In Istanbul gibt es für mich immer wieder ganz neue erstaunliche Entdeckungen zu machen. Aber das gilt nicht nur für mich, sondern selbst für alteingesessene Istanbuler*innen wie meine Freundin Zeynep, die völlig baff war, als sie heute mit mir nach Kuzguncuk fuhr, wo ich mich auf die Suche nach einer armenischen Autorin machen wollte, die vor 150 Jahren in dieser Gegend geboren ist. Kuzguncuk ist der Name eines Stadtteiles (Mahalle) auf der asiatischen Seite des Bosporus, des letzten Stadtteiles hier in Istanbul, in dem keine Moschee stand. Erst 1952 wurde eine erbaut, damals im Garten der armenischen Kirche Surp Krikor Lusarovich mithilfe von Geldern der armenischen Gemeinde und mit Unterstützung des armenischen Priesters. Bis zu dieser Zeit hatten in Kuzguncuk eben vor allem Griechen, aber auch viele Armenier und viele Juden gelebt. Die ersten Bewohner Kuzguncuks, das ehemals „Goldener Ziegel“ hieß und dessen heutiger türkischer Name „kleiner Rabe“ bedeutet, waren wie überall die Byzantiner/Griechen. Sehr bald kamen aber auch viele Juden hierher, die sich dort, weit entfernt von den muslimischen Hochburgen Istanbuls ebenso wohl fühlten wie die Armenier. Kuzguncuk wird von vielen europäischen Juden, lese ich, als „die letzte Station vor dem Erreichen des Heiligen Landes“ angesehen. Es ist bekannt, dass diejenigen, die aus irgendeinem Grund nicht in das gelobte Land gehen konnten, ein Testament machten, um wenigstens in Kuzuncuk begraben zu werden. Die Grabsteine auf dem sehr großen jüdischen Friedhof sind teilweise schon vor der Ankunft der muslimischen Eroberer in Istanbul gesetzt worden.

Kuzguncuk ist der bisher grünste Stadtteil Istanbuls, in dem ich war. Und er hat eine tolle Stimmung. Auf einmal hat man den Eindruck, man sei plötzlich ganz woanders. Nicht nur wegen der guten Luft und weil es viel ruhiger ist als auf unserer europäischen Seite. Das ergriff auch Zeynep. Man denkt man wäre in Brooklyn, sagte sie, als wir, vom Bosporus kommend, in die Straße Icadiye (Erfindung) eingebogen waren, die die Haupteinkaufsstraße von Kuzguncuk ist. Ja, oder in San Francisco, sagte ich. Die Häuser sehen ähnlich aus, malerische wunderschöne Holzhäuser, in den unteren Geschosse mit Restaurants, hippen Cafes, gentrifizierten Geschäften. Wenn nicht, zu Zeyneps großem Missfallen in all diesen Restaurants und Cafés ein Alkoholverbot herrschen würde. Das kann allerdings nicht an den Preisen für Alkohol liegen, denn die Preise in den Cafés hier in Kuzguncuk waren gestern überdurchschnittlich hoch; dass kein Alkohol ausgeschenkt wird, liegt eher an den überdurchschnittlich vielen Frauen mit Kopftuch und Männern mit Gebetsketten, die hier inzwischen zu wohnen scheinen oder nur zum Gucken gekommen sind. Deren Anblick verwundert ein wenig, wenn man durch Kuzguncuk geht, das voller Synagogen und wunderschöner Kirchen ist und deren zentralster Bau aus der Jahrhundertwende ein wunderbarer Bookshop ist, den die armenische Architektenfamilie Balyan, die auch den Dolmahbahcepalast und einige andere zentrale Bauten der ottomanischen Zeit errichtet hat, erbaute. Früher, d. h. bis noch um 1930 herum, muss in Kuzguncu eine Atmosphäre großer gegenseitiger religiöser Toleranz geherrscht haben. Zu dieser Zeit war aber auch die christliche und jüdische Bevölkerung noch in der Mehrheit. Ein prächtiger Glockenturm mit einem Porträt von Atatürk (was hat der Verantwortliche für den großen Griechenaustausch des Jahres 1923 mit einer griechischen Kirche zu tun, frage ich Zeynep, sie kommentiert das mit einem Kopfschütteln) steht neben der griechischen Kirche an der Hauptstraße. Kein Schild erklärt, mit was für einer Kirche wir es zu tun haben. Später erfahre ich, dass es sich um eine Kirche handelt, die St. Pantaleon gewidmet ist. Das finde ich deshalb besonders interessant, weil ich ja in Köln neben der Kirche St. Pantaleon wohne, die auch tatsächlich die Gebeine desselben Heiligen beherbergt. Wie schön, dass ich nun auch in Istanbul die Kirche desselben gefunden habe. Leider aber ist kein Hineinkommen zur Kirche mit ihrer heiligen Quelle, die erstmals um 550 herum erwähnt wurd. Da werden wir wohl an einem Sonntag wiederkommen müssen, sage ich zu Zeynep, die von diesem Vorschlag auch sehr angetan ist. Auch die Synagogen in Kuzguncuk sind wie alle Synagogen in Istanbul fest verschlossen. Schon vorher hatte ich gelesen, dass fast alle Juden aus Kuzguncuk inzwischen nach Israel ausgewandert sind und Aktivitäten in den Synagogen nur noch stattfinden können, weil Geld aus der Diaspora von ehemaligen Gemeindeangehörigen gespendet wird, die noch manchmal aus aller Welt hier zu Besuch kommen. Die Juden also sind fort, leben hier nicht mehr. Die Griechen sind auch so gut wie spurlos verschwunden und die wenigen Armenier leben versteckt und unauffällig, es gibt mehrere armenische Kirchen, die aber auf den ersten Blick nicht zu entdecken sind. Kuzguncuk, auf ehemals strategisch guter Lage gebaut, mit zauberhaften Tälen und Hügeln versehen, überaus grün, voller Gärten, uralter Feigenbäume, romantischer wunderschöner Häuser, ist seit mehren Jahren bekannt geworden, weil hier gerne Serien mit Szenen aus dem alten Istanbul gedreht werden. In diesen Serien sieht es dann allerdings nicht so aus, als wenn, wie es wirklich war, hier vor allem eine nichtmuslimische Bevölkerung lebte und aus den griechischen Tavernen nachts oft lautes Gelächter und Musik drang. Vergessen und verdrängen wird in der Türkei nicht nur in den Medien gefördert. Der große türkische Dichter Can Yücel kommt aus Kuzuncuk, er ist hier geboren und hat den Ort in seinen Gedichten besungen. Eine Straße wurde nach ihm benannt. Sein Geburtshaus steht dort auch noch, aber keine Tafel deutet auf ihn hin. Ich will mit einem Gedicht dieses Dichters enden, der 1926 geboren wurde und 1999 in Izmir gestorben ist. Er war ein Erneuerer der türkischen Lyrik, hatte keine Angst vor obszönen Wörtern im Gedicht, war aber auch politischer Autor und saß mehrere Jahre im Gefängnis. In der Türkei ist er in Dichterkreisen sehr bekannt, in Deutschland ist er eher völlig unbekannt. Über seinen Geburtsort Kuzguncu schrieb er die folgenden Zeilen: „Ich habe in Kuzguncuk einen grünen Ast gefunden, an dem ich mich festgeklammert habe. Ich lebe in Kuzguncuk; auf der gleichen Etage wie die Möwen.“