Es hat, seit ich hier in Istanbul bin, nicht ein einziges Mal geregnet. Das ist beunruhigend, denn letztes Jahr, als ich zur selben Zeit (Oktober, November, Dezember) hier war, hat es oft geregnet, so dass ich mir Gummistiefel zulegte, damit ich nicht dauernd nasse Füße bekam. Auch geschneit hat es noch nicht, anders als letztes Jahr, als um diese Zeit schon zwei längere Schneeperioden waren. Aber es ist sehr windig und kalt heute morgen, als ich mit der Fähre auf die asiatische Seite fahre. Das Boot schwankt hin und her, genauso wie Zeyneps Boot, die zur selben Zeit wie ich fährt und mir, als ich sie treffe, sagt, dass sie vom Schwanken seekrank geworden sei. Wir frieren, als wir den Hügel hochgehen. Als erstes gehen wir auf den den Friedhof der konvertierten und heimlich praktizierenden Juden, die im Rahmen des Völkeraustauschs aus Nordgriechenland gekommen sind, den Bülbülderesi Mezarligi. Dieser Friedhof, auf dem auch der jüdischstämmige Lehrer von Atatürk liegt, der ihn in Thessaloniki, von wo Atatürk stammte, unterrichtet hat, ist heute wieder so friedlich wie immer. Auf den stillen Wegen begegnet uns kein Mensch, nur die grünen Sittiche kreischen. Sittiche? Habt ihr die auch hier? Sie fallen mir zum ersten Mal auf. Sie erzählt mir, dass angeblich vor ein paar Jahren mal ein Schiff verunglückt sein soll, dass die Sittiche transportiert habe. Seitdem vermehren sie sich immer mehr. In Köln sind auch viele Sittiche. Die sollen, hieß es soweit ich weiß, aus dem Kölner Zoo entflogen sein. Oder sind sie auch von einem gesunkenen Schiff entflohen? Die vielen Porträts der Verstorbenen auf den Grabsteinen des Friedhofs erregen Zeyneps Aufmerksamkeit. Das kannte sie bisher noch nicht, das ist auf den anderen muslimischen Friedhöfen anders. Wir verlassen den Friedhof und gehen den Bülbülderesi Tepe (Nachtigallenhügel) hoch, der dicht an dicht bebaut ist mit hässlichen Häusern aus den letzten siebzig Jahren. Ich bin auf der Suche nach der Kindheitslandschaft von Zabel Yesayan, der armenischen Schriftstellerin (1878-1943), die von hier stammte. Sie hat in ihrer Biographie „Die Gärten von Silihdar“ eine so plastische Schilderung dieser Gegend geliefert, das ich sie mir unbedingt angucken wollte. Aber davon, was sie beschreibt, ist hier nichts mehr übrig geblieben. Gärten gibt es keine, nur Beton. Auch all die alten Häuser, die hier einmal gestanden haben müssen, sind fort. Immerhin gibt es noch die Schule, die sie besucht hat. Sie ist das Ziel unseres Weges. Als wir kurz vor der Schule sind, entdecken wir endlich die ersten alten Mauern. Sie gehören zu einer armenischen Kirche, die seltsamerweise auf Google Maps nicht markiert ist. Es ist ir schon öfter aufgefallen, dass armenische und auch griechische Kirchen hier in Istanbul auf Google Maps nur zu finden sind, wenn man ihre Namen weiß und konkret danach sucht. Ansonsten sind sie onlinemäßig unbeschildert. Steckt da Absicht hinter? In der Surp Hac (Heiliges Kreuz) – Kirche, die laut einer Inschrift am Tor von 1676 ist, findet in Kürze eine Trauerfeier statt, jede Menge Blumengestecke warten darauf, in die Kirche gebracht zu werden, wo schon ein Podest für den Sarg aufgebaut ist und wir beeilen uns, um sie zu besichtigen, bevor die Trauerfeier losgeht. Lass uns Kerzen anzünden, sagt Zeynep und so kaufen wir ein paar Kerzen und zünden sie an und betrachten die alten Gemälde in der Kirche, die so hell und licht und schön ist, wie ich es aus allen armenischen Kirchen kenne. In der Nähe der Kirche ist auch die Schule, die Zabel Yesayan besucht hat. Das Tor ist verschlossen, aber als ich klingele, wird uns geöffnet und ein sehr freundlicher Direktor bittet uns hinein und lässt Tee kommen und unterhält sich mit uns. Zabel Yesayan kennt er, aber Texte von ihr stehen nicht auf dem Lehrplan. Fünf Stunden armenisch wird an der Schule mit ihren 80 Schülern unterrichtet, von denen alle zumindest ein armenisches Elternteil haben müssen, um hier unterrichtet zu werden. Der Lehrplan ist vom türkischen Bildungsministerium vorgegeben. Das bedeutet, dass über armenische Geschichte nicht gesprochen werden darf im Unterricht, genauso wie in allen anderen türkischen Schulen, das hatte mir Zeynep schon vorher erzählt. Dass die Minderheiten hier in der Türkei ihre Sprachen in den Schulen lehren dürfen, ist im Vertrag von Lausanne von 1923 ausgehandelt worden. Ich wage den Vergleich, sage, dass das mit dem Unterricht ja so sei, als wenn es in jüdischen Schulen in Deutschen verboten wäre, über den Holocaust zu sprechen. Und erzähle, dass der Genozid an den Armeniern Bestandteil des deutschen Lehrplans ist. Ja, sagt der Direktor, ihr habt ja auch Willy Brandt gehabt, der seinen Kniefall gemacht hat. Und dabei sieht er plötzlich ganz traurig aus und ich kann ihn gut verstehen. Denn die Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern durch die Türken im Jahr 1915 ist noch heute eine als traumatisch erlebte Wunde, schlimmer noch, muss ich denken, wenn es verboten ist, darüber zu reden. Anschließend führt er uns noch durch seine Schule, an der auch Deutsch unterrichtet wird, als zweite Fremdsprache. Als ich ein Plakat sehe, auf dem die Schüler*innen mit Fotos und Namen stehen, wundere ich mich darüber, dass kein einziger von ihnen einen armenischen Nachnamen hat. Die meisten Armenier wollen nicht als solche erkannt werden oder wurden gezwungen, ihre Namen zu ändern. Zuhause wird bei allen türkisch gesprochen, sie können nicht mehr richtig armenisch, bzw. westarmenisch, welches die Sprache ist, die die Armenier hier in der Türkei sprechen, erzählt uns der Direktor. Westarmenisch unterscheidet sich vom heutigen Armenisch in Armenien, das als Ostarmenisch bezeichnet wird, genauso, wie Türkisch vom Aserbaidschanischen. Bevor wir gehen, bekommen wir noch ein Geschenk, eine schöne Teetasse von der Schule. Und er weist uns auf eine andere armenische Schule hin, eine Grundschule, die nicht weit entfernt ist sie. Es gibt insgesamt noch fünf andere armenische Schulen, erzählt er uns, alle auf der europäischen Seite des Bosporus, hier, auf der asiatischen Seite, wohnen ja kaum mehr Armenier. Nachdem wir die Schule verlassen haben, kommen wir dann tatsächlich noch in ein Viertel, in dem es so aussieht, wie bei Zabel Yesayan, also wie vor hundert Jahren, wo noch die alten Holzhäuser stehen und schöne Steinhäuser aus der Jahrhundertwende. Dass ihre Texte in der Schule nicht gelesen werden dürfen, ist doch kein Wunder, sagt Zeynep, alle Texte, auch alle Arbeiten werden vom türkischen Bildungsministerium kontrolliert und genehmigt und wenn ein Autor nur das Geringste über den Genozid geschrieben habe, darf er nicht mehr gelesen werden. Die armenische Grundschule ist in einem wunderschönen Gebäude untergebracht, das solitär dasteht, von einem hohen Zaun umgeben. Auch hier werden wir freundlichst empfangen und herumgeführt. Die meisten Fächer werden auf türkisch unterrichtet, denn es gibt kaum noch armenische Lehrer*innen, wird uns erzählt. Zeynep, die an der deutschen Schule viele armenische Mitschüler*innen und noch heute viele armenische Freund*innen hat, bestätigt das. Keine der Armenier*innen, mit denen sie befreundet ist, ist Lehrer*in geworden. Dafür ist diese Arbeit hier in der Türkei viel zu schlecht bezahlt. Anschließend besichtigen wir noch die sehr sehenswerte Kirche Surp Garabed (Heiliger Evangelist/Johannes), die eine Straße weiter liegt und von 1593 ist. In der Kirche sind viele alte wunderbare Gemälde erhalten und der Altarbereich, der bei den Armeniern, lese ich, den Eingang zum Paradies nachbilden soll, weshalb über dem Altar immer auch eine halbrunde Kuppel mit Sternen ist, die an den Himmel denken lässt, enthält ebenso wie die Surp Hac – Kirche ein Gebäude mit Säulen, das an den Tempel von Jerusalem denken lässt. Wir verlassen die Kirche und das Viertel, in dem noch viele kleine ältere Häuser stehen, die von Gärten umgeben sind, in denen die armenische Schriftstellerin vielleicht wirklich herumgestreift ist in ihrer als so idyllisch beschriebenen Kindheit und Jugend, die später so grausam beendet wurde und gehen zum armenischen Friedhof von Üsküdar. Dieser Friedhof, der von 1551 ist, ist auf der Spitze des Hügels angelegt und vom Lärm großer Straßen umgeben. An seiner Südseite schließt sich der jüdische Friedhof von Üsküdar an, der sich von dem armenischen dadurch unterscheidet, dass hier kein Grün wächst, ein marmornes Grab liegt neben dem anderen. Gleich dahinter wurde vor kurzem ein riesiger modernistischer Moscheenbau angelegt, der den Friedhof überschattet. Wir gucken uns die armenischen Gräber an, die so besonders gepflegt und schön gestaltet sind und kommen dann zu einem prächtigen und auffallend schönen offenen Mausoleum. Hier liegen die Architekten der Familie Balyan begraben, die für die schönsten Bauwerke des 19. Jahrhunderts verantwortlich sind, unendlich viele Moscheen, Sultanspaläste und auch Kirchen gebaut haben. Auf einer Tafel sind all ihre Bauwerke aufgeführt. Neben den Architekten ist ein weiteres großes Grab mit einem riesenhaften aus Marmor nachgebildeten Buch mit einem armenischen Gedicht, das auch auf türkisch übersetzt ist. Hier liegt der armenische Dichter Bedros Touryan begraben, dessen Gedicht davon handelt, das man ihn nicht vergessen solle und dass er nicht vergessen sei, wenn man an seinem Grab an ihn denke. Das tun wir jetzt, als wir vor seinem Grab stehen und sein Gedicht zu entziffern suchen. Als wir den Friedhof verlassen wollen, kommt uns die Trauergesellschaft aus der Surp Hac Kirche entgegen. Wieso sind das alles nur Männer? Frage ich Zeynep. Es ist doch eine Frau gestorben, wie wir vorhin erfahren haben. Sie meint, das sei wohl wie bei ihnen, den Muslimen. Da würden die Frauen auch nicht mit zur Beerdigung gehen. Über die Jahrhunderte haben sich die Riten der vielen verschiedenen Religionen in der Türkei in mancher Hinsicht aneinander angepasst. Wir gehen zurück Richtung Fähre. Unterwegs halten wir einmal vor einer Tierarztpraxis an. Dort wartet eine sehr heruntergekommene Frau im Rollstuhl, die einen räudig aussehenden Hund dabei hat, aber kein Geld, um die Untersuchung zu zahlen, wie Zeynep nach längerem Gespräch erfragt. Die zückt daraufhin sofort ihr Portemonnaie, denn wenn es um Hunde geht, kann sie nicht nein sagen und ich beteilige mich auch, denn die Frau, die einen traurigen Eindruck macht, tut mir leid.
Abends lese ich wieder in dem Buch von Zabel Yesayan, in dem sie von dem unglaublich grausamen Massaker an den Armeniern von 1909 berichtet, das in Adana und Mersin begangen wurde, sieben Jahre vor dem Völkermord, der 1915 stattfand. Anschließend gehe ich eine kurdische Freundin besuchen. Als ich ihr von meinen Eindrücken berichte und von der armenischen Schule, guckt sie mich ungläubig an. Unterrichten sie wirklich armenisch an der Schule? Ja, sage ich. Weißt du, wie sehr ich mir wünschen würde, dass es hier in Istanbul auch nur eine einzige Schule gäbe, wo kurdisch unterrichtet wird? sagt sie mir. Die Kurden, die man eigentlich nicht als Minderheit bezeichnen kann, denn immerhin leben in der Türkei fast 20 Millionen Kurden (25 Prozent der Bevölkerung), werden von den Machthabern ihrer Religion wegen wie Türken gezählt, obwohl sie sich nicht als solche fühlen. Die gleiche Religion zählt bei dieser Zählung und ethnischen Angleichung die größte Rolle. Somit fallen sie nicht unter das Verdikt von Lausanne, das nur Ethnien mit anderer Religion als die Sunnitische berücksichtigt. Aber die Kurden fühlen sich als Kurden und nicht nur ihre Sprache, die anders als das Türkische, das eine asiatische Sprache ist, dem indoeuropäischen Sprachraum zugehört, unterscheidet sie stark von den Türken. Die Kurden wurden übrigens von der türkischen Regierung 1915 zum Genozid gegen die Armenier aufgehetzt und beteiligten sich in großer Zahl daran. „Gedankt„ wurde es ihnen allerdings nicht. Aber ihre Führer haben sich immerhin, anders als die türkischen Offiziellen, dafür bei den Nachfahren der ermordeten Armenier entschuldigt.