Als ich heute am Morgen die Gardine öffne, schneit es schon. Der Schnee ist seit Tagen für heute angekündigt und soll noch einige weitere Tage anhalten, aber ich habe seit gestern, als ich davon erfuhr, gehofft, dass die Wettervorhersage vielleicht doch nicht eintrifft. Er fällt langsam, in großen Flocken, hat die gegenüberliegenden Dächer weiß gemacht. Der Morgen ist so ungewohnt hell und licht und die Silhouetten der Häuser in der Ferne werden ganz weich, verschwimmen. Aber heute kam ich mich nicht ganz so sehr über diesen ersten Schnee des neuen Jahres freuen, wie ich es früher immer getan habe. Wann es wohl angefangen hat zu schneien? Die Freundinnen freuten sich gestern Abend, als wir uns zum Mezzeessen im armenischen Restaurant trafen und sie mir vom angekündigten Schnee erzählten, von dem ich noch nichts wusste. Dann bleibst du vielleicht noch länger hier in Istanbul, für die nächsten Tage, sagten sie mir, sei Katastrophenalarm angekündigt. Die Freundinnen hatten mir extra nichts davon gesagt: Wir wollten dich nicht nervös machen. Die Schulen sind für heute und morgen und am nächsten Montag und Dienstag geschlossen. Das verringert den Verkehr ein wenig, wenn die Schulbusse nicht unterwegs sind. Und alle Laster haben Fahrverbot, wegen des Schnees. Fällt denn die Schule ganz aus? Nein, die Kinder müssen wieder per Skype lernen, sagt mir Nurgül. Eine riesengroße Schneeflocke fliegt gegen mein Fenster, bleibt daran hängen, rutscht langsam runter. Immer wieder sieht es zwischendurch so aus, als wenn es wieder aufhören würde zu schneien und dann beginnt es doch wieder. Mir fällt Orhan Pamuk ein, sein Buch „Schnee“, das mit einer so wunderbaren Schilderung des Schneetreibens in der kurdischen Stadt Diyarbakir beginnt. Es war das erste Buch von ihm, das ich gelesen habe. Ich denke an meinen Abreisetag im Dezember letzten Jahres. Damals schneite es nicht, als ich abfuhr. Wir hatten morgens gemeinsam gefrühstückt, alle Freundinnen waren gekommen, mein Deutschschüler auch und wir hatten zwei Stunden türkisches Frühstück – kahvalti– zu uns genommen, bei Kerzenschein und im warmen Café, der Raum war groß und Zeynep ging damals zum Rauchen eben nach draußen. Als das Taxi mich an diesem 23. Dezember abholte, war es bedeckt und sah nach Regen aus. Aber als wir auf die Zubringerautobahn fuhren, fing es plötzlich und völlig unerwartet an zu schneien. Heftig und viel. Von den Ebenen links und rechts kamen große Schauer Schnees, so dass wir bald kaum noch etwas sehen konnten. Im Nu war die Autobahn Autofrei. Aber mein Taxifahrer war völlig unerschrocken und fuhr sehr schnell mit seinem Mercedesbus, über dessen stabiles Aussehen ich sehr froh war. Ich hatte aber schon ein wenig Angst, ungefähr soviel wie ich die Male davor hatte, wenn ich immer unangeschnallt im Taxi saß, weil es keine Haltegurte gab, oder wenn die Kupplung eines Taxis nicht richtig funktionierte, und der Fahrer unbeirrt weiterfuhr. Aber mein Taxifahrer brachte mich damals im Schneetreiben sicher zum Flughafen. Als ich dort ankam, hatte sich innerhalb kurzer Zeit schon eine dicke Schicht Schnee auf den Straßen gebildet. Die hat sich heute unten auf der Straße noch nicht gebildet, oben ist alles weiß, aber auf der Straße liegt Wasser. Es wird wohl doch klappen mit meiner heutigen Rückfahrt. Zeynep hat mir wie immer ein Taxi bestellt, es heißt Lukstaxi und ist sehr zuverlässig und nicht teuer. Für die einstündige Fahrt, die heute, weil ich erst spät am Nachmittag losfahre, durchaus anderthalb Stunden dauern kann, zahle ich ca. 20 Euro. Zeynep werde ich leider heute nicht mehr sehen können, sie ist auf der asiatischen Seite, bei ihrer Mutter, die gestern Abend ins Krankenhaus kam und es gibt keine Möglichkeit, bei diesem Wetter noch hier auf meine Seite zu kommen. Ich bin ein wenig traurig, dass ich sie nicht mehr sehen werde. Aber vielleicht fällt der Flug ja doch aus! Eine Freundin ruft an, sie sagt, die Stadtverwaltung habe diesmal völlig übertrieben reagiert, nachdem sie im Januar bei dem heftigen Schneefall total versagt hatte. Hoffentlich klappt es mit meinem Flug, ich möchte jetzt doch wieder zurück nach Köln. Inscha allah, so Gott will, würde der Türke jetzt sagen. Bei uns sagt man den Kindern, dass die Schneeflocken von Frau Holle kommen, erklärte ich gestern Hivda, der Kurdin, deren Namen brennender Mond bedeutet und erzählte ihr von dem Märchen von Frau Holle. Sie hatte nämlich vor zwei Tagen ihren Termin vor Gericht, wo der ihr nach der Geburt verpasste türkische Name, den sie nicht mehr haben will, umgewandelt werden soll in ihren kurdischen Namen Hivda. Aber obwohl vorgestern der Tag der Frau war und sie eine Richterin hatte, wurde der Termin für die Verhandlung um drei Monate nach hinten gelegt. Das ist ungerecht, sagt sie. Sie will ins Ausland gehen und studieren und kann das aber erst tun, wenn sie ihren neuen Namen hat. Wie sagt man es denn im Türkischen, wer bringt denn bei euch den Schnee, fragte ich Hivda gestern Nacht, als wir unserem Abschiedsessen im armenischen Restaurant nach Hause gingen. Da hob sie die Hände zum Himmel und sagte mit ihrer unnachahmlichen Aussprache und verdrehte dabei ein ganz klein wenig die Augen: Allah!!