Wir treffen uns im Restaurant Fıccın (Deine Tasse) der tscherkessischen Besitzerin Ayse Özgül. Dass dieses Restaurant einer Frau gehört, ist etwas ganz besonderes. Ganz besonders an ihr ist auch, dass sie inzwischen fünf oder sechs Restaurants hat. Alle heißen Fıccın und alle liegen neben- bzw. gegenüber an einer Nebenstraße der Istiklal. Sie ist also sehr geschäftstüchtig. Nirgendwo kann man so günstig frühstücken wie hier, wo ich das erste Mal auswärts gefrühstückt habe. Das Essen ist auch tscherkessisch. Als ich das erste Mal davon hörte, vermutete ich, dass tscherkessisch kaukasisch heißt und also Georgien damit gemeint ist, das ja im Kaukasus liegt. Aber ich habe mich geirrt, Karatschai-Tscherkessien ist tatsächlich ein eigenes Land bzw. eine Sowjetrepublik und im Norden von Georgien gelegen. Früher einmal hat ein Teil dieses Landes zu Georgien gehört. Es hat nur 400000 Einwohner, diese aber setzen sich aus Angehörigen von 80 Nationen zusammen. Trotzdem wird Karatschai-Tscherkessien als „ruhiges Land im unruhigen Kaukasus“ bezeichnet. In der Türkei leben 2 Millionen Tscherkessen, weshalb die Türkei eher als Tscherkessien bezeichnet werden könnte als das eigentliche Stammland Karatschai-Tscherkessien. Sie sind jedoch oft schon vor langer Zeit hierher gekommen und sprechen oft ihre Sprache nicht mehr und sind Muslime geworden. Aber die tscherkessische Küche mit ihrer Ähnlichkeit mit der Georgischen hat sich hier gehalten. Es gibt so viele „Minderheiten“ hier in der Türkei, dass man sich manchmal wundert, dass es auch noch Türken gibt und dass diese hier die beherrschende Schicht sind. Vor ein paar Tagen war ich mit einer Freundin unterwegs, die Lasin ist, bzw. deren Vater Lase ist. Sie hat hellblonde Haare und blaue Augen und stammt aus der Gegend am Schwarzen Meer. Die Lasen essen gerne Fisch und backen in alles Mögliche ihre kleinen Sardinen/Hamsi hinein, wie mir schon die Lehrerin Zeynep erzählte, die auch von der Schwarzmeerküste stammt. Meine Freundin erzählte mir, dass die Lasen, die ursprünglich mal Christen waren, heute aber lange Muslime sind, heute noch eine ganz eigene Sprache sprechen. Da sie als „Minderheit“ mit 1,5 Millionen Menschen in der Türkei nicht anerkannt sind und ihre Sprache nicht gefördert wird, wird diese aber wohl bald aussterben. Getroffen hatte ich mich mit ihr in einem Café in einer Mahalle (Nachbarschaftsviertel) am Taksim, das auch von einer Frau geleitet wird. Von dieser, einer ganz bezaubernden mehrsprachigen Frau namens Elisabeth, hatte mir meine lasische Freundin schon erzählt. Sie sei Armenierin, was aber niemand wisse. Alle ringsum in der Nachbarschaft würden sie für eine Griechin halten, was ihr auch lieber sei. Besser Griechin als Armenierin. Sind ja beides Christen. Aber ihre Tochter ginge auf eine armenische Schule, was meine Freundin wiederum von einer anderen Freundin wusste, denn Elisabeth weiß nicht, dass meine Freundin inzwischen weiß, dass sie Armenierin ist. Die Griechen, die noch vor hundert Jahren einen Großteil der Bevölkerung Istanbuls stellten, sind heute in Istanbul sehr selten geworden. Aber sie sind anscheinend noch beliebter als die Armenier, sonst würde Elisabeth ihre Identität wohl nicht verstecken. Die Freundinnen, mit denen ich mich heute im Fıccın treffe, kann man auch nicht als reinblütige Türkinnen bezeichnen. Die eine sagt bei der Frage nach ihrer Herkunft immer, dass ihr Vater aus Aleppo stamme, weshalb sie dann oft gefragt wird, ob sie Arabisch sprechen könne. Aber schon ihr Vater konnte kein Arabisch mehr und man würde ihre Familie wohl eher als alteingesessene Istanbuler bürgerliche Familie bezeichnen als die Familie der zwei anderen jungen Frauen, die heute Abend mit uns am Tisch sitzen. Die beiden stammen nämlich aus Dörfern in der Nähe von Diyarbakir, wodurch ziemlich eindeutig klar ist, dass sie Kurdinnen sind. Da beide erst im Erwachsenenalter nach Istanbul gekommen sind, sprechen sie auch noch Kurdisch, bzw. einen speziellen Dialekt desselben, das Zaza, das als Sprache bis heute nicht anerkannt ist. Es gibt ca. 15 Millionen Kurden in der Türkei, von denen viele, aber nicht alle, neben dem Türkischen auch Kurdisch sprechen. Kurdisch hört sich für mich so ähnlich wie Arabisch an, ist allerdings wohl eher mit dem persischen Farsi verwandt. Das Wort Kurde kommt ethymologisch gesehen von dem Geräusch, dass das Gehen auf frisch gefallenem Schnee macht (wir würden es Knirschen nennen). Seitdem ich den Film Yol von Yilmaz Güney gesehen habe, weiß ich, wieviel Schnee in den Gebieten der Kurden fallen kann, die ziemlich gebirgig sind. Die fünfte und älteste Freundin hier am Tisch ist auch eine alteingesessene Istanbulerin, was bedeutet, dass schon ihre Eltern hier gewohnt haben. Aber dann ist sie es doch wieder nicht, weil sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter aus Weißrussland stammen und nach dem ersten Weltkrieg in die Türkei gekommen sind, wo sie zum Islam übertraten. Sie hat große blaue Augen und ist größer als die meisten Türk*innen, das sei das russische Erbe, sagt sie. Hier sitzen wir fünf, von denen drei Englisch sprechen, eine ein wenig Englisch versteht und eine nur türkisch, weshalb sich das Gespräch fast ausnahmslos auf türkisch abspielt, auf der Straße vor einem der 5 oder 6 Fıccınrestaurants, es ist ca. 7 Grad und wir sitzen hier draußen, weil drei von uns starke Raucherinnen sind und ich habe mir eine Decke um meine Beine gelegt, wir, das sind die 2 Kurd*innen, 1 Nachfahrin von Araber*innen, eine Nachfahrin von Weißruss*innen und eine Deutsche, die mit keinen exotischen Vorfahren dienen kann, aber hier in der Türkei als, wenn auch sehr beliebte, Exotin gehandelt wird. Wir essen wunderbare riesengroße gefüllte Nudeln, die Spezialität im tscherkessischen Restaurant, hier Manti genannt, in Georgien Chinkali, und trinken georgischen Saperaviwein. Zum Nachtisch gibt es Haschhasch-Mohnkuchen, getränkt in Zuckerlösung und anschließend türkischen Mokka in den kleinen Tassen. Die „Weißrussin“ ist gut im Kaffeesatzlesen, was sie dann auch prompt für uns macht. Das ist hier in der Türkei ganz normal und macht man eben so, besonders unter Frauen. Auch am Nebentisch sitzen heute Abend nur Frauen, einen Tisch dahinter sitzen nur Männer. Die Bedienungen sind aber ausnahmslos männlich, das ist anders als im georgischen Restaurant, wo ich vor zwei Tagen war. Dort bedienen ausnahmslos Frauen. Hängt das mit der Religion zusammen, dass in Restaurants mit muslimischen Besitzer*innen nur Männer arbeiten? Das können die Frauen am Tisch mir auch nicht sagen. Zwei Musiker kommen, mit Geige und einer Art Zitter. Bei den Musikern handelt es sich ausnahmslos um Angehörige der Roma. Die Romafrauen gehen währenddessen bettelnd an uns vorbei und schicken einen bezaubernden kleinen Jungen mit sehr großen Augen, der uns Rosen verkauft und für seine Niedlichkeit von der Kurdin lautstark auf beide Wangen geküsst wird. Die Männer haben jetzt ein Lied angestimmt, das „Mavi göz“ (blaue Augen) heißt, es ist von dem berühmtesten kurdischen Sänger Ibrahim Tatli (tatli-süß) und bleiben vor einem Tisch stehen, an dem ein Pärchen sitzt. Die junge Frau erbittet sich die Geige und fängt nun selber an zu spielen, sie spielt sehr gut. Die Vorübergehenden bleiben stehen und schauen ihr zu, sie ist blond und blauäugig, etwas, was man hier eher selten sieht. An meinem Tisch wird inzwischen mitgesungen, meine Freundinnen sind Fans von Ibrahim Tatli und sein Lied ist eines der bekanntesten Lieder der türkcu Musik, wie ich eben erzählt bekam. Und bald singen auch an den Nebentischen alle mit zur Musik der jungen Frau, die jetzt aufgestanden ist und weiter geigt, während die beiden Roma und auch alle Menschen an den Nebentischen ihr zuschauen. Wenn es um Musik geht, sind hier auf einmal alle ein Volk, beim Singen sind sie sich einig. Mavigöz, Mavigöz, blaue Augen, blaue Augen….