Hunde sind besser als Menschen, sagt der Mann, der an der uralten Mauer hockt, die schon das noch christliche Konstantinopel vom feindlichen Umland trennte. Ich bin mit Zeynep unterwegs, die bei jedem auf der Straße herumlaufenden Hund einen Stopp macht, um ihn zu streicheln und Laute der Begeisterung auszustoßen. Sie würde den Satz des Mannes, den sie mir eben übersetzt hat und der ihr jetzt die Namen der um sie herumstehenden Hunde nennt, wohl auch unterschreiben. Ich hingegen muss an meinen Großvater denken, der das auch immer sagte und in dessen Schreibtisch wir nach seinem Tode nur Fotos von seinen Hunden fanden; kein einziges Foto seiner Kinder, Enkelkinder oder seiner Frau. Wie mag meine Großmutter sich gefühlt haben, als sie das entdeckte? Wir sind heute in Istanbuls ehemalig jüdischem Stadtviertel Balat unterwegs, denn es ist Dienstag und Dienstag ist hier Markt. Markt heißt Gemüse, Obst, Eier, Fisch und auch jede Menge Klamotten und Kleinkram. Hinter einem Stand laufen ein paar riesige schwarze Truthähne frei herum, die man auch käuflich erwerben kann. Ich muss an meine spanischen Freunde denken, die mir erzählten, dass sie zu Weihnachten früher immer lebende Truthähne kauften und diese so lange in der Badewanne hielten, bis Heiligabend bevorstand und man ihnen den Hals umdrehte. Ob die Truthähne hier in Balat wohl weglaufen würden, wenn sie wüssten, was ihnen bevorsteht? Wir gehen den Hügel von Balat hoch Richtung Blachernenpalast, als wir an einem Café vorbeikommen, von dem aus man eine herrliche Aussicht über die Alt- und Neustadt und das goldene Horn hat. Molla Café steht dort und das gefällt Zeynep nicht, denn Molla ist das türkische Wort für Mullah, was ursprünglich das Wort für Richter war und es deutet immer auf eine bestimmte fundamentalistisch religiöse Richtung hin. Auf der blumengeschmückten Schaukel vor dem Café kann man sich die jungen religiösen Mädchen mit Gesichtsschleier schon gut vorstellen. Aber wir gehen dort dann doch einen Tee trinken und essen eine Suppe für 50 Cent und gucken in die Ferne, bis hin nach Asien. Neben uns picken hinter einer kleinen Mauer ein paar Hühner auf dem Boden und drei Gänse kommen gelaufen und warten, ob wir ihnen etwas von unserem Brot geben. Hinter uns ragt ein uraltes byzantinisches Gemäuer hoch, bei dem es sich um die ehemalige ungarische Botschaft handelt. Hier in diesem Viertel gab es früher Ungarn, aber noch viel mehr Griechen und Juden, steht in meinem Reiseführer. Jetzt hingegen sind hier nur noch Muslime und viele der schönen alten Häuser aus der Jahrhundertwende ziemlich heruntergekommen. Das Café gehört zur nahe gelegenen Moschee von Acik Mollah, die verschlossen ist. Wir machen uns auf den Weg zu den Hazetleri, ein paar muslimischen Heiligen, bei denen es sich um Soldaten handelt, die während der Eroberung Konstantinopels gefallen sind. Der erste dieser Hazetleri (Heiligen) ist allerdings sogar ein Weggefährte Muhammeds aus dem Jahr 600 mit dem Namen Hz. Su´Be Kabri. Sein Grab ist wie die Gräber der fünf anderen Heiligen, die wir heute noch besichtigen, von hohen Gittern umgeben. Zeynep hebt, als sie davorsteht, die Hände mit der typischen muslimischen Betbewegung, um mir zu zeigen, wie die Gläubigen beten, wenn sie dort stehen. Wenn ich noch weiter mit Dir religiöse Kultstätten aufsuche, werde ich womöglich noch gläubig, sagt sie und lacht mich an. Sie, die noch nie in einer Moschee war, findet jetzt Gefallen daran, ihre Stadt einmal entlang von religiösen Städten aufzusuchen, sagt sie dann und auch, dass natürlich keine Gefahr besteht, dass sie eventuell religiös werden könnte. Eine Frau mit schwarzem Umhang und einem winzigen Kind im Arm kommt vorbei und hält es uns stolz hin. Es hat sehr dunkle Augen und Wimpern und ist fest in eine weiße Decke eingewickelt. Es sei ein Junge, sagt sie und dass er Can (Liebling) heißen würde. Sie geht weiter, ich schaue ihrer schwarzen Silhouette hinterher und muss noch eine Weile an ihr Lächeln denken. Der nächste Ort, den wir besichtigen, ist eine sehr schöne Moschee, die von Schülern des berühmten Architekten Sinan erbaut wurde, von dem ich ja schon öfter auf diesem Blog berichtet habe. Hinter der Moschee sind wieder byzantinische Ruinen. Zwei Männer stehen dort. Heute haben wir schon oft nach dem Weg und dem Wohin und Woher gefragt und so bitte ich Zeynep, sie zu fragen, was das für Ruinen sind. Ein ehemaliges Gefängnis, erzählt sie mir, und dass es sieben Stockwerke habe und gerade renoviert werde. Der Mann redet weiter. Zwei Jahre sei er hier schon angestellt, er solle das Gefängnis bewachen. Seit zwei Jahren komme er also jeden Tag, um aufzupassen, dass in den tausend Jahre alten Ruinen nichts gestohlen werde und sich keine Obdachlosen einnisten. Aber in dieser Zeit sei es überhaupt nicht mit den Renovierungsarbeiten vorangegangen, nicht an einem Tag seien die Archäologen gekommen…nicht wegen Corona, sondern weil kein Geld da sei. Nur für ihn, den Wachmann, sei Geld da. Wir gehen weiter, müssen uns durchfragen, um den Weg zu finden, kommen immer wieder an kleinen Gruppen von muslimischen Frauen vorbei, die vor ihren Häusern oder hinter vergitterten Fenstern sitzen und an ihren Gebetsketten drehen und uns gerne Auskunft geben und kommen dann in ein etwas heruntergekommenes Viertel, das mein Reiseführer als „Zigeunerviertel“ bezeichnet. Vorne tollen auch schon mehrere halbstarke Kinder mit zwei schmutzigen und ebenfalls halbstarken Hunden herum, Pamuk (Baumwolle) heißt der eine Hund, der andere heißt Zeytin (Olive) . Zwei Frauen ohne Kopftuch und mit gefärbten Haaren begrüßen uns freundlich. Ein größerer Junge klettert mit seinem kleinen Bruder hinter ihnen auf das wacklige Dach der Baracke, in der sie wohl wohnen und auf das ich meine Kinder nie gelassen hätte und reinigen mit einer langen Stange einen Schornstein, der ebenso nach oben und in den blauen Himmel ragt wie die vielen Minarette, an denen wir schon vorbeigekommen sind. Wir streicheln die jungen Hunde, die uns begeistert anspringen und gehen weiter bis zum letzten Heiligengrab des heutigen Tages. Es ist in einen Moscheenkomplex eingelassen, der auch unmittelbar an byzantinische Mauerreste grenzt und ebenso wie die anderen Türben von einem hohen Zaun umgeben. Wieder ist plötzlich alles voller Jungen, die mich bestaunen. Oha, wie groß bist du denn, sagt ein etwas übermütiger winziger Schelm und zeigt auf mich. Und plötzlich klettern sie über den hohen Zaun und auf das Dach der Moschee. Es ist kalt in Konstantinopel, aber die Sonne scheint auf das Dach der Moschee, auf dem die Kinder sitzen und uns anlachen. Nur ein schmutziger dünner Junge bleibt auf der Straße, der hat einen ziemlich gefährlich aussehenden Kampfhund an der Leine. Fünf sehr gut renovierte Türben/Grabmäler haben wir heute besichtigt, nach dem Grab des Gefährten von Mohammed waren es noch die Türben von Avcı Başı Mehmed Bey Kabri, Abdullah El-Hudri Türbesi, Ebu Zer El Gıfari türbesi und die Ka´b Türbesi. Alles Araber, meckert Zeynep, als wir weiter und nach unten zum goldenen Horn und zum Markt gehen. Die Preise sind in den letzten sechs Wochen sehr angestiegen, teils auf das doppelte und dreifache, erzählt Zeynep mir. Mir kommt es immer noch billig vor. Aber die Türken haben jetzt im Winter viel mehr Belastung durch hohe Strom- und Gasrechungen und deshalb weniger Geld, um Essen kaufen zu können, sagt Zeynep. Als wir uns anschließend in ein Café setzen, kommen immer wieder Bettler und strecken die Hand aus und Zeynep und ich öffnen abwechselnd unsere Portemonnaies und legen Geldscheine hinein. Wir bestellen einen Tee und sitzen vor dem Café und schauen ins Gewühle. Das Leben war heute sonnig hier in Balat, aber dass das Leben hier auch sehr hart ist, haben wir immer wieder gesehen auf unseren Wegen. Den Hunden hier in Balat geht es übrigens so wie allen Hunden in Istanbul. Sie werden überall gefüttert, geliebt und versorgt und in ihrer Nähe ist immer jemand, der sie beim Namen nennen kann. Es geht ihnen auf jeden Fall besser als dem namenlosen Kind mit der Hose voller Löcher, das jetzt, ohne Strümpfe und Jacke, bei 6 Grad Kälte vor uns steht und seine Hand ausstreckt.