Türkisch-deutsche Paare hat es auch schon vor 1000 Jahren gegeben. Damals hießen die Partner aus der heutigen Türkei allerdings Byzantiner. Zumeist waren sie Angehörige von Königshäusern oder vielleicht Soldaten oder Begleiter dieser Königshäuser, sonst hätten sie sich nicht auf den weiten Weg Richtung Ost bzw. West gemacht, um ihre/n Liebste/n zu finden. Neben meiner Wohnung in Köln schläft (so nennen die Türken den Zustand des Totseins und machen dazu die Geste, als würden sie mit den Händen ein Kissen neben dem Gesicht darstellen) ein solches Beispiel einer Ost-West-Liaison. Sie heißt Theophanu und war einmal Kaiserin, bzw. Kaisergattin von Otto II., der nun wiederum der Sohn von Otto dem Großen war. Auf die Idee, seinen Sohn mit einer byzantinischen Prinzessin zu verheiraten, war eben dieser Vater gekommen und entsandte Boten nach Byzanz, um dort nach einer solchen zu suchen und sie vom oströmischen ins weströmische Reich zu bringen. Eigentlich sollte eine andere junge Frau mit zurückgebracht werden, statt ihr kam Theophanu, die zwar Prinzessinnenblut hatte, aber auch einen kleinen Makel: sie war nicht purpurgeboren. Purpurgeboren sind nur die Töchter amtierender byzantinischer Kaiser, die in der Purpurkammer des großen Palastes in Konstantinopel geboren wurden. Von dem Palast, der sich über 100000qm unterhalb der Hagia Sophia bis hin zum Marmarameer erstreckte, ist heute so gut wie nichts mehr zu sehen, letzte winzige Ruinenreste sind derzeit hinter großen Absperrungen verborgen. Anhand der kostbaren rote Farbe, die für die Byzantiner eine so wichtige Rolle spielte, kann man noch heute ihre wenigen übriggebliebenen Gebäude ausfindig machen. So auch das Ziel unseres heutigen Spazierganges. Von der Galatabrücke aus gehen wir zu Fuß vom Misirmarkt aus Richtung der Atatürkbrücke. Dabei bewegt man sich immer entlang des Basars, der zunehmend schäbiger und ärmlicher und – immer noch – billiger wird. Denn wir Europäer können derzeit in Istanbul beim Einkaufen jubeln. Innerhalb von vier Tagen bekommen wir für einen Euro 3 Lira mehr, seit ich Besuch bekam, ist der Kurs von 15 Lira auf inzwischen 18 Lira gestiegen. So schnell kommen die Händler gar nicht mit der Neuauszeichnung ihrer Waren hinterher und vielen Dinge kosten noch so viel, wie sie gekostet haben, als ich vor sechs Monaten hierherkam und für einen Euro 9 Lira bekam. Aber ich will heute nicht über die Inflation berichten, über die ich hier mit jedem rede, sondern von der Moschee erzählen, die wir besichtigen wollen. Sie heißt heute Zeyrek-Moschee und war früher das Pantokratorkloster, ein Ensemble aus drei orthodoxen Kirchen. Diese wurde um 1110, als Grablege oder Ruhestätte eines byzantinischen Kaisers angelegt, dem später viele andere folgen sollten. Es handelte sich um die nach der Hagia Sophia zweitgrößte Kirche in Byzanz. Wir sehen sie schon von weitem, laufen auf sie zu, als wir aus dem Marktgewimmel hinausgehen, sie ist von weitem nicht nur wegen ihrer roten Farbe gut als ehemalige Kirche zu erkennen, unterscheidet sich trotz der Minarette in ihrer Kuppelbauweise deutlich von den umliegenden Moscheen. Sie liegt oben auf einem Hügel oberhalb des Atatürkboulevards, den wir erst durchqueren müssen, um zu ihr zu gelangen. Der Weg eine steile Treppe hinauf wird von einem tief hängenden Baum überdacht. Wir bücken uns, um hinaufzugehen. Um uns, neben uns lauter Muslime mit schwarzen Kleidern und in feierlicher Haltung. Sind wir zum falschen Zeitpunkt gekommen? Nein, sie biegen kurz vor der Moschee ab zu einem kleinen Friedhof, wo sie mit erhobenen Händen an einem Grabmal beten. Dann sind wir oben an der von außen tadellos sauberen Moschee, die nun gar nicht mehr nach einer ehemaligen Kirche aussieht. Kein einziges Detail an der Außenfassade deutet darauf hin. Und als wir dann hineingehen und im Vorraum (der immerhin erinnert an den Vorraum der Hagia Sophia, den man sonst nirgendwo findet in den großen Moscheen) unsere Schuhe ausziehen, sehen wir uns auch vergeblich nach irgendwelchen Zeichen der großen Geschichte dieses Hauses um. Die Grablegen von u.a. Kaiser Johannes und seiner Frau Eirene, Kaiserin Bertha von Sulzbach, Kaiser Manuel I. und Johannes V., die alten Mosaiken, der Marmorfußboden, die bunten Glasfenster, die Ikonen, die Malereien, die byzantinischen Säulen…alles ist gründlich entfernt worden, der Boden belegt mit weichen roten Teppichen, eine Art Käfig aus Holz für die anwesenden Frauen wurde im ersten Stocke angebracht und abstrakte bläuliche Malereien auf weißem Grund an den Kuppeldecken gemalt, solche, wie man sie in jeder Moschee genau gleich findet. Die Ausrichtung der großen Räume geht weiter nach Jerusalem, aber die muslimischen Gebetsnischen sind etwas weiter östlich nach Mekka ausgerichtet, das gibt eine kleine Asymmetrie. Wir laufen eine Weile auf den Teppichen herum, dann werden wir aufgefordert, auf eine Empore zu gehen, anscheinend sollen vermutete Muslime sich hier unten nicht aufhalten. Wir gehen die Treppen zur Empore hoch und ducken uns unter großen Eisenstreben, die über die Treppe hinweg zur Säulenstabilisierung dienen. Die Zeyrek-Moschee, die wohl bis vor ein paar Jahren in einem desolaten Zustand war und von der UNESCO auf der Liste der gefährdeten Denkmäler aufgeführt wurde, lässt nichts mehr von dem großen historischen Erbe erkennen, auf das sie zurückblicken kann. Draußen steht ein seltsamer kleiner Säulenstumpf, der einzige Hinweis auf etwas historisches ist der Hinweis auf ein „Vogelhaus“ aus dem 19. Jhd., das an einem Nachbargebäude angebracht ist. Nun gut…

Auf dem Weg nach Hause kommen wir an einer alten Frau vorbei, die auf dem Boden sitzt und Blumensträuße aus Trockenblumen zusammenstellt. Ich mache ein Foto von ihr. Wir reden auf dem Weg noch länger über die Moschee und auch über den gestrigen Abend, bei dem wir zu einer Veranstaltung des Goetheinstituts eingeladen waren, in der es um das Thema Heimat ging. Die Veranstaltung war im Rahmen der Feiern zum 60jährigen Anwerbeabkommen Türkei-Deutschland. Sechs Autoren saßen auf der Bühne, drei Türken aus der Türkei, ein marokkanisch-deutscher Journalist, eine aserbaidschanisch-deutsche Schriftstellerin und ein italienisch-deutscher Autor, moderiert wurde das Ganze immerhin von einem türkisch-deutschen Moderator. Alle Teilnehmenden waren ziemlich bekannt, von Olga Grjasnowa, die die Veranstaltung kuratiert hatte, hatte ich schon mehrere Bücher gelesen, die mir gut gefallen haben. Auf die Frage danach, was für sie das Wort Heimat bedeute, hatte sie allerdings als Antwort nur: Nichts, rein gar nichts! parat. Und zerlegte dann den Begriff der Heimat, wies auf seine negativen Aspekte hin. Ähnlich ging es weiter. Auch alle anderen wollten mit dem Begriff Heimat nichts zu tun haben. Die Türken fühlten sich immerhin emotional mit ihrer „Heimat“ verbunden, die sie allerdings sehr problematisch und kritisch betrachteten. Von einer emotionalen Verbundenheit war bei den anderen Autoren nicht die Rede. Sind es gemeinsame Werte, die uns, die wir in einem gemeinsamen Kulturkreis leben, vielleicht zu einer Art „Heimat“ verbinden? Nein, es sind eher die gemeinsamen Probleme, meinte man an diesem Abend. Heute Abend sind wir zum Abendessen eingeladen, bei einem befreundeten Paar, türkisch-deutsch, die beiden haben sich im Studium kennengelernt, sind aber erst zwanzig Jahre danach zusammengekommen und wohnen nun schon fast zwanzig Jahre in Istanbul. Gleichfalls eingeladen sind Freunde von mir, die ich in Los Angeles kennengelernt habe, der Mann ist Kurde, er war in Los Angeles in der Villa Aurora, wo ich ein Stipendium hatte, mit einem Jahresstipendium als politisch Verfolgter untergebracht. Wir haben zu diesem Abendessen einen ganz besonderen Nachtisch mitgebracht, den wir in der Patisserie Lebon auf der Istiklalcaddessi erstanden haben, einer fast hundert Jahre alten sehr traditionellen Patisserie, in die früher vor allem Künstler und Intellektuelle gingen und die wohl demnächst zumachen wird, was alle meine Bekannten und Freunde sehr bedauern. Sie schließt nicht wegen der Inflation und der Wirtschaftskrise, sondern weil sie wohl für die arabischen Touristen, die das Süßigkeitengeschäft auf der Istiklalcaddessi am Laufen halten, nicht interessant genug ist. Ihr Publikum ist ein anderes, wie ihre Waren zeigen: Christstollen und französische Weihnachtsgebäcke wie der Bûche de Noel, den wir heute erstellen, richten sich eher an europäisch orientierte Touristen, von denen es hier immer weniger gibt. Und die türkischen KÜnstler und Intellektuellen können sie sich nicht mehr leisten. Wir schon, denn wir haben den Euro und zahlen ohne mit der Wimper zu zucken die 200 Lira für den wunderschön dekorierten Bûche de Noel. Und genießen den sehr angeregten und schönen Abend im türkisch-kurdisch-deutschen Freundeskreis. Es wird wild diskutiert über Corona und die Inflation, über kurdische Freiheitskämpfer und böse habgierige Präsidenten. Am Ende des Abends verabschieden wir uns von unseren Freunden, den türkisch-deutschen Paaren, und gehen durch die sehr dunkle regnerische Nacht nach Hause. Es ist inzwischen halb zwei und auf der Istiklal ist immer noch alles voller Menschen. Auch manche Geschäfte haben noch geöffnet. Sie können es sich nicht leisten, früher zuzumachen.