Der Tag der Frau ist in Istanbul ein wichtiges Ereignis. Schon seit vielen Jahren gehen die Frauen an diesem Tag auf die Straße und demonstrieren. Lange wurden diese Demonstrationen, die früher auf der Istiklal und dem Taksimplatz stattfanden, mehr oder weniger geduldet, aber seit einigen Jahren sind sie illegal und müssen die Frauen sich über social media verabreden, um zusammenzukommen. Zeynep hatte mich vor Wochen gefragt, ob ich nicht auch kommen wolle, um es mir anzusehen. Und ich wollte. Zweimal hatte ich ja hier in Istanbul schon Frauendemonstrationen mitbekommen, im August und Oktober in Kadiköy, auf der asiatischen Seite, wo eine kleine Gruppe von Frauen laut singend und hüpfend und kleine runde Plakate hochhaltend die Haupteinkaufsstraße heruntergelaufen kamen, während Hundertschaften von Polizisten herumstanden und nichts taten. Und am Tag der Gewalt gegen Frauen am 25. November, an dem die – illegale – Demonstration im Galataviertel stattfand, Zeynep mittendrin und ich mit meinem Sohn und meiner Nichte draußen, weil wir zu spät gekommen waren und nicht durch den Polizeikordon hindurchgelassen wurde. Hinterher war ich aber auch ganz froh darüber, denn das Tränengas, das sie abbekommen hatte, hätte ich nicht gerne abbekommen. Heute ist schon ab Mittags die Istiklal abgesperrt. Als ich aus der Tür trete, stehen da auf einmal 15 Polizisten vor meiner Haustür. Alle Seitenstraßen sind abgesperrt. Es müssen heute Tausende Polizisten im Einsatz sein. Zeynep sagt, letztes Mal habe sie mitbekommen, wie einer der Polizisten nach dem Weg zum Taksim gefragt habe. Die kommen also von weither. Überall stehen Mannschaftswagen, Busse, Panzerwagen und Wasserwerfer. Es geht vor allem um eines: Den Taksimplatz und die Istiklalstraße freizuhalten von Demonstrant* innen (ein paar Männer sind immer dabei). Ich muss mich sehr geschickt durch verschiedene Polizeisperren hindurchmogeln, das Sprechen in Fremdsprachen hilft einmal, beim nächsten Mal nicht, dann mache ich einen Riesenumweg, um endlich nach Passieren verschiedener anderer Sperren mit Zeynep zusammenzutreffen. Sie sitzt vor einem Café und wartet auf mich. Wann warst du das letzte Mal auf einer Demo, fragt sie mich. Ich muss überlegen. Das war wahrscheinlich damals vor mehr als vierzig Jahren, als es gegen den Nato-Doppelbeschluss ging und wir auf die Ostermärsche gingen, die in der Garlstedter Heide vor den Kasernen der Amerikaner stattfinden. Den Tag der Frau haben wir nie begangen, ich hätte bis vor kurzem noch gar nicht gewusst, wann er ist. Erst jetzt weiß ich, dass er vor allem in östlichen Ländern begangen wurde, denn von dort erreichen mich seit einiger Zeit Glückwünsche an diesem Tag. Früher wurde nur der 1. Mai begangen mit einer Demonstration, die allerdings damals legal war, anders als die Märsche zu den Kasernen. Bevor ich noch weiter nachdenken kann, geht es schon los. In der Ferne hören wir die Frauen schon schreien. Zeynep springt auf und läuft los, durch die nächste Sperre hindurch, die sie nicht aufhält. Wenn ich jetzt mitmachen will, muss ich hinterher. Aber unser Tee ist nicht bezahlt. Wenn ich jetzt den Tee bezahle, ist sie weg. Also mache ich die Augen zu und laufe einfach los und durch die Sperre hindurch. Die Polizisten lassen mich ihr hinterherlaufen und der Kellner hat das wohl nicht mitbekommen. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Morgen werde ich vorbeigehen und ihm sein Geld bringen. Dann stehen wir plötzlich vor einer wildgewordenen schreienden Frauenmenge, die wieder durch einen Kordon abgesperrt wird. Davor läuft ein großer hässlicher schwarzer Straßenhund. Ein Polizist streichelt ihn. Er hat auf dem Rücken eine längliche Flasche, in der Hand einen Schlauch. Was ist das? Frage ich Zeynep. Tränengas, sagt sie. Die sprühen gleich, wenn es zu wild wird. Das sieht aus wie Gärtner mit Unkrautvernichtunsgmitteln, muss ich denken. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, wie es aussieht, wenn Tränengas gesprüht wird. Die Frauen rufen immer lauter: Aufmachen, aufmachen! Plötzlich öffnen die Polizisten die Absperrung und lassen uns durch. Und jetzt sind wir mittendrin. Die vielen hundert Frauen hinter der Absperrung springen auf und ab und sie rufen und plötzlich hat auch Zeynep eine Trillerpfeife im Mund und alle, die keine haben, stoßen gellende Schreie aus. „Tayyip lauf, lauf, die Frauen kommen!“ und „Wir sind nicht alleine“ und „Wir lassen uns das Denken nicht verbieten“ ich lasse es mir von Zeynep übersetzen. Heute ist es schlimm, sagt Zeynep, so schlimm war es noch nie hier bei der Frauendemo, so viele Frauen, so viele Polizisten. Es sind vor allem junge und sehr junge Frauen, die sich hier versammelt haben, mit kleinen Pappschildern und der Trillerpfeife im Mund. Fast alle tragen Pudelmützen, fast niemand ein muslimisches Tuch. Zwischendurch strömen sie auseinander, finden sich wieder zusammen in den vielen verwinkelten Straßen, das Schreien und Pfeifen der Frauen kommt bald von überallher. Dann knallt es, dann wabert Tränengas durch die Straße. Zeynep und ihre Freundin Danya sind nicht mehr zu sehen. Ich fliehe in einen Hauseingang und in ein Haus hinein, wo die Frauen, die sich dort mit mir geflüchtet haben, mich erstaunt ansehen. Als die Schwaden vom Tränengas sich verzogen haben, gehe ich wieder hinaus. Zitronensaft oder Milch solle ich in die Augen träufeln, wenn ich Tränengas abbekomme, sagte Zeynep mir. Ich lasse mich noch ein wenig von der Menge mitreißen, dann wird es mir zu gefährlich, hier sind zu viele Löcher im Boden, ich fürchte, von den wilden Frauen umgestoßen oder bei einer Panik und wilden Verfolgungsjagd an den Rand gedrückt zu werden. Jetzt kommen auch Hubschrauber. Es reicht! Ich muss einen Weg hier hinaus finden und ich finde ihn erst einmal nicht, der nächste Kordon Polizisten will mich nicht durchlassen. Dann finde ich aber doch eine Straße, in der Polizisten sind, die mich passieren lassen und auch die danach folgenden fünf Absperrungen lassen mich durch. Ich bin ja nur eine Touristin, das sieht jeder türkische Polizist sofort. Sie sind jung, die Polizisten, die meisten jünger als mein Sohn. Ein bisschen leid tun sie mir auch, ich an ihrer Stelle würde genauso ängstlich gucken, wie sie es jetzt tun. Ich gehe durch menschenleere abgesperrte Straßen hinunter zum Bosporus, dann an einer anderen Stelle wieder hoch bis zu meiner Wohnung. Mit meinem Englisch werde ich überall durchgelassen. Unterwegs bekomme ich eine Whatsapp von Zeynep. Sie ist noch mitten drin im Getümmel. Mir fällt wieder ein, was sie mir vorhin noch erzählt hat. Früher, also bis vor sechs Jahren, als die Demos noch erlaubt waren, ist sie nie dorthin gegangen. Erst jetzt geht sie dorthin, erst jetzt, seit sie verboten sind! Sie ist noch dort draußen, in der wilden tobenden Frauenmenge. Und ich bin froh, dass ich an meinem Schreibtisch sitzen und diesen Blog schreiben kann.