Hier in der Türkei bleibt Trans-Personen kaum eine andere berufliche Perspektive, denn als Sexarbeiter*innen zu arbeiten. Als solche sind sie vielen Angriffen und Übergriffen, ständiger Gewalt und der Gefahr, ermordet zu werden, ausgesetzt. Ich schrieb darüber ja schon in meinem Blog über Seda, die Transgender-Wahrsagerin, die im Majestic-Kino arbeitet und die mir von ihren Erfahrungen berichtete (s. Blogeintrag vom 13.8.2021)

Der beeindruckende Dokumentarfilm „Asya“ der Kölner Filmemacher*innen Ellen Rudnitzky und Zeynel Kizilyaprak

https://www.kinoflimmern.com/category/video/Asya/a1cedfdcced07290102b3fdffe286729/75  

zeigt das Leben einer solchen Person und ihres Umfeldes. Hier in meinem Stadtviertel sehe ich sie täglich durch die Straßen gehen, in Richtung der legalen Bordelle auf der anderen Seite der Istiklal. Freier scheint es dort, in enger Nachbarschaft mit Drogen und Kriminalität, genug zu geben. Die Istanbuler Transgendersubkultur hat schon Anfang des 20. Jhd.s eine ganz eigene Sprache entwickelt, mit vielen idiomatischen Ausdrücken, die sich vor allem um die Themen Sexualität, Drogen und Geld drehen. Diese Sprache diente auch dazu, sich verständigen zu können, ohne dass andere es mitbekamen. Türkisch wurde mit den Worten aus Sprachen der verfolgten Minderheiten gemischt, mit Romanes, Armenisch, Griechisch, Französisch. Die Sprache der Transgender-Personen heißt Lubunca und hat sich inzwischen auch in die queere Szene ausgebreitet. Dass die Trans-Personen eine Geheimsprache haben, die nur sie verstehen, stärkt ihren Zusammenhalt, den sie dringend brauchen, in einer Welt, die ihnen so feindlich gesonnen ist, wie die Türkische. Gestern hatten sie auf sozialen Medien eine Demonstration angekündigt, bei der sie auf sich und ihre bedrohte Situation aufmerksam machen wollten. Diese Demonstrationen fanden bis vor einigen Jahren immer auf dem Taksimplatz statt. Da die Staatsmacht seit den Gezikrawallen Panik vor Demonstrationen hat, war der Taksim schon am frühen Morgen komplett abgesperrt. Aber nicht nur der Taksim, auch die umliegenden Viertel sind, als ich um halb elf aus dem Haus gehe (die Demonstration ist für 17h angekündigt), voller Absperrgitter, aufgeregt hin und herfahrender Mannschaftswagen, Panzerwagen. Um zwölf Uhr stehen auch schon überall dort und in den umliegenden Vierteln schwer bewaffnete Polizist*innen, mit Maschinenpistolen, Gummigeschossen, Wasserwerfern, Tränengas. Ich schätze, dass es mindestens 1500 ,wenn nicht sogar 2000 oder gar noch mehr Polizist*innen und bewaffnete Helfer*innen sind. Inzwischen ist die Istiklal fast menschenleer. Auch die U-Bahn, die am Taksim vorbeikommt, die M2, fährt schon seit heute morgen nicht mehr, damit nur ja keine Transgpersonen zum Taksim kommen können. Gestern, bei meiner Ankunft, sah ich am Flughafen mehrere von ihnen. Heute, als ich durch die Straßen gehe und immer wieder an Sperren nach dem Begehr gefragt und nicht durchgelassen werde, sehe ich niemanden. Der einzige Weg, auf die Istiklal zu gelangen, geht durch eine der neuen und sehr arabischen Süßigkeitenbäckereien, Hafiz Mustafa. Da ich groß und blond bin und nach Touristin aussehe, werde ich auch nicht aufgehalten. Ich bin mit einer Freundin unterwegs, die Kontakte zu den Demonstrierenden hat und weiß, wo sich das kleine Trüppchen von Transpersonen und Sympathisant*innen aufhält. Sie sind nämlich in einem ganz anderen Viertel, in Sisli und nicht hier am Taksim und sie kommunizieren nicht auf Lubunca, sondern auf Arabisch auf einem Geheimkanal auf social media untereinander. Meine Freundin muss sich ihre Ortsanweisungen in den Übersetzer eingeben und sagt, wo wir entlanggehen sollen. Der Ort, an dem die Demonstrierenden sind, ist ein ganzes Stück entfernt und wir sind spät, es ist schon 17h, zu spät eigentlich, um loszugehen, aber wir wollen es probieren. Wir müssen zusammenbleiben, dürfen nicht alleine gehen, sagt meine Freundin. Wenn uns etwas passiert, sind wir wenigstens nicht alleine, das ist wichtig. Dann durchqueren wir das Viertel Tarlabasi, in dem viele der Transpersonen, aber auch sehr viele Arme, Angehörige der Gruppe der Roma, Geflüchtete, Kurden und obdachlose Personen ansässig sind. Ein weiterer Freund stößt zu uns. Wir nähern uns der Straße, wo demonstriert wird, die Freundin zeigt mir einen Film, in dem man sehen kann, dass auf dem Bürgersteig in Sisli Menschen Tücher in Regenbogenfarben tragen. Immer wieder übersetzt sie die arabischen Anweisungen. Aber ganz plötzlich kommt die Nachricht, dass die Demo aufgelöst ist. Zehn der ca. 120 Personen sind festgenommen worden, die anderen haben es vorgezogen, nicht weiter zu demonstrieren. Wir sind wohl zu spät losgegangen. Wir gehen zurück. Überall sehen wir jetzt Polizist*innen, die mit ihren großen Schutzschildern an uns vorüberziehen. Auch eine halbe Stunde, nachdem die Demo aufgelöst ist, kommen wir nur mit viel Überredung an einer Polizeisperre wieder über die Istiklalstraße, die menschenleer ist und zu unserer Wohnung. Immer noch stehen überall Polizist*innen herum. Auch abends um zehn ist die ganze Innenstadt noch abgesperrt und voller Polizist*innen. Wovor haben sie Angst? Was kann passieren, wenn 120 überhaupt nicht gewalttätige Menschen auf die Straßen gehen? Der Staat zeigt seine ganze Präsenz. Dass er dafür die beliebteste Einkaufsstraße, durch die täglich bis zu 1 Million Menschen gehen, absperrt, ist ihm egal. Das Zeichen kommt rüber bei den Türk*innen und ist eine Warnung für die nächste Woche: Für nächsten Sonntag ist eine große LGBTQIA-Demonstration angekündigt!