Nachdem ich kurz vor Weihnachten schon einmal in der deutschen evangelischen Kreuzkirche war, damals aber sehr unter der schlechten Orgelmusik gelitten habe, sehe ich gestern voller Begeisterung, dass am nächsten Tag in der Kirche ein Gottesdienst stattfinden wird, bei dem der Domorganist von Meissen, Thorsten Goebel, die Orgel spielen wird. Da einer der Gründe für mich, in einen Gottesdienst zu gehen, immer auch die Musik ist, beschließe ich, mich heute morgen auf den Weg zu machen. Denn ich sehne mich nach ein wenig Besinnlichkeit und Stille und nach klassischer Musik auch, nach anderen Geräuschen als jenen, die mich jetzt seit sieben Tagen umbranden, das nächtliche Donnern der Bässe aus den Discotheken, das Hupen der unzähligen Motorroller, der Gesang des Muezzins, der fünfmal am Tag ertönt, das Hupen der Polizeimotorräder…es wird in dieser Stadt nie ruhig und die Geräusche haben manchmal sogar etwas Erschreckendes. Ich mache mich also auf den Weg ins Viertel Tarlabasi, das nur fünf Minuten entfernt und doch Meilen von meinem Viertel entfernt zu sein scheint. Denn Tarlabasi ist trotz der schönen alten Jahrhundertwendearchitektur vieler Häuser so etwas wie der Slum der Innenstadt, dort wohnen die Drogendealer, die Sinti, die Transsexuellen, die Müllsucher und die anderen Ausgestoßenen der türkischen Gesellschaft. Aber heute, am Sonntagmorgen, scheint die Sonne und ich komme unbehelligt hin zur deutschen Kirche, in der schon der letzte Kaiser im Jahr 1899 einem Gottesdienst beiwohnte. Die Kirche selber betrete ich nach mehrmaligem Klingeln durch einen unauffälligen Seiteneingang, gehe mehrere knarzende Treppen hoch, dann stehe ich in dem schönen lichten schlichten klassizistischen Innenraum, der auch ganz aus Holz ist. Nur wenige Menschen sind heute im Gottesdienst, vor mir sitzt eine ältere Frau, die mich auf englisch anspricht und sich eine Weile auf englisch mit mir unterhält, bis sie mich auf einmal auf deutsch fragt: Sind sie Deutsche? Ja, sage ich. An ihrem Akzent höre ich sofort, dass sie aus derselben norddeutschen Gegend stammt wie ich, aber eher noch eine Stadt weiter. Der Gottesdienst geht diesmal etwas unkonventioneller vonstatten als beim letzten Mal, heute ist nicht von Göttinnen die Rede und das Glaubensbekenntnis ist auch nicht das von Konstantinopel. Und der Organist spielt ganz viel Mendelssohn und so gehe ich anschließend sehr zufrieden mit den anderen wenigen Besucherinnen (es gibt nur einen einzigen männlichen Besucher) in den lauschigen, von Sonne beschienenen Garten und setze mich dort an einen Tisch, der unter einer großen Palme steht. Dann wird der Kaffee gebracht und man bekommt sogar Milch zum Kaffee. Die Pfarrerin ist aus Sachsen. Und die alte Dame, die erst englisch mit mir gesprochen hat, kommt tatsächlich aus Hamburg. Sie heißt Agnes. Wenn sie aus Bremen sind, sagt sie zu mir, dann kennen sie doch bestimmt Agnes Heinecken. Ja, Agnes Heinecken kenne ich, weil nach ihr Straßen und Plätze benannt sind. Sie war eine Frauenrechtlerin und Politikerin vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Das war meine Großtante, sagt sie und dass sie auch eine gebürtige Heinecken sei. Und dann erzählt sie mir dass sie in Istanbul schon seit 1956 leben würde, sie habe damals ihren Mann, einen türkischen Studenten, in Hamburg kennengelernt. Damals waren die Türken noch hoch angesehen in Deutschland. Da war die Lira sehr viel mehr wert als die deutsche Mark und die wenigen Türken in Deutschland waren alle gebildete Menschen aus gutem Hause. Auch die anderen Frauen, die heute im Gottesdienst waren, haben türkische Männer und sind wegen ihnen nach Istanbul gekommen. Die zwei deutschen Männer am Tisch sind der Organist und ein weiterer Mann, der auch als Organist arbeitet und nur zu Besuch in Istanbul ist. Die Pastorin, die erst seit ein paar Monaten im Amt ist und ganz alleine in dem riesigen Kirchengebäude mit Nebengebäuden wohnt, erzählt, dass in zwei Wochen ein ökumenischer Weltgebetstag gefeiert wird, an dem sich alle christlichen Gemeinden in Istanbul beteiligen. Das ist bei uns hier in Istanbul nicht wie bei euch in Deutschland, wo die unterschiedlichen christlichen Religionen nicht zusammenarbeiten. Wir machen das hier schon, sind immer abwechselnd bei den Katholiken und auch bei den anderen Christen. Ich verabschiede mich nach einer Weile, begleite meine norddeutsche Glaubensschwester noch zur nächsten großen Straße, wo sie in ein Taxi steigt und gehe in Richtung nach Hause, als ich am Fischmarkt die Tür zur armenischen Üc-Horan (Drei Altäre) Kirche, die bei meinem letzten Besuch dort noch renoviert wurde, offen stehen sehe. Sie wurde von dem berühmten armenischen Architekten Gabriel Balyan 1836 entworfen, der auch den Dolmahbacepalast entworfen hat und ist ganz aus weißem Marmor und mit einem wunderschönen blauen Sternenhimmel ausgestattet. Die armenisch-apostolische Kirche ist eine altorientalische Kirche und die erste Staatskirche der Welt. Sie praktiziert noch heute das Christentum so ähnlich wie vor 1700 Jahren, als es nämlich um 314 n. Chr. in Armenien als erstem Land der Welt zur Staatsreligion wurde. Dazu war es damals gekommen, weil der armenische König Trdat III. durch einen christlichen Einsiedler, den hl. Gregor den Erleuchter, von einer schweren Krankheit geheilt worden war. Da die Kirche hier am Fischmarkt noch nie offen gestanden hat, gehe ich hinein. Drinnen ist der große helle Raume voller Menschen, Gesang und Weihrauch. Ein gemischter großer Chor singt zur Orgel die uralten Weisen der armenisch-orthodoxen Kirche, während vorne eine ganze Reihe von Priestern in prächtigen Gewändern, eingehüllt von Weihrauch, den Gottesdienst zelebriert. Über dem prächtig geschmückten Altar hängt ein großes Bild der Jungfrau Maria, darunter wird gerade eine knieender älterer Mann mit einer großen Kapuze und einem Mantel eingekleidet, alles begleitet von den Gesängen, die während des ganzen Gottesdienstes nicht mehr aufhören. Dieses uralte Ritual ergreift mich sofort. Ich bleibe noch eine ganze Weile sitzen und schaue gebannt nach vorne und auf das, was dort passiert. Als die Prozession der Priester und Gemeindemitglieder irgendwann vom Altar aus an mir vorbeizieht und nach draußen geht, gehe ich auch aus der Kirche und wieder nach Hause. Das war erst einmal genug Ökumene für heute…