Nachhaltig reisen ist teuer und man ist furchtbar lange unterwegs, aber man erlebt so viel mehr. Wirkliches Leben eben. Leben wie früher, als es noch kein Internet gab und keinen Euro. Ich musste in vier verschiedenen Ländern Geld wechseln. Immer wieder meinen Ausweis vorzeigen (typisch kontinentaleuropäisch, würde der Ire Martin, den ich im Zug von Bukarest nach Russe traf, sagen und den Kopf über die blöden Europäer schütteln). Weniger gefährlich als Fliegen ist es allerdings nicht. In manchen der Busse, in denen ich dann doch fahren musste, gab es brenzlige Momente, in denen ich mir wünschte, ich hätte ein Flugticket gebucht. In allen Ländern, durch die ich kam, guckte man mich sehr erstaunt an, wenn ich erzählte, dass ich mit dem Zug nach Istanbul reisen wolle. Das kann wohl auch nur einem Westler einfallen, der es finanziell doch gar nicht nötig hat, dachte ich dann mit schlechtem Gewissen. Was die verwundert Blickenden allerdings nicht wissen können: Nachhaltig zu reisen ist letztendlich doch teurer als mit dem Flugzeug zu fliegen. In allen Städten, in die ich kam, auch in den kleinen, empfingen mich wunderschöne prächtige Bahnhöfe aus der Jahrhundertwende. Bahnhöfe, aus denen man dann aber manchmal auch nur mit einem Waggon abfuhr, Bahnhöfen, wo zwischen den Gleisen und auf dem Perron Sand lag. Bahnhöfe, die zu einer Zeit gebaut wurden, als noch niemand ahnte, dass der Sozialismus den aufstrebenden hoffnungsvollen Zukunftsgedanken ihrer schönheitsliebenden Erbauer einen Strich durch die Rechnung machen würde. Manchmal fuhr von diesen Bahnhöfen mit den klassizistischen und Jugendstilfassaden, mit den großen Säulenportalen und den mit Marmor ausgekleideten Wartesälen (ach, wenn es so etwas in Köln doch noch gäbe!) der angekündigte Zug gar nicht. Wenn er aber fuhr, kam er immer pünktlich und fuhr pünktlich ab. All diese Bahnhöfe also, die sowieso mehr wie Begegnungs- und Treffpunkte für kleine Gruppen von Menschen wirken, die mit Maschrutkas/Dolmussen (kleinen Bussen) fahren wollen und nicht wie Abfahrts- und Ankunftsorte für Menschen aus aller Herren Länder, als die sie gedacht waren, als sie sich noch an der Schnittstelle zwischen Südost und West, zwischen Orient und Okzident, befanden, sind immerhin heute einigermaßen liebevoll restauriert worden. Bei all meinen Fahrten und Begegnungen traf ich nicht nur an den Bahnhöfen immer sehr freundliche, liebevolle, hilfsbereite Menschen. Ich sah weite berückende Landschaften, Sonnenuntergänge über der Donau und dem schwarzen Meer, ich fuhr auf Bergeshöhen und in weiten trockenen Ebenen, über im Sonnenlicht glitzernde Ströme und ausgetrocknete Kanäle, ich hörte die Saatkrähen auf bulgarisch, rumänisch, ungarisch schreien und bin jetzt, während ich dieses schreibe, auf einer verschlungenen Straße durch den Balkan, hoch oben über dem blinkenden Schwarzen Meer Richtung Istanbul unterwegs. Der Balkan, durch den ich gerade fahre, ist voller Schluchten und Täler, voller bewaldeter Höhen auch, voller uralter Bäume, deren jetzt schon goldenes Laub wie ein sanftes Meer unter mir liegt, Wellenartig sind die Kronen der Bäume, die auch in der Ferne noch zum Himmel wachsen. Auf all meinen Fahrten wurde ich als Deutsche immer überall besonders freundlich begrüßt. Ich war aber überall immer misstrauisch und vermutete in jeder freundlichen Begrüßung sofort einen Hinterhalt und hielt mein Portemonnaie dann ganz besonders gut fest, um nur ja nicht bestohlen zu werden. Das wäre wahrscheinlich nicht nötig gewesen. Aber so sind wir Deutschen wohl. Diszipliniert seid ihr, sagte meine Sitznachbarin, als ich mich eben im Bus anschnallte, weil vor mir ein Anschnallzeichen ist. Ich bin die einzige im Bus, die sich angeschnallt hat. Als wir an einer der Landstraßen an einem Imbiss anhalten und Köfte essen, die hier „Ahmed Bey Köfte“ heißen, lade ich sie zum Essen ein. Das findet sie sehr seltsam. Sie sagt, in der Türkei gäbe es einen Spruch, dass typisch Deutsch heißen würde: Jeder zahlt für sich selber. Ich finde es immer wieder erstaunlich, unterwegs zu erfahren, was die anderen Völker so über unsereinen denken. Nun kann es nicht mehr lange dauern, bis ich in Istanbul angekommen bin, von Varna, meinem Abfahrtort am Schwarzen Meer/Bulgarien sind es 9 Stunden Fahrt bis zum Busbahnhof in Istanbul. Eigentlich wollte ich schon gestern Abend fahren, laut Internet gab es nur einen Nachtbus, aber als ich am Busbahnhof ankam, war der Bus ausverkauft. Allerdings könnte ich am nächsten Morgen fahren, sagte man mir, woraufhin ich sofort ein Ticket kaufte. Auf diese Weise ersparte ich mir die Fahrt während der Nacht, konnte eine Nacht mehr am Schwarzen Meer verbringen und kann heute die Landschaft genießen und mich mit meiner türkischen Sitznachbarin auf Französisch unterhalten. Wenn ich daran denke, was mich an den meisten Tagen am meisten beeindruckt hat, dann war es ein kurzer Aufenthalt an einem kleinen Bahnhof in Kaspitschan, der wie ich gerade auf Wikipedia nachgelesen habe, in Wirklichkeit ein wichtiger EisenbahnVerkehrsknotenpunkt zwischen West- und Ostbulgarien ist. Eigentlich wollte ich von Russe, Elias Canettis Geburtsort, mit der Bahn zu meiner letzten Station Varna fahren, einer Stadt am Schwarzen Meer, die zu byzantinischen Zeiten Odesso hieß. Ein Ticket am Bahnhof von Russe war gelöst, aber dann wurde mir bedeutet, nicht zum Gleis zu gehen, sondern in der Haupthalle zu warten, wo außer mir nur einige ärmlich aussehende Menschen mit verschnürten großen Tüten warteten. Dann kam schon eine junge offiziell aussehende Frau und holte uns ab und brachte uns zu dem Kleinbus draußen vor dem gewaltigen Entree des Bahnhofs. Die Fahrt bis zum 130 km entfernten Russe dauerte 5 Stunden, weil der Bus an jedem kleinen Provinzbahnhof anhielt. Die Straßen waren so wie ich sie von meiner Reise in die Westukraine im Jahr 2019 in Erinnerung hatte: Katastrophal! Glücklicherweise neige ich nicht dazu, beim Fahren Übelkeitsgefühle zu bekommen. In Kaspitschan hielten wir an und durften aussteigen. Vor dem Bahnhof lief eine sehr dünne junge Frau mit langen braunen Haaren herum, die einen Arbeitskittel trug und einen verwirrten Eindruck machte. Der Bahnhof war weit und verlassen, an einem Gleis stand eine kleine Bahn, verrostet und voller Graffiti, sie sah nicht so aus, als wenn sie noch fahren könnte. Rings um den Bahnhof gab es kaum Häuser, so dass ich das Gefühl von einem völlig abgelegenen Nichtort hatte. Ich hatte mir am Morgen nichts zu Essen mitgenommen, weil ich gehofft hatte – dumm von mir – dass es am Bahnhof einen Kiosk gäbe und im Zug einen Speisewagen -. noch dummer von mir -. Nun sah ich sehr erfreut, dass an dem kleinen verlassenen Bahnhof immerhin ein kleiner Imbissstand war, davor ein paar wacklige Stühle und ein Campingtisch. Der Busfahrer erklärte mir, wo am Bahnhof ich warten solle auf den Zug nach Varna und auch, dass er den Zug nach Russe zurückfahren werde. Meine Mitreisenden stiegen alle in einen Zug ein, der einfuhr und in eine andere Richtung weiterfahren sollte. Ich ging erstmal zu dem kleinen Imbiss, kaufte mir eine typisch bulgarische Hefeteigschnecke mit Schafskäse und einen Tee und setzte mich an einen Tisch. Am anderen Tisch saß eine junge Frau mit langen dunklen Haaren und einem Baby auf dem Arm, die mich auf spanisch ansprach. Sie sei, erzählte sie mir, ein paar Jahre in Spanien gewesen und nun wieder hier in der Heimat. Ihre Mutter wohne in Madrid, habe dort einen Rumänen geheiratet. Der Mann, der neben ihr saß, und den ich für ihren Mann gehalten hatte, war ihr Vater. Aber ihr Vater und ihre Mutter würden nicht miteinander sprechen, sagte sie, das sei dumm. Der Busfahrer kam und setzte sich neben uns. Die junge Frau bat mich auch an ihren Tisch. Dann kam noch eine tätowierte blondierte ältere Frau hinzu, die mich auch begeistert begrüßte. Alle unterhielten sich auf bulgarisch und lachten ganz furchtbar viel, besonders der Bus/Zugführer, der nicht mehr alle Zähne im Mund hatte, aber dafür ein sonniges Gemüt. Von Zeit zu Zeit kam die verwirrte junge Frau vorbei, blieb stehen, sah uns an, ging weiter. Zwei wilde Hund schlichen vorbei, wurden mit Fußtritten vertrieben. Der Vater stand auf und ging zu seinem Fahrrad, das er mit einem selber gebauten Motor zum Mofa umgebaut hatte. Wenig später kam er wieder, mit einer Flasche Schnaps. Schnaps wurde eingeschenkt. Die junge Frau – Nadja – herzte und küsste ihre kleine Tochter – Pamela – pausenlos. Die Kleine sei ihr ganzes Glück, sagte sie und strahlte mich an. Nach einer ganzen Weile kam mein Zug, mit lautem Tuten fuhr er ein. Ein Mann in Schaffneruniform und mit einer rotgrünen Kelle trat aus dem Bahnhofsgebäude und baute sich auf. Die junge Frau forderte mich auf, ihr zu folgen. Wir fahren zusammen nach Varna, sagte sie, ich kümmere mich um dich. Der Zug fuhr langsam ein und hatte so hohe Stufen, dass ich es nicht alleine schaffte, meinen Koffer hochzuhieven. Zwei wie Müllmänner angezogene Männer halfen mir. Sie und zwei andere Arbeiter setzten sich zu uns ins Abteil. Wieder wurde sehr viel gelacht und erzählt. Zwei der Männer hatten hellblaue Augen und tiefbraune sehr faltige Haut. Alle hatten nur wenige Zähne. Als sie an der nächsten Station ausstiegen, schüttelten sie uns die Hand. Pamela hatte Hunger und Nadja fütterte sie mit der Flasche. Sie isst alles, sagte sie mir. Nachdem sie gegessen hatte, wollte Pamela auf meinen Arm und mit meiner Kette spielen. Nadja gab sie mir. Als wir in Varna ankamen, waren Nadja und ich Freundinnen. Ich hielt Pamela, die ein ganz dickes Bäuchlein hatte, weiterhin auf dem Arm, während ihre Mutter das Gepäck auslud. Dann kletterten wir die hohen Stufen der Bahn hinunter, umarmten uns, die beiden gingen davon und ich in Richtung des Ausgangs vom Bahnhof Varna, um mir ein Taxi zu suchen, das mich zum Hotel brachte. Das Hotel lag direkt am Strand. Es ist in einem Gebäude aus der Jahrhundertwende untergebracht, das Belle Epoque heißt. Ich musste von dort nur wenige Meter gehen bis zu einem Restaurant, das sich in einem riesigen Piratenschiff befand, das man am Strand aufgebockt hatte und wo ich am Abend sehr gut aß, kleine Blaufische aus dem Schwarzen Meer und Tschopka, den typisch bulgarischen Salat, der aus Tomaten, Gurken und Käse gemacht wird. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis wir an der türkischen Grenze sind, sie befindet sich auf einem Pass irgendwo hoch oben in den balkanischen Bergen, hat mir meine Sitznachbarin eben gesagt. Ich gucke nur manchmal aus dem Fenster und versuche mich auf mein Buch zu konzentrieren. Die Landschaft ist gewaltig, aber ich habe Höhenangst. Und der Busfahrer fährt viel zu schnell um die unübersichtlichen Kurven. Nachhaltig reisen ist schön und aufregend. Aber ich bin froh, wenn ich endlich in Istanbul angekommen bin.