Der Mann auf dem Foto heißt Ihsan Gedik. Er war vor vielen Jahren einer der vielen namenlosen Nebendarsteller in den vielen Filmen der goldenen Ära des Films „Yesilcam“. Er hat in 600 Filmen mitgespielt, war oft Revolverheld, hat manche Pferde geritten und auch in Kostümfilmen eine gute Figur gemacht. Er ist mir seit Beginn meines Aufenthaltes hier in Istanbul aufgefallen. Jeden Tag, wenn ich durch die alte Hollywoodstraße Yesilcamsokak ging, sah ich ihn an einem Tisch vor dem Yesilcamcafé sitzen. Im Yesilcamcafé sind auch jede Menge Fotos von Schauspielern aus den großen Filmen der Vergangenheit zu sehen. Sie sehen alle so aus wie Schauspieler aus den großen italienischen Filmen der Vergangenheit, sind aber Türken. Die Frauen haben oft blonde Haare und tief ausgeschnittene Dekolletés, sie sind mit Elizabeth Taylor, Gina Lollobrigida und Marily Monroe zu verwechseln. Sie wirken sehr modern und tragen dieselben Kleider wie ihre westeuropäischen Kolleginnen der Zeit. Ihsan fiel mir vom ersten Tag an auf, weil er sich so besonders altmodisch und sorgfältig kleidet. Er ist immer wie ein Dandy angezogen, trug oft schneeweiße Anzüge und manchmal sehr schicke Hüte, blank geputzte spitze Schuhe und Trenchcoats a la Humphrey Bogart, hat lockige schneeweiße Haare und ein Gesicht wie ein griechischer Gott. Als ihm auffiel, wie oft ich durch diese Straße gehe, fing er an mich zu grüßen. Da ich aus meiner Zeit am Theater ein Faible für Schauspieler habe, fand ich ihn sehr interessant. Er ist sehr auffällig und völlig aus der Zeit gefallen. Er trinkt seinen türkischen Kaffee und ist vielleicht der Besitzer des Cafés, überlegte ich. Vielleicht ist er aber auch nur ein armer Schlucker. Wer er in Wirklichkeit ist, wusste ich nicht, bis ich vor ein paar Tagen sah, dass er neben sich auf einem Tisch einen Stapel von Büchern mit Bildern aus der Kinogeschichte der Türkei hatte. Auf dem Titel waren alte Rollenfotos von ihm, wie ich sofort erkannte. Nachdem ich gestern mit Zeynep ins Kino gehen wollte, aber der Film nicht stattfand, weil wir die einzigen waren, die ihn sehen wollten, gingen wir anschließend am Yesilcamcafé vorbei und erwarben eines seiner Bücher. Er schrieb mir eine Widmung hinein. Später las ich, dass er schon 80 Jahre alt ist und die Bücher verkauft, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er ist seit 55 Jahren als Schauspieler tätig und hat in 600 Filmen mitgespielt. Das Buch kostete 8 Euro. Hier in dieser Straße, in der schon noch öfter Dreharbeiten sind und die alten Helden der Filme aus den 70er Jahren, der großen Zeit des türkischen Kinos, im Yesilcamcafé sitzen, türkischen Kaffee trinken und sich zunicken, ist die Zeit irgendwie stehen geblieben. Zeynep unterhält sich mit Ihsan. Er ist einer von diesen Schauspielern ohne Namen, sagt sie mir anschließend. Sie erzählt ihm, dass ihr Exmann Filmregisseur ist und Ihsan sagt, dass er ihn schon als 13jährigen kennengelernt habe. Denn auch der Vater von Zeyneps Exmann war schon Filmregisseur und hat anscheinend seinen Sohn zu Dreharbeiten mitgenommen. Ihsan war in allen seinen Rollen einer, der von den Guten, den Protagonisten, am Schluss umgebracht wurde, sagt Zeynep. Er hat immer die Rolle des Bösen verkörpert. Wer in diesen Filmen mitspielte, wurde auf eine Rolle festgelegt. Die Filme wurden den ganzen Sommer über in Openairkinos gezeigt, die gab es über die ganze Stadt verteilt. Jede Woche wieder gab es wieder einen neuen Film, immer ging es um einen guten Mann, einen bösen Mann und eine schöne Frau, um die beide sich bewarben. Wir liebten diese Schauspieler, die Protagonisten vor allem. Auch Yilmaz Güney, der kurdische Regisseur von „Yol“, war in den siebziger Jahren einer dieser gutaussenden Protagonisten in türkischen Filmen. In der Filmindustrie waren nicht nur kurdische, sondern vor allem überdurchschnittlich viele armenische und jüdische Schauspieler, sagt Zeynep mir auch noch. Aber da sie oft ihre Namen änderten, wussten das viele nicht. Einer der berühmtesten Schauspielerinnen dieser Zeit, Adile Nasit, einer Armenierin, die den Typ warmherzige mütterliche gutgelaunte Frau verkörperte, sind auch einige Seiten in Ihsans Buch gewidmet. Im Filmbusiness wurde wohl nicht so genau auf die Herkunft geachtet wie in allen anderen Bereichen hier in der Türkei. Dass die Filme so populär waren und die Stars so berühmt, dass sie selbst heute noch jeder hier kennt, war nur in den 70er Jahren so. In den Achtzigern wurden andere Filme gedreht, Sexfilme, die hatten nichts mehr mit den Filmen der 70er Jahre zu tun, berichtet Zeynep mir. Seltsam, dass es hier in der Türkei Filme mit Sex gab, muss ich denken. Heutzutage ist das fast undenkbar. In den Straßen rund um die Yesilcamsokak, wo früher die Filmstars flanierten und Sekt und Raki tranken, sitzen heute die arabischen Frauen mit Kopftuch, die sich ihre Nargiles/Shishas reinziehen und von ihren Brüdern bewacht werden und außer Tee, Ayran und Saft wird nichts serviert. Die Zeiten ändern sich. Als ich zu Hause das Buch von Ihsan aufschlage, ist auf der ersten Seite Atatürk, der stolze Republikgründer und Modernisierer mit einem Zitat zur Filmkunst seines Landes zu sehen: 

Das Kino ist eine solche Entdeckung, dass sich eines Tages zeigen wird, dass nicht das Schießpulver die Front der Weltzivilisation verändert, und auch nicht die Entdeckung von Elektrizität und Kontinenten. Das Kino wird dafür sorgen, dass Menschen, die am anderen Ende der Welt leben, sich kennen und lieben lernen. Das Kino wird die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Menschen auslöschen; den größten Beitrag zur Verwirklichung des Ideals der Menschheit leisten. Wir müssen dem Kino die Bedeutung geben, die es verdient. 

Unter diesem Zitat steht Atatürks schwungvolle Unterschrift, die übrigens erst nach Verleihung des Ehrentitels Atatürk über Nacht von dem armenischen Kalligraphielehrer Vahram Cerciyan, der am Robert College unterrichtete, für ihn entworfen wurde. Atatürk wählte diese Unterschrift unter fünf Vorschlägen aus, die Cerciyan ihm geschickt hatte. Atatürk wäre sicherlich auf die nach meiner Straße „Yesilcam“ (Grüntannen) genannte Filmindustrie der siebziger Jahre, die man mit Cinecitta oder mit Hollywood vergleichen kann, sehr stolz gewesen. Aber er ist ja schon 30 Jahre zuvor gestorben. Und würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er sehen würde, was heute aus dem Kino in Istanbul geworden ist….