Wenn man an Istanbul denkt, kommt einem nicht automatisch Ägypten in den Sinn. Ganz dunkel meine ich mich zwar zu erinnern, dass Ägypten irgendwann zum Bereich des osmanischen Reiches gehörte – wurde nicht Lawrence von Arabien, der auf Seiten der Araber gegen die Türken kämpfte, am Schluss von osmanischen Truppen gefoltert und vergewaltigt? – aber ansonsten kenne ich Ägypten bislang nur von den lustigen Verkäufern in meinem Lieblingsgeschäft für Baklava auf der Istiklal, bei denen es sich nämlich um Ägypter handelt. Und vom ägyptischen Basar (Misir Market) in Eminönü, der sich in den wunderschönen Hallen aus dem 17. Jahrhundert befindet. Einst Endstation der Seidenstraße ist er nun schon lange Verkaufsort für Spezereien aus dem Orient, womit Ägypten gemeint war, woher er seinen Namen hat. Hier wurden und werden noch heute Süßigkeiten und Gewürze und Tee von laut in allen Sprachen der Welt rufenden und um Kund*innen buhlenden Männern verkauft. Außerdem fällt mir beim Stichwort Ägypten der Obelisk aus Rosenquarz ein, der auf der ehemaligen Pferderennbahn vor der Hagia Sophia nun auch bald zweitausend Jahre steht und so frisch und neu aussieht, als sei er gestern erst im Auftrag von Konstatin dem Großen. der seine Stadt zum Rom des Ostens machen wollte, hierhergebracht worden. Die Kolonialjäger jener Zeit brachten ihn übrigens gemeinsam mit einigen anderen Obelisken, die heute allerdings alle verschwunden sind, vom Nil hierher, damit sie auf ewig in den christlichen Himmel über Konstantinopel ragen sollten. Ursprünglich wurde er von Thutmosis III. in Auftrag gegeben und stand in Karnak, gemeinsam mit anderen Obelisken, von denen sich heute kein einziger mehr in Ägypten befindet. Und ich denke beim Stichwort Ägypten an meiner Mitautorin auf dem Internationalen Literaturfestival in Izmir, Selma Bakr, die mir Kaugummis anbot, die so aussahen, wie aus einem Pharaonengrab entnommen und die vom Geschmack her überhaupt nichts mit dem zu tun hatten, was man gemeinhin als Kaugummi kennt. Nur die Konsistenz war in ungefähr gleich. Daran, an die Kaugummis, und an Lawrence von Arabien, der für die Araber das Beste wollte und an dem Machtstreben der damaligen kolonialen Großmächte (wozu auch das osmanische Reich gehörte, es war ja noch vor Ende des ersten Weltkriegs), denke ich gerade, als ich mit Zeynep auf die Autofähre steige, die uns von einem Ufer des Bosporus (Istinye/Europa) ans Andere (Cubuklu/Asien) bringt. Drüben ist das Ziel unserer heutigen Tour, der Hivdi Kasir, der Palast des Khediven, der vom Wasser aus wie ein Leuchtturm aussieht und den ich auf vorherigen Bootstouren entdeckt hatte und der oben auf dem Hügel von Cubuklu thront, von hohen alten Bäumen fast verdeckt. Diesen Palast zu Fuß zu finden ist erst einmal nicht einfach. Glücklicherweise ist Zeynep dabei, die zwar nicht ortskundig ist, weil sie Cubuklu nur von früheren Konzerten und Nightclubs kennt, die inzwischen auch schon zehn Jahre nicht mehr hier sind, die aber die hier ansässigen Menschen auf der Straße ansprechen kann, um nach dem Weg zu fragen. Es gibt zwei gegensätzliche Aussagen und wir machen uns auf den falschen, den viel zu weiten, den viel zu steilen Weg. Endlich, nach einer Stunde Fußmarsch am Bosporus und an viel befahrenen Autostraßen entlang und dann endlosen Schleifen den Hügel hoch, sind wir oben angelangt. Dort empfangen uns zwei Paare, die damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu fotografieren. Das eine scheint ein Hochzeitspaar zu sein, die Braut ist im glitzernden roten Brautdress und mit Kopftuch. Das sind Araber, sagt Zeynep, das sieht man sofort. Aber warum hat die um Teufels willen bloß ein rotes Kleid an, fragt sie auch noch. Als wir vorbeigehen und horchen, hören wir, dass die beiden Paare – auch die Freundin der Braut im fliederfarbenen Abendkleid trägt ein Kopftuch – türkisch sprechen. So etwas gab es früher nicht hier bei uns in der Türkei. Zeynep ist mal wieder entrüstet über die neumodischen Sitten, die sie nicht kannte. Rote Brautkleider und Kopftuch tragen; das hat nichts mit dem Verständnis von moderner Türkei zu tun, mit dem sie aufgewachsen ist. Dann kommen wir zu dem Haus, einem Prachtbeispiel orientalischen Jugendstils. Leider ist es heute geschlossen, in Renovierung, wie so viele Häuser in Istanbul, ohne dass das ansonsten so gut informierte Internet jedoch darüber informiert hätte. Wir setzen uns in ein Café und Zeynep erkundigt sich dort, warum die Braut dieses absurd rote Kleid getragen habe. Das ist so, wenn sie noch nicht verheiratet ist, erklären uns die Cafébesitzer, die hier, der malerischen Kulisse wegen, häufiger mit Brautpaaren zu tun zu haben scheinen. Der verlassene Khedivenpalast mit seinen 1000 qm Grundfläche lässt mich daran denken, wie ich vor bald zwei Jahren auf der Suche nach dem Schloss, in dem meine Urgroßmutter aufgewachsen ist und meine Großmutter viele Ferien verbracht hat, im Osten Deutschlands plötzlich vor ebendiesem Schloss stand. Auch dieses, die Isenschnibbe bei Gardelegen, war verschlossen und verlassen, auch dieses hatte – allerdings deutsche – Jugendstilelemente, auch in dieses schaute ich wie eben gerade durch die Fenster hinein und drinnen war alles leer und ausgeräumt und es sah so aus, als wenn es lange dauern würde, bis hier etwas getan würde. Der Khedivenpalast, der auf türkisch Hidiv Kasrı heißt, ist der frühere Palast des Khediven von Ägypten und Sudan, Abbas II. Dieser, 1874 geboren, war der letzte Herrscher/Khedive von Ägypten und regierte von 1892-1914. Ägypten war damals Teil des osmanischen Reiches, stand aber praktisch unter dem Protektorat des Vereinigten Königreiches, was Abbas II. nicht gefiel, weshalb er eine Annäherung an das osmanische Reich versuchte, unter anderem mithilfe des Baus dieses Hauses, das 1907 vom italienischen Architekten Delfo Seminati im Stil des Art Nouveau errichtet wurde und sich an Vorbildern der italienischen Renaissance orientierte, wie ja auch manche Bauten auf der Istiklal. Der Art Nouveau, auch als Jugendstil bekannt, war auch der maßgebliche Stil für die Errichtung der ägyptischen Botschaft am anderen Bosporusufer, die den auf der Fähre bei Bebek Vorüberfahrenden erst einmal mehr entzückt als der Khedivenpalast, der von ferne kaum zu sehen ist. Diese, die ägyptische Botschaft, die auch in Renovierung ist, ist in einmaliger Lage gelegen, ein weißes monumentales wunderschönes Holzhaus mit überlebensgroßen Vogelfiguren auf den fein ziselierten Dächern. Das wirkt ein wenig verrückt, eher wenig orientalisch und Zeynep erzählte mir bei früherer Gelegenheit, als wir daran vorbeifuhren, dass die Ägypter dieses Grundstück als Konsulat in Bebeks bester Lage erhielten, weil sie so gute Beziehungen zum Sultan hatten. Abbas II, der letzte Khedive von Ägypten, hatte ebenso wie Abdülhamid II., der letzte Sultan des osmanischen Reiches, eine Schwäche für schöne Frauen. Wie dieser hatte er einen Harem mit einer Hauptfrau. Im Jahr 1910 allerdings gab er diesen Harem zugunsten einer „Ungläubigen auf“, der ungarischen Gräfin May Török von Szendrö, die 1878 in Philadelphia geboren worden war. Sie wuchs in Europa auf, wo sie mit ihrer Familie viel herumreiste, mehrere Sprachen sprach und ausgezeichnet Klavier spielen lernte. Ihr älterer Bruder Josef studierte am Theresianum in Wien, wo sie ihn 1890, im Alter von 13 Jahren, besuchte. Dort traf sie das erste Mal mit seinem damals 16 Jahre alten Kommilitonen Abbas zusammen. Schicksalhaft wurde aber erst die zweite Begegnung, zehn Jahre später in Paris. Inzwischen war er, der seinem plötzlich erkrankten Vater auf den Thron gefolgt worden war, Khedive von Ägypten geworden, verheiratet und hatte schon mehrere Kinder mit seiner ersten und Hauptfrau bekommen, die erst einmal kein Verständnis dafür hatte, als ihr Gatte seine Geliebte mit nach Kairo brachte, wo diese zum Islam konvertierte, also keine Ungläubige mehr war und sich Zubejda und Djavidan nannte. Die beiden heirateten erst einmal heimlich, erst im Jahr 1910 konnte die offizielle Trauung mit der Gräfin stattfinden. Diese hatte sich inzwischen insbesondere beim Bau des Hauses am Bosporus und der Gestaltung der Gartenanlangen eingebracht. Ein identisch aussehendes Haus wurde am Nil errichtet, so dass sie gar nicht bis nach Konstantinopel reisen musste, wenn sie in dem europäisch wirkenden Gebäude sein wollte. Schon 1913 kam es jedoch zur Trennung mit dem Khediven, er hatte sie mit der Tänzerin André de Lusange betrogen. Djavidan, die moderne aufgeschlossene und sehr gut gebildete Frau, die nie wirklich mit dem Gegensatz aus strengem Ritual und religiösen Sitten und der enormen Verschwendung und Pracht bei Hofe zurechtgekommen war, ging zurück nach Wien und Paris, wo sie sich einen großen Freundeskreis mit Künstlern wie Gerhard Hauptmann und Robert Musil aufbaute und schrieb später auch noch ein Buch über ihre Erfahrungen am ägyptischen Königshof und im Harem desselben. Nach dem Ende des Osmanischen Reiches, das einherging mit dem Ende des Khedivenreiches in Ägypten, war der Khedivenpalast lange verlassen. Von 1935 an, als Atatürk ihn für den türkischen Staat erwarb, bis in die Achtziger Jahre stand er leer. Erst Anfang der 80er Jahre wurde er vom türkischen Automobilclub renoviert und als Denkmal in Betrieb genommen. Ob Hanim Djavidan, die Gräfin May von Török, die erst 1968 gestorben ist, noch einmal hierhin zurückgekommen ist? Wir sitzen noch im Café und reden über sie, als plötzlich Musik ertönt, ein Wiener Walzer wird gespielt und zieht vom Haus aus bis zu uns hin. Wir stehen auf, gehen zum Haus und schauen in den leer geräumten Saal. Kein Mensch zu sehen, nur eine Katze läuft in den leeren Riesenräumen umher. Auch hier draußen, auf der marmornen Terrasse, die übergeht in ein großes Rondell, auf dem man sich durchaus Tänzer vorstellen kann, ist niemand zu sehen. Ob hier die Gräfin mit ihrem Khediven getanzt hat? War so etwas möglich, zu Zeiten des Harems und der strengen religiösen Regeln? Warum hat sie sich bloß in ihnverliebt und dafür alles aufgegeben, was ihr bisheriges Leben bedeutet hat. Ich muss mir unbedingt das Buch bestellen, das sie geschrieben hat, denke ich. Zeynep steht auf der Terrasse und raucht eine selber gedrehte Zigarette. Habt Ihr eigentlich Tanzen gelernt hier in der Türkei? Kannst du Walzer tanzen? Frage ich sie. Nein, sagt sie. Das haben wir nicht gelernt. Schade eigentlich. Sonst hätten wir jetzt das Tanzbein schwingen können. Von Kairo über Wien nach Konstantinopel. Manchmal ist es schon sehr schön, wie alles hier zusammenkommt.