Der Hund zieht kräftig an der Leine. So viele fallengelassene Tücher, Pommes, Saftdosen und Tauben, die nicht auffliegen wollen. Der Hund weiß, dass der Besuch am Hauptbahnhof mit Abschied und Begrüßung zusammenhängt. Das regt ihn auf. Ich schimpfe mit ihm, kraftlos, weil ich die Kraft aufsparen will für die Reise. Für die schweren Koffer,  die Fahrt, die Umstiege, die Übernachtungen in den Schlafwagen. Die 2467 Kilometer auf dem Schienenweg bis Istanbul. Glücklicherweise ist meine Mutter diesmal dabei. So bin ich nicht alleine, wie sonst fast immer auf Reisen. Zu zweit zu reisen ist eindeutig besser als alleine, sage ich und schaue hin zu ihr. Seit Tagen und Wochen freue ich mich schon darauf, diese Fahrt mit ihr zu unternehmen. Seit dem Moment, wo sie, als ich ihr erzählte, dass ich dieses Jahr endlich mit dem Zug nach Istanbul fahren könnte, begeistert ausrief: Das wollte ich auch schon immer mal, mit dem Zug durch Europa nach Istanbul fahren! Komm doch mit, sagte ich daraufhin. Sie zögerte keinen Moment. Gestern ist sie von Worpswede angereist, heute stehen wir frühmorgens mit unseren Koffern am Bahnhof und warten auf den ICE. Er kommt pünktlich. Es ist 6. 54h. Der Hund zieht an der Leine und jault, weil einen Meter entfernt ein anderer Hund sitzt und ihn nicht beachtet. Mein Freund kaut Kaugummi und macht zum Abschied lustige Bemerkungen. Er hebt die schweren Koffer in den Zug.  Der Hund jault wieder und schaut in meine Richtung. Dann geht die Tür zu. Mein Freund winkt. Der Hund sieht mich nicht mehr. Ich schaue zu meiner Mutter hin. Hoffentlich geht unterwegs alles gut! Am Morgen hat sie noch einen Coronatest gemacht. Sie hat bisher kein Corona gehabt und trägt, seit sie den Bahnhof betreten hat, eine Maske. Als wir meinen Vater vor drei Monaten um seine Zustimmung zu ihrer Fahrt nach Istanbul befragten, hatte er gesagt, ich solle gut auf sie aufpassen. Daran muss ich jetzt denken. Wie die Verhältnisse sich verkehren, wenn man älter wird. Aber meine Mutter kann noch sehr gut auf sich selber aufpassen. Sie ist klein und zart und wie schon immer unternehmungslustig. Neben ihr komme ich mir manchmal wenig unternehmungslustig vor. Der Frühstücksbeutel ist prall gefüllt für unsere erste Morgenmahlzeit, mit hartgekochten Eiern XL, einer Kanne Kaffee, Croissants, die wir eben noch beim Bäcker geholt haben. Wir haben uns gewundert, wie lange die Schlange beim Bäcker so frühmorgens war. Nun wundern wir uns darüber, dass es kaum Möglichkeiten gibt, im Zug die Koffer unterzustellen und setzen uns. Meine Mutter trinkt einen Kaffee und zückt ihr Handy. Ich muss mal telefonieren. Willst du Papa anrufen? Ja. Es gibt etwas, was ich dir nicht gesagt habe. Sie guckt mich ganz ernst an. Ich erschrecke, als ich ihren Blick sehe? Was denn? Was kann es sein? Ist irgendetwas mit meinem Vater nicht in Ordnung? Gleich wird sie es mir sagen. Ich kann mir gar nicht so schnell alle eventuellen Fürchterlichkeiten ausmalen, als sie schon sagt: Papa hat Corona. Das habe ich aber erst gestern Abend  erfahren. Er hat allerdings gesagt, ich solle trotzdem reisen. Sie versucht ihn anzurufen, auf dem Handy, dann auf dem Festnetz. Endlich geht er ans Telefon. Er klingt schlecht. Sehr schlecht sogar. Fieber hat er auch. Ich fahre wieder zurück, sagt sie. An der nächsten Station. Mir fällt ein, dass meine Eltern vor ein paar Wochen ihr 60 jähriges Kennenlernen gefeiert haben. Ganz für sich, zu zweit und schön stelle ich es mir vor. Wie schön es sein muss, sich 60 Jahre zu kennen und immer noch so gerne zu haben. Die nächste Station ist Frankfurt Flughafen, wo wir sowieso umsteigen müssten, weil dort der Zug nach Wien abfährt, wo wir wieder umsteigen müssten nach Budapest, wo wir umsteigen müssten nach Bukarest, wo wir umsteigen müssten in den letzten Zug, den, der nach Istanbul durchfährt. Ich sage, na klar, natürlich, ich an deiner Stelle würde auch zurückfahren! Du kannst ihn jetzt nicht alleine lassen. Ich buche für sie eine neue Fahrkarte zurück in den Norden. Uns stehen die Tränen in den Augen, als wir uns jetzt ansehen. Wir hatten uns so sehr auf die gemeinsame Reise gefreut. Ich glaube, ich werde nie mehr eine solche Reise machen können, sagt sie. Und ich fange auf einmal an, mich vor der Weiterfahrt, die ich mir bisher nicht ohne sie vorstellen konnte, zu fürchten. Am Flughafen Frankfurt verabschieden wir uns ohne Umarmung. Die Gefahr der Ansteckung ist zu groß, sagt sie und geht davon, klein und zart, um ihren Zug nach Worpswede nicht zu verpassen