftes erlebt, habe ich mir dann gedacht. Eine andere große Dichterin ihrer Generation, Nilgün Marmara, sprang früh aus dem Fenster. Ob aus psychischen Gründen oder ob sie aus politischen Gründen gestoßen wurde, ist bis heute nicht klar. Die dritte große Dichterin ihrer Generation heißt Gülseli Inal. Alle drei werden selten erwähnt. Man hat/te es nicht leicht als intellektuelle Frau in der Türkei. Die Zeiten waren/sind auch für Künstlerinnen nicht gut. Es ist insbesondere nicht leicht, sich als Dichterin in der Türkei durchzusetzen, wo viel zu viele Männer Gedichte schreiben. Aber Lale hat es geschafft. Sie gilt als die größte lebende Dichterin der Türkei. Deshalb ist sie nun auch hier. Mit uns, zwanzig türkischen, einem aserbaidschanischen, einem ungarischen und einer deutschen Dichterin. Die Stadt Eskişehir richtet das Poesiefestival jedes Jahr aus, immer gibt es einen Ehrengast, immer werden auch ein paar ausländische/internationale Gäste eingeladen. In den letzten Jahren waren aus Deutschland unter anderem Safiye Can, Özlem Özgül Dündar und Michael Augustin hier. Dass Michael Augustin hier war, weiß ich, weil, kaum dass ich angekommen bin, ein türkischer Freund von ihm auf mich zustürzt und ein Autogramm von mir haben möchte. Als wir zum Ort des Festivals, einem Gebäude der Stadt gehen, in dessen Hof Stühle und eine Bühne aufgebaut sind, sehe ich Lale zum ersten Mal. Sie ist gerade dabei, ihre Bücher zu signieren. Eine Schlange von mindestens fünfzig Leuten steht vor ihrem Tisch. Da höre ich auch zum ersten Mal ihr Lachen. Es ist sehr laut und es steigt immer wieder auf hinter der Menschenmenge, die sich um ihren Tisch drängelt. Ich kaufe auch zwei Bücher von ihr, Bücher sind in der Türkei trotz der rasenden Inflation (in den zwei Wochen, die ich hier bin, steigt der Lira auch wieder um 20 Prozent an) noch sehr günstig, ich zahle 2 Euro für ein Buch mit Kurzgeschichten und einen Gedichtband. Alles andere ist hier inzwischen fast doppelt so teuer wie vor einem Jahr, als ich zum ersten Mal in der Türkei war. Die Schlange an ihrem Tisch ist zu lang und unsere Veranstaltung, in der wir „internationalen“ Dichter vorgestellt werden, beginnt, bevor ich sie noch um ein Autogramm bitten kann. Die Stadtverwaltung hat aufgefahren, es gibt Essen und Trinken umsonst für alle. Haydar Ergülen, der Festivalleiter und Dichter, der mich schon letztes Jahr zu dem Poesiefestival in Izmir eingeladen hat, hält die Eröffnungsrede. Dann werden Reden gehalten, auf türkisch, denn bis auf mich verstehen alle hier Türkisch. Immer wieder kommen nun auch Leute zu mir, die ich am Rande sitze, um sich den Katalog für das Festival, in dem die Gedichte der beteiligten Dichter*innen abgedruckt sind, signieren zu lassen. Man fühlt sich gut und geehrt als Autor*in, hier in Eskişehir, das, wie mir alle Türken, denen ich berichtete, dass ich nach Eskişehir fahre, mit leuchtenden Augen versichern, eine besonders schöne Stadt sein soll. Das liegt wohl vor allem an dem Bürgermeister, der politisch links ist und ein Architekt und die Stadt enorm verschönert und modernisiert hat. Unser Hotel ist ganz besonders schön, ein im Auftrag von Atatürk in den zwanziger Jahren in historischem Stil gebautes Haus, in dem schon viele prominente Leute verkehrt haben. Es gibt einen historischen Fahrstuhl mit schmiedeeisernen Gittern, die Badezimmer sind ganz aus Marmor und der Blick aus dem Fenster geht auf einen Barockgarten und einen kleinen Fluss, auf dem Gondoliere mit echten Gondeln aus Venedig auf und ab fahren. Am Abend essen wir alle gemeinsam in dem großen prächtigen Speisesaal. Auch Lale ist dabei, da lerne ich sie zum ersten Mal kennen, da macht sie den Witz über meine Größe. Sie ist exzentrisch angezogen und sieht älter aus als sie ist. Aber ihre Augen sind jung. Ihre Haushälterin Dodo, die aus Georgien stammt, ist immer bei ihr und passt auf sie auf. Manchmal ist sie der Chef, sagt Lale mir später, manchmal bin ich der Chef. Am nächsten Tag gibt es erst eine Veranstaltung, auf der drei Autor*innen Lobreden auf Lale halten. Die Veranstaltung ist heute in einem Saal, draußen wäre es viel zu heiß. Lale sitzt neben den Preisredner*innen und raucht eine Zigarette nach der anderen. Die eine der drei Preisredner*innen hat mir vorher gesagt, dass sie sich vor ihrer Lesung fürchtet, weil Lale sie unterbrechen könnte, sie ist bekannt und gefürchtet für ihre bösen spöttischen Kommentare. Aber ihr scheint der Text zu gefallen, kein Grund, die Rednerin, die eine halbstündige Eloge geschrieben hat, zu unterbrechen. Anders beim nächsten Redner. Der einzige Mann auf der Tribüne ist ein Sexist, sagt mir später mein Sitznachbar. Er habe Lale auf ihr gutes Aussehen reduziert, so als sei sie nur eine Art schöne Dekoration für die großen poetischen Männer ihrer Generation gewesen. Ich mag es, dass sie auf der Bühne raucht. Inzwischen kommt es mir schon ganz normal vor, dass eigentlich alle, die ich hier in der Türkei kennengelernt habe, rauchen. Im Anschluss an die Veranstaltung finden die Lesungen der 20 Dichter*innen statt. Dafür sind zwei Musiker engagiert worden, die auf der Bühne sitzen und uns spontan begleiten, mit Querflöte und Gitarre. Das ist sehr schön. Aber manche Dichter können damit nicht umgehen. Zu manchen Gedichten passt es auch nicht. Einer liest ein Gedicht, das eigentlich ein Prosatext ist, in zehn Minuten rasend schnell vor. Lale, die neben mir in der ersten Reihe sitzt, verdreht die Augen. Nach meiner Lesung sagt sie zu mir: Magnificant. Anschließend schwänze ich die nächsten Veranstaltungen, bei denen auf Türkisch Vorträge zu Poesie und Pandemie und Poesie und zeitgenössischem Film gehalten werden, die ich ja doch nicht verstehen kann und gehe ins Kunstmuseum von Eskişehir, das ganz neu ist und vom japanischen Architektenbüro Kengo Kuma konstruiert, die es aus Holzbalken gebaut haben, die ohne Leimung oder Nagelung einfach nur zusammengesteckt wurden. Noch toller als das Museum ist die Ausstellung zeitgenössischer Künstler im Museum, die sich mit Tradition und Moderne, mit Frauen- und Homophobie beschäftigt, mit Kinderehe und mit dem Bild der Frau in Werbung und Wirklichkeit. Ein Film zeigt einen Raum, in dem ein Foto von Atatürk an der Wand hängt, auf dem dieser im Smoking mit seiner Frau, die ein weißes Kleid trägt, auf einem Ball tanzt. Dieses Foto habe ich schon an Plätzen in Istanbul gesehen, es zeigt die Vorstellung Atatürks, dass die Türkei ein modernes Land nach westlichem Vorbild werden könnte, mit moderner Musik und Frauen, die gleichberechtigt und ohne Schleier mit Männern tanzen können. Plötzlich beginnt in dem Museumsfilm eine Walzermusik. Dann kommen drei Junge Männer von rechts ins Bild. Sie tanzen zu der Walzermusik, aber keinen Walzer, sondern den Halay, den klassischen türkischen Tanz, bei dem man sich unterhakt, er sieht so ähnlich aus wie der griechische Sirtaki. Sie sind ganz modern gekleidet und tanzen langsam von rechts nach links, bis sie wieder aus dem Bild getanzt sind. Der Film bringt Moderne und Tradition, Atatürk und die heutige Türkei mit ihren Widersprüchen genial zusammen. Er dauert nur ungefähr vier Minuten. Anschließend gehe ich wieder ins Hotel zum Abendessen und später am Abend gehen wir noch in eine Meyhane zum Rakitrinken. Dann hört die Livemusik auf und Tanzmusik wird gespielt. Mein Tischnachbar, der einen Kopf kleiner ist als ich und ich gehen auf die Tanzfläche, wo schon Leute von den anderen Tischen tanzen. Aus dem wilden Tanz zu Technomusik entwickelt sich plötzlich ein Halaytanzen. Halay tanzt man, mit den Fingern eingehakt, in langer Reihe und in Kreisbewegungen. Aber es wird nicht nur Halay getanzt, es gibt anschließend auch noch andere Tänze. Zigeunermusik sei das, sagen einige am Tisch und weigern sich zu tanzen. Überhaupt tanzen von den Dichtern nur wenige. Später höre ich, dass der Dichter, mit dem ich tanzte, im Zivilberuf Arzt ist. Auch einige andere Dichter sind von Beruf Arzt. Oder Lehrer. Oder Angestelle in der Stadtverwaltung. Alle fragen mich, was ich von Beruf bin. Dichter, die keinen Beruf haben außer dem Dichten, gibt es hier in der Türkei nur wenige. Das sind welche mit Vermögen. So wie Lale, die aus vermögenden Verhältnissen stammt, in einem wunderschönen alten Haus mit Blick auf den Bosporus wohnt, wo ich sie später noch besuche. Auch in Deutschland ist es einfacher, Dichter/in zu sein, wenn man Vermögen hat oder einen vermögenden Partner. Aber auch mit bürgerlichen Berufen wie Arzt oder Lehrer verdient man zurzeit in der Türkei nicht mehr genug, um das Leben zu leben, das in der Türkei immer gelebt wurde. Also legen wir am Ende des lustigen Tanz- und Rakiabends zusammen, um den Raki zu bezahlen. Eine Flasche Raki (350ml) kostet immerhin fast 30 Euro, die Steuer für Raki und für Bier ist gerade wieder um fast 100 Prozent erhöht worden. Zwei Freunde erzählen mir, dass ihre Mieten letzte Woche auch um 100 Prozent angehoben worden sind. Am Nachmittag war ich mit einer türkischen Dichterin in einem Geschäft, in dem ich mir eine Kette aus Meerschaum, einem Material, das bei Eskişehir abgebaut wird, kaufte, die 60 Lira (ca. 4 Euro) kostete. Als ich sagte, das sei aber extrem billig, sagte die Dichterin, für Türken sei es schon zuviel. Ich schämte mich da ein wenig. Am nächsten Tag fuhren wir Dichter*innen mit einem Bus nach Midasstadt, welches ein Antikes Denkmal aus der Zeit der Phryger ist, 25km von Eskişehir entfernt in einer arkadischen Landschaft gelegen. Lale kam nicht mit, für sie wäre es vielleicht zu anstrengend geworden. Dabei wurden wir sogar von einem Krankenwagen mit zwei Ärzten begleitet. Und die beiden Musiker waren auch wieder dabei. Und ein Führer kam mit und wieder jede Menge Leute von der Stadtverwaltung Eskişehir. Als wir im Dorf Yassiliyeni ankamen, empfingen uns einige große halbwilde Hunde, die sich von allen streicheln ließen. Der größte von ihnen hatte langes helles Fell und trug eine Glocke um den Hals. Nachdem wir in der arkadischen Landschaft herumgegangen waren und die phrygischen Felsentempel bestaunt hatten, versammelten wir uns im Schatten eines Maulbeerbaumes und trugen wieder unsere Gedichte vor, während die Musiker spielten. Anschließend wurde für uns gegrillt, es gab leckere Köfte (Frikadellen) und Ayran konnte man trinken und ich setzte mich unter einen Feigenbaum und streichelte den größten Hund, den ich je gestreichelt habe, einen Kangal, der so sanft und lieb war, dass ich es kaum fassen konnte. Ab und zu gab ich ihm ein Stück von meinen Köfte ab, womit er sehr zufrieden war. Nachdem wir auch noch Tee bekommen hatten, stiegen wir wieder in den Bus und fuhren zurück nach Eskişehir. Dort holten wir Istanbuler Dichter unser Gepäck und fuhren inklusive Lales, neben die zu setzen sich niemand traute – man vermeidet es, damit man keinen Ärger bekomt, sagte mir eine Dichterkollegin, die sich später doch neben sie setzte, aber nur für ein Foto – wieder im Kleinbus nach Istanbul. Unterwegs machten wir eine Pause in einem Rasthof, wo man eine phantastische Aussicht hatte und wie im besten Restaurant bedient wurde. Hier kam ich mit Lale ins Gespräch und ging mit ihr zusammen zurück zum Bus. Und als sie so winzig klein neben mir herging, wusste ich gar nicht, wieso die Leute alle solche Angst vor ihr hatten und sie für verrückt halten. Wir sprachen über japanische Lyrik und die Kirschblüte, als wir an einem Kirschenstand vorbeikamen. Und dann lud sie mich in ihr Haus ein. Womit ich wieder zum Anfang meines heutigen Blogs zurückkomme. Ich habe Lale gestern in ihrem Zuhause besucht, aus dem Fenster ihres Hauses über den Bosporus gesehen und den von ihrer georgischen Haushälterin selbergemachten Sütlüce/Milchreis gegessen. Und die Bilder bewundert, die an ihrer Wand hängen. Auf ihnen ist immer wieder Lale zu sehen, dazwischen Jesus. Jesus? Ist sie denn christlich? Frage ich ihre Haushälterin. Nein, ist sie nicht. Aber sie liebt Jesus, antwortet die mir. Das geht also auch. Aber wohl nur in Istanbul. Und nur bei Lale. Ihr Haus heißt übrigens Lale-Apartmani. Auch ihr Name hat wie alle türkischen Namen eine Bedeutung. Er heißt Tulpe. Sehr exotisch. Sehr extravagant. Klein, aber mit großer Ausstrahlung. Und mit einem unvergesslich schönen Duft.

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