Bis 2015 fand in Istanbul ganz normal und legal die Pride-Parade statt, auf der Istiklal, mit zuletzt 100000 Teilnehmer*innen! Es war die größte (und wohl einzige) Demo dieser Art in einem muslimischen Land. Aber seitdem ist sie illegal und sehr unerwünscht und werden die Prides mit aller Strenge des Gesetzes verfolgt. Die gesamte Innenstadt ist heute schon seit dem Morgen abgeriegelt. Alles voller Polizei; ziemlich grimmiger Polizei sogar! Überall stehen sie, so wie die Römer in Asterix und Obelix, mit großen Schildern vor dem Leib und als Schwadron vor den leeren Einkaufsgeschäften, in den leeren Cafés sitzen nur sie und frühstücken, an den Sperren, die am Vorabend gebracht wurden, stehen sie und diskutieren mit Menschen, die durchwollen und nicht durchgelassen werden. Die Istiklal ist seit dem Morgen verwaist, die U-Bahnlinie wieder stillgelegt. Das geht, weil es ein Sonntag ist, es sind nicht so viele Menschen zur Arbeit unterwegs, nur Touristen, die von der Istiklal und dem Taksim fernzuhalten ist wohl weniger schlimm. Am letzten Sonntag, bei der Transpride war es ja dasselbe. Am Morgen gucke ich mir noch die Videos davon an und sehe, mit welcher Gewalt einige der Teilnehmer*innen, die völlig gewaltlos und friedlich demonstrierten, anschließend festgenommen und weggebracht wurden. Dass diese Demo in einem ganz anderen Stadtteil stattfand als hier bei mir in Beyoglu, wo jetzt schon wieder alles voller Uniformen ist, scheint hier bei der Planung des Polizeieinsatzes keine Rolle zu spielen. Es sind erneut seit dem Morgen Abertausende Polizisten versammelt worden. Wir aber wissen seit dem Mittag, dass die Demo nicht hier, sondern ganz woanders stattfindet. Über Geheimkanäle und verschlüsselte Messengerdienste findet die Kommunikation unter den Protestierenden statt. Auf Social Media wird nicht gepostet, das ist zu gefährlich, niemand außerhalb der Community soll erfahren, wann es losgeht. Ich gehe mit einer deutschen Stipendiatin aus dem Stipendiatenhaus, wo ich derzeit wohne, zum telefonisch mit Zeynep vereinbarten Treffpunkt, einem kleinen Platz inmitten des trendig-teuren Viertels Sisli, wo nicht die AKP die Mehrheit hatte bei den Wahlen, sondern Kilicdaroglus Parteienbündnis. Zeynep sitzt in einem Café. Auf dem Platz, auf dem Spielgeräte und ein paar Bäume stehen und der von Cafés und Geschäften umringt ist, sind einige wenige Menschen. Alle sind sehr unauffällig aussehend. Es ist halb drei. Dass es hier um drei losgehen soll, kann ich mir kaum vorstellen, es sind doch nur wenige Menschen hier. Aber dann sehe ich, dass schon noch ein paar Menschen hier herumlaufen und in den Cafés sitzen, die für den aufmerksamen Beobachter nach LGBTI aussehen und auch die Mitstipendiatin, die hier in Istanbul ist, weil sie sich mit der Sprache der Transgender-Personen, dem Lubunca beschäftigt, hat schon jemanden getroffen, den sie kennt. Und dann ist es drei Uhr und dann geht es plötzlich ganz schnell. Plötzlich ist der Platz voller Menschen mit Regenbogenfahnen und von der Fassade eines der großen Häuser wird eine riesenhafte Regenbogenfahne herabgelassen. Jetzt werden schon Reden geschwungen und alles ist voller Pressemenschen und Kameras. Es wird gepfiffen und gegrölt und skandiert und dann, nach wenigen Minuten, setzt sich die Gruppe von ca. 150-200 Menschen (2015 waren es noch 100000!!!) in Bewegung und läuft eine Straße hinunter, ihre Parolen skandierend, farbenfroh, gutgelaunt, immer in Bewegung, schnell. Überall wird fotografiert, eine besonders auffällige große Frau mit einem Regebogenschirm lässt sich von uns ablichten und sagt, als sie uns sprechen hört, dass sie auch Deutsche ist. Dann kommt ein sehr lauter Pfiff, das Signal zum Ende der Demo wird auch über den Messengerdienst weitergeleitet. Denn diese ganze Veranstaltung kann nur so lange dauern, bis die Polizei, die ja anscheinend immer noch mit einer Demo am Taksim rechnet, anrückt. Nach ca. 15 Minuten ist der ganze Spuk vorbei, erste Mannschaftswagen und Motorradpolizisten kommen, die Demo löst sich sofort auf, alle werfen ihre Fahnen weg und laufen in alle Richtungen davon. Zeynep, die ganz vorne mit dabei war, haben wir aus den Augen verloren, treffen sie dann wieder in einem Café, dann zieht es sie zu einer Stelle, wo Polizisten mit Aktivisten diskutieren, sie ist furchtlos. Wir versuchen währenddessen durch Seitenstraßen fortzukommen, aber inzwischen sind die meisten Straßen abgeriegelt. Also bleiben wir eine ganze Weile in einem Café und warten ab, was passiert. Nach und nach normalisiert sich die Stimmung auf der Straße. In den Cafés sitzen immer noch viele Teilnehmende, jetzt natürlich ohne Regenbogenfarben, aber wir erkennen sie wieder. Da es jedoch in diesem Viertel europäisch und unkonventionell zugeht, fällt es nicht weiter auf. Wir machen uns, als wir wieder durchkommen können, auf den langen Rückweg Richtung Taksim, der zwei Stunden später immer noch komplett abgesperrt ist. Nur mit Mühe können wir Polizisten überreden, uns durch die Sperren zu lassen und in Richtung unseres Hauses. Auf der völlig menschenleeren Istiklal kommt uns schon wieder eine ganze Reihe von Polizist*innen entgegen, eine besonders eifrige Polizistin fragt nach unserem Woher und Wohin. Wir zeigen ihr, wo wir hinmöchten, nein, da könnt ihr nicht lang, sagt sie. Ich begleite euch zum nächsten Ausgang. Was ist denn hier los? Fragen wir sie. Warum sind hier so viele Polizisten. Hier sind böse Menschen, die demonstrieren und alles kaputt machen wollen. Aber ihr braucht keine Angst zu haben. Ich bin bei euch, ich beschütze euch, die bösen Menschen können euch nichts tun, sagt sie noch und führt uns zum nächsten Ausgang!