Der Taxifahrer stellt das Autoradio laut und guckt zufrieden. Es ist zwei Tage nach Bayram und im Autoradio betet der Vorbeter auf Arabisch. Allahu akbar Ashadi an la ilaha illa illahGott ist groß. Ich bezeuge dass es keinen Gott gibt außer Allah. Das klingt für den Moment so schön, dass ich es mir gerne anhöre, mich im Fond des Autos zurücklehne und ganz kurz nur die Augen schließe, während die wilde Fahrt über große, gut ausgebaute und fast leere Autobahnen Richtung des Flughafens Sabiha Gökcen auf der asiatischen Seite geht. Seit vorgestern ist die Stadt des Bayrams wegen, der unserem deutschen Weihnachten vergleichbar ist, im Ausnahmezustand. Viele Menschen haben sich an andere Orte aufgemacht, besuchen Verwandte oder sonnen sich in Urlaubsressorts. Die normalerweise total zugeparkten Wege in den Wohnstraßen sind autoleer. Still ist es geworden in vielen Mahalles (Stadtviertel) hier in Istanbul. Auch ich habe vorgestern Bayram gefeiert, in Zeyneps Familie. Ihre 85jährige Mutter hatte Tage vorher die Speisen für den großen Tag zubereitet, gefüllte Weinblätter, russischen Salat mit viel selber gemachter Mayonnaise, ein sehr scharfes Fleischstew. Dazu gab es Raki und gute Gespräche. Später dann verfolgen wir im staatlichen Fernsehen die scheinheilige Debatte über das aktuellste Thema, die Festnahme und Inhaftierung eines Journalisten, der öffentlich über den PKK-Führer Öcalan nachgedacht hatte. Fleisch muss sein an Bayram, das ein Opferfest ist, an dem man gedenkt, dass Abraham/Ibrahim um ein Haar seinen Sohn Ismael geopfert hätte, wie es der Islam sagt, anders als in der Bibel, wo Isaak geopfert werden soll. Der zu opfernde Sohn wird zwar im Koran nicht mit Namen genannt, aber es gilt heute als ausgemacht, dass es Ismael war, der also der Stammvater der Araber ist und zusammen mit seinem Vater Abraham die Kaaba in Mekka gebaut haben soll, wie ich in Istanbul in einer Ausstellung im alten Sultanspalast erfuhr. Als wir am Tisch sitzen und essen, klingelt es. Der Pförtner Ömer bringt einen Beutel mit blutigem Inhalt; traditionell bringt man an diesem Tag Stücke von frisch geschlachteten Opfertieren bei Armen, Nachbarn und Verwandten vorbei. Aber Zeyneps Familie ist darüber nicht wirklich erfreut. Sie haben mit diesen doch eher traditionellen Sitten nichts zu tun und das arme Lamm, das sein Leben lassen musste, dauert sie. Denn in ihrer Familie sind alle Tierfreunde. Statt Tiere zu töten und ihr Fleisch zu verteilen, kümmern sie sich lieber aufopferungsvoll um die vielen Tiere in Istanbul. Besonders Zeynep, die fünf Katzen und zwei Straßenhunde in ihrer Wohnung und dem großen Garten hält, ist in dieser Hinsicht vorbildlich. Sie kümmert sich nicht nur auch noch um die anderen fremden Katzen und Hunde, die draußen herumlaufen und von ihren Hunden verbellt werden und füttert sie täglich an den Futterstellen, die sie dafür gebaut hat, sondern sie bringt auch den Igeln und Möwenbabies, die gegenüber von ihrem Haus auf einem verwilderten Grundstück leben, Fressen. Auch Möwen hat sie sehr gerne und kümmert sich um deren Wohlergehen. Diese haben sich teilweise schon so an die Menschen gewöhnt, dass sie ganz zahm geworden sind und nicht nur unten am Bosporus, sondern auch hier auf dem Hügel und im Wohngebiet wohnen und mit demselben Futter versorgt werden wie die Straßenhunde und Katzen. Am Bayrammorgen waren wir in einem Frühstückslokal, wo wir in Gesellschaft von Krähen frühstückten, die vom Kellner mit Walnüssen gefüttert wurden. Und dem großen schwarz-weißen Käfer, dem wir am Morgen auf der Straße begegnen, bahnen wir einen Weg zu einem Rasenstück. Ich glaube, es gibt kaum einen Istanbuler, der nicht von sich behaupten würde, zumindest ein großer Katzen- wenn nicht auch Hundefreund zu sein. Für diese wird auf der Straße immer gebremst, während die Menschen sehr vorsichtig sein müssen, wenn sie über die Straßen gehen. Aber auch diese sind sicherer geworden dank eines elektronischen Überwachungssystems, mit dem die Geschwindigkeit gemessen wird, ohne dass es blitzt. Da wird denn mancher Istanbuler wohl überrascht sein, wenn er per Email sein Knöllchen zugesandt bekommt, denn fast nie – stellen Zeynep und ich beim Autofahren fest – halten sich die Fahrer an die vorgegebene Geschwindigkeit. Auch Alkohol zu konsumieren und Auto zu fahren ist für alle meine türkischen Freunde als Kavaliersdelikt völlig normal; wenn es auch staatlicherseits nicht geduldet wird, lässt sich der Alkoholpegel doch mit dem elektronischem Überwachungssystem glücklicherweise nicht ermitteln. Mein Taxifahrer, der ein schön gebügeltes weißes Hemd trägt und in dessen Auto auf der Fahrt zum Flughafen die ganze Zeit über der islamische Radiosender läuft, den er auf mein Bitten hin etwas lauter stellt, ist ganz sicher so religiös, dass er nicht getrunken hat. Jetzt reicht er mir ein paar Bonbons nach hinten und steckt sich auch selber eines in den Mund. An Bayram sind alle großzügig und geben gerne. Deshalb sitzen zurzeit auffällig viele verkrüppelte Menschen auf den Straßen und vor den Moscheen. Gestern habe ich mit Zeynep und einer weiteren Freundin noch einen letzten Abschiedsausflug gemacht. Wir sind nach Balat gefahren, dem Viertel am Goldenen Horn, das seiner pittoresk bunten Häuser und seiner vielen Synagogen wegen bekannt ist. Es war gestern dort so voll wie nur selten einmal. Weil an Bayram die Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln – seit diesem Jahr allerdings nur noch für Türken – umsonst sind, hatte sich Hans und Franz aufgemacht, um die touristischen Hotpoints zu besuchen. Wir fanden aber ein kleines Lokal, von dem aus man mit dem Fahrstuhl bis aufs Dach fahren konnte, wo außer uns niemand war. Dort saßen wir dann und schauten über die Stadt und aßen die leckeren türkischen Manti-Nudeln. Schau mal, die Kumru-Tauben, Zeynep wies mich auf ein winziges Pärchen Orientturteltauben hin, das etwas entfernt saß und schnäbelte und warf ihnen gleich ein paar Stückchen Brot hin. Bayram ist ein Fest für die Menschen hier, denen es jetzt wirtschaftlich immer schlechter geht. Da ist es wohl ganz gut dass nicht wie an unserem Weihnachten Geschenke verteilt sondern höchstens ein Lamm oder ein Ochse geopfert wird. In den zwei Wochen, seit ich hier bin, ist die Lira im Verhältnis zum Euro von 23 (für 1 Euro) auf  28 gestiegen, der durch den neuen Präsidenten angehobene Zinssatz hat die ganze finanzielle Situation also noch einmal sehr verschärft. Aber die Menschen nehmen es hin, so wie auch nicht mehr über die letzten Wahlen geredet wird und nur manchmal über die Furcht vor einem großen Erdbeben, auf das hier im Grunde alle warten und dessentwegen noch mehr Menschen am liebsten das Land verlassen würden bzw. aus der Großstadt fortziehen. Aber seit einiger Zeit schon gibt es einen Visastopp an der deutschen Botschaft, wurde mir berichtet. Davon ist allerdings in deutschen Medien nichts zu lesen. Genauso wenig wie davon, dass im Gegenzug die Visabedingungen für Deutsche in der Türkei auch sehr verschärft wurden. So können die Stipendiaten der Stadt Köln nun nicht mehr – wie ich noch – 6 Monate in Istanbul bleiben, sondern sie bekommen nur noch ein ganz normales Touristenvisum für drei Monate. Die Menschen hier lenken sich ab von diesen unerfreulichen Themen, sie lachen trotzdem und beschäftigen sich wie seit eh und je mit den Tieren, die dankbar sind und von denen viele davon abhängig sind, dass die Menschen sich gut um sie kümmern. Warum tut ihr das? Habt ihr nicht genug Probleme? fragte ich meine Freundinnen. Die Tiere sind doch unschuldig, sie können nichts dafür, dass sie hier sind, sagt die eine. Sie sind genauso wie unsere Kinder. Daran muss ich jetzt auf der Fahrt zum Flughafen denken und auch daran, dass ich froh bin, dass das Erdbeben noch nicht gekommen ist und ich unbeschädigt nach Köln zurückfliegen kann. Jetzt singt der Muezzin wieder. Singt? Nein, er betet. Aṣ-Ṣalātu ḫayrun mina n-naum. Das Gebet ist besser als Schlaf. Und ich schließe die Augen und der warme Wind kommt durch das Taxifenster herein und ich bin froh, dass ich wieder nach Hause fahre, denn die letzten Tage waren anstrengend und ich bin doch ein wenig traurig. Ich werde Zeynep vermissen und die anderen Freund*innen und ich werde Istanbul vermissen. Die Stadt der vielen freundlichen Menschen, die Stadt der vielen Tiere, der Katzen, Hunde, Tauben und Möwen.