Meinen letzten Tag in Istanbul werde ich mit Zeynep verbringen. Wir treffen uns auf der Fähre, die von Besiktas aus den Bosporus hoch Richtung des Schwarzen Meeres fährt. Kurz bevor sie auf die Fähre steigt, sehe ich sie am Anleger stehen, neben ihr ein großer Hund, der nicht von ihrer Seite weicht. Wieder einer der vielen wilden Hunde, die sie liebt und die sie lieben. Sie kann sich aber von ihm losreißen und kommt aufs Schiff und wir fahren zusammen weiter. An der letzten Haltestelle Sariyer steigen wir aus und setzen mit einer anderen Fähre auf die asiatische Seite über. Wir wollen den Berg besteigen, auf dem sich das Grab von Josua befindet. Schon als wir übersetzen, bei Temperaturen kurz über dem Gefrierpunkt – in Sariyer ist es immer 5 Grad kälter als in Istanbul, sagt Zeynep – sehe ich den Schnee auf den Hügeln und den Häusern der asiatischen Seite. In Anadolukavağı steigen wir aus. Das Grab ist 4km entfernt und es ist sehr kalt und so sehen wir uns nach einem Taxi um. Hier gibt es keine Taxis, sagt uns der Kellner, der vor dem Restaurant auf Kunden wartet, aber es gibt einen sehr freundlichen älteren Mann, der neben seinem etwas verbeulten Privatauto steht und uns dann gegen kleines Geld nach oben fährt. Das ist so eine Art Privattaxi, sagt Zeynep, davon gibt es in den Dörfern viele. Ich bin froh, dass wir gefahren werden, denn an der Straße gibt es keinen Bürgersteig und es wird immer kälter und kälter. Oben erwartet uns das übliche Ambiente muslimischer Wallfahrtsorte. Als erstes also Buden mit Andenken, mit Pfannkuchenbäckerinnen, Stände mit Kaktusfeigensaft und Glasfiguren, Istanbuldecken und Tüchern jeder Art. Noch im Auto habe ich mich schlau gelesen, was Josua anbetrifft, den man eher als Joshua und aus englischsprachigen Spirituals kennt, als aus dem Religionsunterricht. Es handelt sich anscheinend um eine Figur aus dem Tanach, nämlich um den Nachfolger Moses bei der Landnahme der Israeliten im heutigen Israel/Palästina. Es gibt wohl drei Orte, an denen er angeblich begraben sein soll, in Jordanien, in Israel und eben in Istanbul. Ein längerer Artikel, auf den der Wikipediaeintrag zum Joshuagrab (Yuşa Hazretleri Tepesi) verweist, versucht zu beweisen, dass in dem 12 m langen Grab von Joshua auf dem Joshuahügel am Bosporus, auf dem wir jetzt gerade stehen und auf Istanbul hinuntersehen, in Wirklichkeit Jesus liegen soll. Jesus soll laut diesem Artikel nämlich nicht in Jerusalem sondern in Wirklichkeit in Konstantinopel gewesen sein. Am Grab, das von einer Art grünem Eisenzaun umgeben ist und auf dem ein jetzt im kühlen Dezember blühender Kamelienstrauch steht, stehen viele Gläubige mit erhobenen Händen und beten. Davor steht aber ein Schild, auf dem steht, das übersetzt mir Zeynep, dass man hier nicht das Gitter küssen oder das Grab umranden solle, das wäre nicht religionsgemäß und dürfe man nur in Mekka, zur Wallfahrt an der der Kaaba. Das finde ich interessant. Zeynep interessiert sich gar nicht für religiöse Orte, aber sie hat immerhin hier oben wieder ein paar Straßenhunde gefunden. Ich streichle einen, das ist aber nicht angenehm, weil er so ein fettiges Fell hat, was ihm wohl jetzt, bei der Kälte hier oben, ein wenig Wärme gibt. Dann gehen wir wieder in Richtung der Buden und überlegen, ob wir schon unseren Taxifahrer anrufen sollen, damit er uns abholt. Auf dem Weg raus aus der Moschee kommt ein Mann mit einer großen Kiste lauwarmer Simits und überredet uns, einen zu nehmen und will uns unbedingt noch einen Saft dazu geben. Wir denken, dass wir bezahlen sollen, aber er macht das, weil es Glück bringt, anderen Menschen an einem heiligen Ort etwas zu essen zu geben. Als wir weitergehen, kommt noch eine junge Frau, die uns Schokoriegel aufdrängt. Dann sind wir wieder in der Gegend mit den vielen Buden voller billiger Mitbringsel, Obst und Kaktusfeigenhändler und setzen uns in einem versteckten Teegarten, von dem aus man bis zum Schwarzen Meer blicken kann, draußen an einen schneebedeckten Tisch, denn Zeynep will immer draußen sitzen, damit sie rauchen kann. Ein bulliger Mann kommt und bringt den Tee und unterhält sich mit uns. Er sei Bodyguard, erzählt er und er wolle auch nach Deutschland. Er zeigt uns Fotos von sich und seinem muskulösen Körper. Das ist allerhand. Als wir wieder rausgehen, flüstert Zeynep mir zu: Der ist auch einer, der für Tayyip ist. Hinterher sagt sie noch, wie auffällig es doch ist, dass diese muskulösen Typen immer so wenig im Kopf haben…

Unser Taxifahrer kommt und bringt uns zurück nach Anadolukavağı, wo wir uns in ein sehr schönes Restaurant direkt ans Wasser setzen, draußen natürlich (bei 1 Grad und ohne Heizung) und Mezze essen und Raki trinken. Glücklicherweise kommt eine bezaubernde Katze, die auf meinem Schoß Platz nimmt, so dass ich etwas Wärme habe. Ich fühle mich wie im Urlaub. Griechische Musik läuft, aber die Besitzer sind keine Griechen, sagt Zeynep. Das ist lange her, dass hier Griechen waren. Der Kellner will mir partout die Quittung nicht geben, so dass ich nicht bezahlen kann, anscheinend hat Zeynep ihn vorher instruiert. Hinterher hat er aber doch ein schlechtes Gewissen. Ähnlich hatte sie schon bei unserem ersten gemeinsamen Essen den Kellner angewiesen, der sich auch nur von ihr bezahlen ließ. Wir lassen wieder unseren privaten Taxifahrer kommen und fahren nach Beykoz, wo ich um 19 Uhr eine Lesung habe. Die Lesung findet statt im Museum des Nationaldichters Memet Akif Erköy. Schon als wir in das Museum gehen, bin ich sehr erstaunt, dort nur Frauen mit religiöser Kleidung zu sehen. Wir gehen die Treppe hoch, ein sehr netter Raum erwartet uns, auch dort wieder nur Frauen in religiöser Kleidung. Die sind aber alle sehr aufgeschlossen, insbesondere eine Frau, die die Chefin zu sein scheint und von den jüngeren Frauen „Hodscham“( meine Lehrerin) genannt wird. Sie ist auch wirklich Lehrerin, und auch alle anderen Frauen hier sind Lehrerinnen und später kommt sogar noch ein Schüler dieser Lehrerinnen. Wir unterhalten uns angeregt und ich trage im Vorhinein auf Wunsch den Frauen ein Gedicht vor. Sie erzählen mir von Goethe und ihrem Lieblingsgedicht „Ich denke dein…“ ich erzähle ihnen von Nazim Hikmet und meinem Lieblingsgedicht „Ceviz Ağci“. Dann kommen die anderen Dichter, die heute eingeladen sind und auch der Moderator, der sich als der Mann herausstellt, der mir am Vorabend im Atlaskino sein Buch geschenkt hat, von dem mir doch jemand gesagt hatte, ich solle es wegtun! Nun sitzen wir da. Die Hodschamfrau fragt mich, ob sie meine türkischen Übersetzungen vorlesen solle und ich frage den Übersetzer, ob er damit einverstanden ist, dem macht es nichts aus. Aber als sie sich dann die Gedichte genauer anguckt, stellt sie fest, dass sie nicht alle lesen kann. Das Gedicht „Der Taksim bei Nacht“ ist ihr dann wohl doch zu modern und genauso ist es mit „Die Treppe am Galatasaraygymnasium“: Aber „Kelebek“ und „Atatürk“ gefallen ihr, das letztere sogar so gut, dass sie sich die türkische Version erbittet, weil sie sie am nächsten Tag ihren Schülern vortragen wolle:

atatürk

deine blauen augen mustafa

kemal deine blauen augen sind

nachkoloriert auf den vielen

schwarz weiß fotografien

an thessaloniki

fuhr ich einst vorbei

auf dem weg nach thassos da wusste

ich noch nichts von dir

du kamst dort aus einer mutter die

vielleicht auch blaue augen hatte

und sich sicher freute als sie deine

augen sah

was man jedoch nicht erkennen

kann auf den nicht nach kolorierten

schwarz weiß fotos

die es von ihr gibt

als du zum ersten mal

in den himmel über der ägäis

gesehen hast warst du ein kind

wie viele andere

und vielleicht

mustafa kemal stritten sich als du

zum ersten mal die augen aufgeschlagen

hast wie eben jetzt und hier vor meinem haus

leute auf der straße

und schaute eine katze aus dem kellerloch raus

oder es läuteten die glocken zum morgengottesdienst

und jemand spielte auf der duduki eine klagende melodie

und dann sang wohl in

der ferne der muezzin und ging

ein trinker aus der taverne

nach hause hin

Während sie das Gedicht vorträgt, fängt genau an der Stelle mit dem Muezzin tatsächlich der Muezzin an zu singen. Alle erstarren erst, dann müssen sie lachen. Der Dichter, dessen Buch ich wegwerfen sollte, entpuppt sich als sehr eloquenter Moderator, allerdings auch etwas islamisch angehaucht. Anschließend gibt es noch eine interessante Diskussion darüber, ob die Inspiration von Gott kommt, wie die meisten der hier Anwesenden meinen, oder aus dem Menschen selber. Und außerdem darüber, dass der Rhythmus in meinem Gedicht „Kelebek“ sehr viel Ähnlichkeit mit einer sehr typischen türkischen Rhythmusform habe, von der ich noch nie gehört hatte. Wir machen Fotos, unter anderem auch eines von Zeynep, die die Veranstaltung ohne mit der Wimper zu zucken, durchgestanden hat und mit der Hodschamfrau und mir. Ich frage sie jetzt, wie sie heißt und sie sagt zu mir: Zeynep! Und dass ich mir nun etwas wünschen dürfe, das sei so, wenn man zwischen zwei Personen gleichen Namens stehen würde!