Die junge Frau mit der Sonnenbrille rüttelt an dem verschlossenen Tor der Synagoge. Wieso ist sie nicht offen? Fragt sie mich auf englisch. Ich weiß es auch nicht, eigentlich müsste die Choraltempelsynagoge jetzt geöffnet sein. Ich bin in einem Bereich der Altstadt von Bukarest gelandet, in dem jede Menge Synagogen, ein jüdisches Theater und auch das jüdische Museum sind und stehe wie sie vor verschlossenen Türen. Naja, heute ist ja auch Feiertag, sagt sie. Sukkot. Laubhüttenfest. Bist du jüdisch? fragt sie mich. Nein, sage ich. Wo kommst du her? Aus Deutschland. Und du interessierst dich für Synagogen? Ja. Warum nicht. Wo kommst du denn her? Aus Israel. Schon sind wir im lustigen Gespräch. Ihr Name sei Keren, sagt sie und dass sie aus Tel Aviv stamme. Sie sei seit einer Woche hier, morgen gehe es zurück, jetzt wolle sie sich noch die Synagogen ansehen. Ein Wachmann ist zu sehen, sie ruft ihn mit kräftiger Stimme heran. Nein, sagt er, jetzt sei zu. Aber abends komme der Rabbi, gegen 18 Uhr, da sei die Synagoge offen. Okay. Das ist noch etwas hin. Wir beschließen, gemeinsam weiter zu gehen. Auch die nächste Synagoge, die ehemalige Mare-Synagoge, die heute ein Holocaustmuseum ist, ist verschlossen. Gegenüber steht ein Mann in Wachuniform an einer Baustelle. Sie spricht ihn über die Straße hinweg an. Der hat sofort gesehen, dass ich aus Israel komme, sagt sie, als ich sie frage, ob sie rumänisch könne und auch, dass sie ihn auf hebräisch angesprochen habe. Bukarest ist voller Israelis, meint sie dann noch. Der Mann antwortet ihr tatsächlich, wir gehen hinüber und schon ist sie im lustigen Gespräch. Er bewacht die Baustelle, die zu einem Zentrum jüdischen Lebens werden soll, wo Geschäfte, Kulturzentren, eine Schule entstehen. Ringsum ist alles voller Hochhäuser, die ehemalige Synagoge ist noch das einzige alte Gebäude. Wir gehen ein paar Straßen weiter zum jüdischen Theater, das es seit 1948 gibt und wo die Stücke in jiddischer Sprache mit Simultanübersetzung aufgeführt werden. Aber auch das Theater ist geschlossen und so gehen wir weiter zur Schneidersynagoge, die auch wegen des Laubhüttenfestes geschlossen hat. Als wir davor stehen und gucken, bekommt Keren einen Anruf von ihrem älteren Sohn. Sie hat zwei kleine Söhne, 5 und 7 Jahre alt, hat sie mir erzählt und brauchte mal eine Auszeit. Sie wären alle so erschöpft von den Lockdowns in Israel. Der Kleine weint, als er mit ihr spricht, er vermisst sie. Schon zeigt sie mich ihm, ich sage Schalom Schalom, da weint er nicht mehr. Wir gehen weiter Richtung Parlamentspalast. Unterwegs fragt sie immer wieder Leute nach dem Weg. Das ist die beste Methode, sagt sie mir, um den Weg zu finden, Leute anzuquatschen. Der Parlamentspalast ist ein gigantomanischer Verwaltungsbau aus der Ceaușescuära. Das größte Gebäude dieser Art neben dem Pentagon, erklärt mir Keren, die zu Hause Lehrerin für Geschichte des Nahen Ostens ist. Hier hat das Volk 1989 seinen Aufstand gemacht, ist in den Palast eingedrungen und hat Ceaușescu, der vom Balkon seiner Securitatehochburg aus eine Rede halten wollte, zur sofortigen Flucht mit dem Hubschrauber gedrängt. Die hat ihm aber auch nichts genützt, einen Tag später wurden er und seine Frau zum Tode verurteilt und sofort erschossen. Die Erinnerung an diese Ereignisse, von denen sie jetzt im Ton der Lehrerin erzählt, kommt mir vor wie etwas, das 100 Jahre und länger her ist. Wie ist es mit den Arabern bei Euch in Deutschland? Fragt sie mich dann. Ich treffe hier in Bukarest häufiger Araber, erzählt sie mir, die sind immer sehr freundlich, wenn sie hören, dass ich aus Israel komme. So wie alle anderen auch. Ja, alle sind begeistert, wenn sie Israel hören. Aber bei uns in Israel denken wir immer, alle Araber sind uns feindlich gesonnen. So plaudernd marschieren wir weiter durch Bukarest, schauen uns die Reste der Altstadt an, die die Ära Ceaușescu bei ihrem Modernisierungswahn unbeschädigt gelassen hat. Ich bin begeistert von den phantastischen Passagen und Durchgängen, den prächtigen Boulevards mit ihren Königspalästen, den Gründerzeitbauten, den vielen architektonischen Anklängen an das antike Rom, der herrlichen Architektenschule. Alles ist pompös, gewaltig, groß, an das Berlin der Vorkriegszeit muss ich denken und an Paris sowieso, von all diesen Städten lassen sich hier in Bukarest Anspielungen finden. Auch in den Nebenstraßen sind großartige Häuser zu entdecken, manche liebevoll bunt gestrichen. Das Alte ist oft im Zustand der leichten Verrottung, manchmal auch ganz verfallen, viele blinde Fenster, schmutzige Gardinen, Pflanzen die aus Häusern wachsen, sehe ich. Aber in all der Morbidität ist die ungeheure Schönheit zu sehen, die diese Stadt einmal gehabt haben muss, als all diese Häuser noch neu waren, nämlich vor etwas über hundert Jahren, als die Wirtschaft prosperierte, man an eine blühende Zukunft glaubte. Ich erzähle Keren von meiner Reise. Ungläubig schaut sie mich an. Erkläre mir, warum du mit dem Zug fährst, wenn du doch fliegen kannst. Ich versuche es, beschreibe begeistert die gestrige Fahrt durch Rumänien. Und wie geht es jetzt weiter? Morgen geht es weiter nach Bulgarien. Ich fahre mit dem Zug zu einer Stadt, in die ich schon immer mal wollte, weil von dort einer meiner Lieblingsschriftsteller stammt: Elias Canetti. Den Namen hat sie noch nie gehört. Mein Vater heißt auch Elias, sagt sie. Die Stadt heißt Rustschuk, erzähle ich ihr, auch Rousse genannt und sie liegt an der Donau, dort wo sie ganz breit wird, kurz bevor sie ins Schwarze Meer mündet. Eigentlich ist sie nur 80km von hier entfernt. Aber der Zug, der nur einmal am Tag fährt, braucht 3 Stunden. Je näher ich meinem Ziel komme, desto komplizierter wird es mit der Zugfahrerei. Wie ich allerdings von Rustschuk weiterkomme, weiß ich noch nicht genau. Aber es liegt auf dem Weg Richtung Istanbul…