Der Mann auf dem Foto heißt Ali Bey. Er hat natürlich einen anderen Nachnamen. Bey heißt einfach nur Herr, Herr Ali also. Ich bin hier Sabine Hanim, was Frau Sabine heißt. Heute haben alle Türken Nachnamen. Das ist aber erst seit 1935 so. Vorher hatten nur die christlichen Türken Nachnamen. Nach 1935 mussten diese aber ihre Nachnamen ändern, sie wurden wie so vieles hier in der Türkei türkisiert. Das heißt, die Armenier, die vorher z. B. Aram Tomasian hießen, hießen von da an offiziell Aram Tomasoğlu. Oğlu heißt Sohn und da alle Menschen einen Vater haben, haben sich sehr viele Türken damals einen Namen gegeben, in dem sie sich XYoğlu nannten, also Sohn von jemandem. Auch nichttürkische Vornamen wurden nicht mehr akzeptiert. Wenn man seine Tochter z. B. Hivda (aufgehender Mond) nennen will, welches ein kurdischer Name ist, wandelt der Standesbeamte es in Sevda (Liebste) um, weil das ein türkischer Name ist und so ähnlich klingt. Das ist bis heute an vielen Orten noch so. Meiner Freundin Hivda, die gerade vor Gericht erstritten hat, dass ihr kurdischer Name nun doch in ihrem Pass eingetragen wird, ist noch keine vierzig Jahre alt. Aber zurück zu Ali Bey, der mit Nachnamen Koçoğlu (Der Sohn des Widders) heißt. Er ist schon seit fünfzig Jahren der Vorführer des Majestikkinos, das gleich bei mir um die Ecke ist. Das Majestikkino ist ein sehr alteingesessenes Kino in Beyoğlu, mitten in der ehemaligen Filmmeile Yeşilçam sokak, nach der die türkische Filmindustrie benannt wurde (Yeşilçam) und durch die ich jeden Tag spaziere auf meinen Wegen. Heute wollte ich mit Zeynep ins Majestikkino gehen und da sie früher für die Filmfestivals gearbeitet hat und immer alle brandneuen Filme sehen will, gehen wir zum Majestikkino, denn es ist seit kurzem fast das einzige verbliebene Kino auf dem Hollywoodboulevard Istanbuls, das einst eine bedeutende und blühende Kino- und Filmstadt war. Aber davon ist weniger als ein trauriger Rest geblieben, sagen die beiden bedauernd, als sie über die alten Zeiten reden. Ali Bey, der Zeynep begeistert empfängt, zeigt seit fünfzig Jahren in dem Kino Filme, aber der große 35mm Projektor, den er mir zeigt, ist noch länger hier, nämlich siebzig Jahre. Natürlich außer Betrieb, sagt der Besitzer, Firat Dilbaz, der zu uns tritt. Kein Kino auf der ganzen Welt zeigt noch Filme in Zelluloid. Sein Bruder arbeitet auf der Vorderseite vom Kino als Wahrsager. Die Wahrsagerei ist in Beyoğlu ein wirklich großes Business, überall weisen Schilder darauf hin: Fortuneteller/Falci! Auch ich war schon bei einer Wahrsagerin, der transsexuellen Seda, die im Café des Kinos arbeitet und habe mir meine Zukunft wahrsagen lassen. Wahrsagen ist also hier sehr viel populärer als Kino. Wir wollen heute in die Nachmittagsvorstellung gehen, aber es gibt außer uns keinen Interessenten an dem Film „Broker“ des koreanischen Regisseurs Kore – eda, der auf türkisch „Bebek servisi“ (Babyservice) heißt und der gerade erst auf dem Istanbul Film Festival gezeigt wurde. Zeynep wundert sich sehr darüber, dass wir hier die einzigen sind. Denn als der Film vor einer Woche auf dem Festival lief, bekam man keine Karten mehr für den riesgengroßen Kinosaal vom Atlaskino. Nur eine Woche später hat dann aber schon niemand mehr Interesse daran. Ja, seit Corona ist das Kino in Istanbul so gut wie tot, sagt Ali Bey, es kommt niemand mehr. Hier im Kino kostet eine Karte 40 Lira, das ist 2 Euro.  Wenn nicht mindestens vier Personen kommen, wird der Film im Majestik heute nachmittag nicht gezeigt, erfahren wir dann. Außer uns ist noch niemand zu sehen. Wir warten bis zehn Minuten nach Beginn und als tatsächlich niemand mehr kommt, gehen wir wieder und beschließen, am nächsten Tag in die Abendvorstellung zu gehen. Ich begleite Zeynep zur U-Bahn, als sie auf einmal sagt: Wir hätten eigentlich auch einfach vier Tickets kaufen können. Aber da ist es schon zu spät. Ali Bey, der, als ich auf dem Rückweg wieder vorbeikomme, gerade damit beschäftigt ist, Kunden für die Wahrsagerei oder für einen Kaffee anzulocken und der schon lange kein Zelluloid mehr in alte Projektoren einspannt, die doch immer noch funktionieren, wird sich bestimmt wieder freuen, uns zu sehen…