Besiktas, das In-Viertel am Bosporus, schreckt erst einmal ab, weil es so voller Verkehr, so voller Lärm, so voller Menschen ist. Vom Bosporus aus kommend sind die breiten Einfahrtstraßen voller Autos, Busse, Motorroller, immer wird gehupt, gefahren, gedrängelt. Dann wieder dringt Rockmusik aus einer der unzähligen Kneipen und Bars, dann wieder singt der Muezzin, tuten die Fähren, schreien die Möwen. Nie ist hier Ruhe oder gar Stillstand. Auch nicht, wenn man wie ich, für ein paar Tage in Besiktas und in der Wohnung eines Freundes hoch über den Dächern von Besiktas wohnt und weit in die Ferne gucken kann, in Richtung Ost auf die andere Seite vom Bosporus, in Asien hin bis nach Üsküdar und Kadiköy, in Richtung Süden zum alten Sultanspalast Topkapi und Richtung West nach Beyoglu, wo die Spitze des Galataturmes in der Ferne hinter den gewaltigen Hotelhochhaustürmen noch zu sehen ist; der Lärm ist auch hier oben immer wahrnehmbar. Besiktas ist verkehrsgünstig gelegen, weil vom zentralen Pier am Bosporus aus alle fünf Minuten Fähren in alle Richtungen abfahren. Und Besiktas sei, sagte man mir, fest in der Hand der Oppositionellen Partei. Das heißt, hier sind vor allem „westliche“ Menschen zu sehen und weniger „traditionelle“ bzw. „Araber“. Das liegt unter anderem daran, weil hier so viele Studenten wohnen. Oder weil hier so viele Studenten studieren. Schöne Künste vor allem, die auf türkisch Güzel Sanat heißen, von meiner Wohnung aus schaue ich auf die Universität. Auch das Museum für schöne Künste befindet sich hier, es ist gleich neben dem Dolmabahcepalast, in dem aber nie wirklich schöne Bilder ausgestellt wurden. Die romantische Kunst des 19. Jahrhunderts in der Türkei wurde vor allem von Malern der Oberschicht geprägt, solchen, die aus dem Sultanspalast Dolmabahce stammten, solchen wie Osman Hamdi Bey, dem Maler der berühmten Schildkrötendresseurs, der doch immer nur sich selber portraitierte. Der zweite wichtige Vertreter der türkischen Malerei des 19. Jahrhunderts war Abdülmecid II., der Sohn des früh verstorbenen Sultans Abdülaziz und Neffe des letzten Sultans Abdülhamid. Dieser Abdülmecid war einige Jahre vor dem Ende des letzten Sultanats sogar noch ein paar Jahre Kronprinz und nach der Flucht von Abdülhamid auch noch Kalif. Er, der auch hier in Besiktas geboren wurde (der Dolmabahcepalast liegt in Besiktas), starb 1944 im Exil in Paris. Abdülmecid war der 101. und letzte Kalif des osmanischen Reiches, also Oberhaupt der Muslime als Stellvertreter und Nachfolger von Mohammed, dem Gesandten Gottes und war gleichzeitig das 37. Oberhaupt der osmanischen Dynastie. Das Kalifentum hatte über Jahrhunderte keine große Rolle im osmanischen Reich gespielt, es wurde erst um 1876 wieder intensiviert. Einbezogen in das osmanische Kalifat wurden damals auch die Muslime Indiens, die in ihren Moscheen für den osmanischen Kalifen beteten und sehr erbost waren, als die Republik dann auch noch den Kalifen zum Abdanken zwang. Aber Abdülcemit interessierte sich, obwohl er den Titel 1922 annahm, dafür weniger als für die Malerei, der er sich intensivst widmete, wie ich gestern in einer Ausstellung sehen konnte, die derzeit im Sabanci Museum, am Bosporusufer gelegen und Stiftung einer der reichsten Industriellenfamilien der Türkei, derzeit präsidiert von Gülen Sabanci, einer Frau und Enkelin des Gründers, stattfindet und die seine Werke zeigt. Dorthin kommt man von Besiktas aus mit dem Bus oder mit der stündlich ablegenden Fähre. Als ich auf die Fähre gehe, die den ganzen Bosporus auf der europäischen Seite anfährt, wundere ich mich über die vielen blutjungen tiefschwarz verschleierten Frauen, die schon an Bord sind. Ich mache ein Foto von einigen von ihnen, fast ununterscheidbar in ihren dunklen Ganzkörperkleidern sitzen sie auf der Bank und lassen die Beine über den Rand baumeln. Das Museum ist im Viertel Emirgan auf einem Hügel am Bosporusufer gelegen. Es war ursprünglich einmal Sommerresidenz sultanischer Prinzen, dann wohnte dort der König von Montenegro, später auch ägyptische Prinzen, dann stand es lange leer, bis es das Privathaus vom Gründer der Sabancifirmengruppe, Haci Ömer Sabanci wurde und nach dessen Tode im Jahr 1966 das Wohnhaus seines Nachfolgers Hakip, der laut der mich begleitenden Zeynep, die ihn einmal für einen TV-Beitrag portraitiert hat, eine Art Eremit gewesen sein muss und auch ein wenig seltsam. Als sie ihm begegnete, verschenkte er an die Menschen, die er traf, Armbanduhren mit seinem Konterfei. Zu einem solchen Museumsgründer passt so eine Ausstellung mit Werken des Sultanssohnes. Viele Briefe und Fotos aus dessen Privatarchiv sind auch ausgestellt, die einen begeisterten Künstler, Förderer der Künstler und Freund von Oppositionellen, einen liberalen Frauenfreund und Emanzipationsförderer zeigen, also das genaue Gegenteil von dem, was heutige Islamisten hier in der Türkei gerne mit dem oft heraufbeschworenen guten „Osmanischen“ und seinen Vertretern in Verbindung bringen wollen. Er kopierte anzügliche Werke französischer Maler und malte bezaubernde Nebelbilder, die er seinem Freund, dem Dichter Tefvik Fikret widmete, der ein Nebelgedicht (Sis) geschrieben hatte, wegen dessen er unter Hausarrest gestellt wurde, weil es damit endete, dass er sagte, in all dem Nebel, der über der Stadt Istanbul liege, würde die korrupte Verwaltung nicht auffallen. Er klagt darin die Stadt Istanbul an, ein Ort der Scheinheiligkeit und des Neides zu sein, in dem alle, insbesondere die Mächtigen, nur auf ihren eigenen Vorteil sehen. Das war zum Zeitpunkt des Erscheinens (1902) auch deshalb ein Skandal, weil Fikret vorher durchaus ein Freund des herrschenden Sultanats gewesen war. Aber der machthungrige manische Kontrollfreak, der letzte Sultan Abdulhamid, der Onkel des Malers Abdulmecid, hatte es übertrieben und das Reich mit übertriebener Verwaltung und Ausgaben zugrunde gerichtet, was auch Fikret kommentieren musste. Als ich solcherart belehrt aus dem Sabanci Museum gehe, kommt mir eine Schar Männer in teuren Anzügen entgegen, die einen wichtig aussehenden älteren Herrn geleiten. Meine türkische Begleiterin schaut ihm ebenso hinterher wie ich. Ein anderer Mann, der an uns vorüber geht, spricht Zeynep an: „Der Bastard geht ins Museum und hat 20 Hunde dabei“, sagte er ihr, erzählt sie mir später. Der „Bastard“, den wir eben sahen, war der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül, der Vorgänger von Präsident Erdogan. Warum der Fremde so offen mit meiner Freundin redet und solche Worte benutzt, ist mir ein wenig ein Rätsel. Sie hingegen findet es normal. Diese Art des Redens über Politiker ist nichts Neues. Alle hier reden schlecht über die Politiker, niemand hält etwas von ihnen. Um Politiker zu werden, braucht man viel Geld in der Türkei. Mindestens eine Million Euro. Das damalige Besiktas, in dem sich die Osmanen mit ihrem Herrschaftspalast und einigen weiteren nahen Palästen aufhielten, ist nicht mit dem heutigen zu vergleichen, das von der liberalen oppositionellen Partei verwaltet wird. Die war auch schon 2006 an der Macht und sorgte dafür, dass am höchsten Punkt des Hügel von Besiktas, im Agaabbaspark Statuen von ermordeten Kulturvertretern aufgestellt wurden. Sie stehen als stumme Mahner im Park und schauen auf ein Amphitheater, das die Stadtteilverwaltung auch hat anlegen lassen und das 2014 den Geziparkdemonstranten diente, die sich dort trafen und über das weitere Vorgehen besprachen. Nach Besiktas konnten sie vom Gezipark aus auch fliehen und hier trafen sie sich, um dorthin wieder aufzubrechen. Wenn der Einsatz von Wasserwerfern, Polizei und Tränengas mal wieder zu stark wurde, hier öffneten die Bewohner ihre Türen für die Demonstranten und im Park hatten sie Ruhe vor den Angriffen. Heute ist von diesem politischen Aspekt im Getümmel, in den vollen Straßen von Besiktas, dem pausenlosen Gehupe, Gefahre und Geschreie nicht mehr viel zu merken. Aber die stummen Mahner stehen noch da, oben im Park, in dem jetzt Paare flanieren, Hunde spielen, Kunststudenten ihre Mappen ausbreiten, als stumme Mahner stehen sie da, an denen ich vorübergehe und darüber staune, wie in dieser Stadt alles so dicht an dicht nebeneinander liegt: Verfolgung und Widerstand, Geschichte und Gegenwart, Tradition und Moderne. Aber die einen wollen und die einen können sich nicht mit dem Anderen arrangieren. Ich denke wieder daran, was ich dachte, als ich, vom Sabanci-Museum kommend aufs Boot stieg. An der nächsten Station, in Arnavutköy, stiegen wie immer wenn ich hier entlangfahre, die Schüler des Robert College zu, junge westlich aussehende Menschen aus besseren Verhältnissen, im Alter der jungen Frauen in Schwarz, die ich auf der Hinfahrt gesehen hatte. Es ist nun 100 Jahre her, seit der letzte Kalif und Vertreter des Sultanats, Abdulmecid, ins Exil ging. Er war ein moderner Mann, trug Anzüge, ließ seine Töchter und Enkeltöchter, die auch in der Öffentlichkeit kurze Röcke trugen, modern erziehen, liebte seine Bilder und klassische Musik, las Goethes Faust und konnte natürlich fließend französisch sprechen. Auch Atatürk, der nach ihm die Türkei reformieren wollte, wollte ein Land haben, in der Frauen dieselben Rechte und Möglichkeiten haben wie Männer. Ich muss an das Foto denken, das ich auf der Hinfahrt auf dem Boot gemacht habe. Frauen in schwarzer Ganzkörperverschleierung….