Am 1. Advent ist in der Stadt Istanbul nichts vom 1. Advent zu bemerken. Die Sonne scheint und die beleuchteten Schneeflocken auf der Istiklal hängen das ganze Jahr hindurch dort. Die christlichen Religionen, die hier so lange gelebt haben und deren Angehörige man nicht mehr finden kann, wie die Griechen und Italiener, aber auch die übrig gebliebenen Armenier kannten und kennen den Advent nicht. Am Morgen war ich in der armenisch-apostolischen Kirche Üc-Horan (Dreifaltigkeit), die nur ein paar Minuten von meiner Wohnung entfernt ihren Eingang auf dem armenischen Fischmarkt hat. Dort fand wie jeden Sonntag ein Gottesdienst mit vielen Priestern und wenigen Besucher*innen statt. Streng genommen waren es sogar nur zwei Besucherinnen, eine Frau, die sich weiter vorne hingesetzt hatte und ich. Die Kirche ist groß, ist wohl eine der schönsten und prächtigsten Armenierkirchen hier in Istanbul, ihr gehört der ganze Straßenblock, früher war sie wegen des Grundbesitzes reich, heute werden die Armenierkirchen von den vielen Armeniern im Exil in Übersee unterstützt. Im Rest der Türkei ist von den Kirchen der einstmals 2 Millionen Armenier, die bis 1915, bis vor dem Völkermord in Anatolien, das auch Westarmenien genannt wurde, gelebt haben, keine zum Gottesdienst genutzte Kirche mehr übrig geblieben. Aber die Kirchen in Istanbul, von denen viele auch geplündert und als Lagerhallen benutzt wurden, sind immerhin erhalten, viele auch in letzter Zeit renoviert worden und ich bin immer ganz erstaunt darüber, wie hell, licht, schön und sauber die armenischen Kirchen. Von der Decke der Üc-Horan Kirche, die wie fast alle Kirchen in Istanbul eine Hallenkirche ist, hängen eine ganze Reihe wunderschöner Kronleuchter. Auch in den Moscheen findet man immer sehr prächtige Kronleuchter. Und vorne ist in der Kirche eine Art Halbkuppel mit angedeuteten Öffnungen, vielleicht das All symbolisierend, die mich irgendwie an die Kuppel des Hamams erinnert, in dem ich zwei Tage zuvor war. Der Altar ist hoch und mit einer weißen Decke belegt, auf der zeremoniell aussehende Gegenstände stehen. Eine Orgel gibt es nicht und im Gottesdienst wird ähnlich wie bei den Griechisch-orthodoxen eigentlich die ganze Zeit über gesungen, mehrstimmig monochrone armenische Gesänge der beteiligten Priester bzw. Männer in klerikaler Tracht, die vorne im Altarraum herumstehen und gehen, nach welchem System, konnte ich nicht erkennen. Ständig ist auch einer von ihnen mit einem Weihrauchschwenker unterwegs. Der Gottesdienst wird mit dem Rücken zu den Gläubigen abgehalten, manchmal stehen wir auf und setzen uns dann wieder, ich mache es der Frau nach, die vor mir sitzt. Zwei der Priester scheinen die Oberpriester zu sein, sie haben gewaltige schwarze Kittel mit großen spitzen Kapuzen an, die an den Ku Klux Klan erinnern, ähnlich denen, die die Spanier bei ihren Prozessionen in der Karwoche tragen, die Gesichter sind darunter kaum zu erkennen. Diese Priester bekommen während des Gottesdienstes immer mal wieder weiße Umhänge umgelegt und abgenommen. Ich bleibe eine ganze Weile sitzen und schaue dem gesungenen Ritual fasziniert zu.
Am Abend gehe ich mit Zeynep zu Ayses Lokal Hayat. Ich berichtete ja schon von ihr. Ayse ist eine ehemalige Zwangsprostituierte, die lange in Deutschland gelebt und vor vielen Jahren in Istanbul ein Restaurant für Obdachlose eröffnet hat. Dort gibt sie täglich 150 Mahlzeiten an obdachlose Menschen aus. Dafür ist sie immer am Trommeln und Geldsammeln, ist oft im Fernsehen und in der Türkei wohl eine bekannte Persönlichkeit. Außerdem unterstützt sie fünf ehemalige Prostituierte, die Kinder bekommen haben. Ebenso wie sie selber, erzählte sie mir gestern, wurden diese fünf Frauen alle als Prostituierte registriert, weil sie in „staatlichen“ Bordellen gearbeitet haben. Frauen, die so registriert sind, können dann ihr ganzes Leben lang nicht mehr in staatlichen Berufen arbeiten und auch die Kinder dieser Frauen bekommen keine Unterstützung, denn die „Registrierung“ bleibt auf den Unterlagen der Mütter, die die Kinder bei der Einschreibung und auch der Jobsuche vorlegen müssen erhalten. Das eine Kind kann deshalb nicht als Krankenschwester an einem staatlichen Krankenhaus arbeiten. Ayshe sorgt für diese Kinder und hat ihre Schulen und ihre Universität bezahlt. Drei der Kinder studieren. Außerdem kümmert sie sich um den Verkauf des Buches mit ihrer Lebensgeschichte, das nur drei Euro kostet und das sie selber finanziert hat. Sie hat, erzählt sie mir, schon 7000 Exemplare davon in ihrem Café verkauft. In den Buchhandlungen liegt es nicht aus. Als ich gestern Abend mit Zeynep zu ihr ging, um ihr beim Essenausteilen zu helfen, war dort auch ein Filmteam aus Kanada mit einem Moderator aus Dänemark, der aber perfekt englisch sprach und Michael hieß und der sie interviewte und uns dann bei der Essensausteilung half, während pausenlos weiter gefilmt wurde. Nachdem die Essensausteilung vorüber war, gingen wir mit vier weiteren türkischen Helfer*innen, von denen eine eine Medizinerin, die andere eine Soziologin und die andere eine Krankenschwester ist und mit dem Koch zu einem anderen Obdachlosencafé, wo das 14jährige Jubiläum des Cafés gefeiert wurde. Hier lief Musik und Torte gab es und die Frauen im Lokal tanzten schon und holten mich auch auf die Tanzfläche. Ich tanzte gerne mit und dann wurden die Kameras gezückt, weil eine große deutsche Frau mittanzte. Die drei Helferinnen blieben sitzen und sagten, sie könnten diese Tänze nicht, und fragten, wo ich das gelernt hätte. Darüber hatte ich mir gar keine Gedanken gemacht, ich habe immer geglaubt, diese Art orientalischen Tanzes würden alle hier in der Türkei mit der Muttermilch aufsaugen. Aber da habe ich mich anscheinend geirrt. Um Mitternacht brachen wir auf. Da die Krankenschwester einen geheime Abkürzung durch ein nahe gelegenes sehr großes Krankenhaus kannte, von dem seit langer Zeit gemunkelt wird, es solle seiner guten Lage in der Nähe des Taksims wegen in ein Luxushotel umgewandelt werden, gingen wir erst durch eine Tiefgarage und dann durch das Krankenhaus, in das wir mit dem Fahrstuhl hochfuhren. Der Koch zündete sich im Fahrstuhl eine Zigarette an, woraufhin ihn die Krankenschwester anfuhr, er solle das sein lassen. Er grinste und rauchte trotzdem weiter. Der Portier des Krankenhauses guckte sehr erstaunt, als wir auf einmal ankamen und nach draußen gingen. Dieses Krankenhaus ist übrigens genau gegenüber vom ehemaligen deutschen Krankenhaus, in dem Zeynep, wie sie mir gestern erzählte, geboren wurde. Dieses deutsche Krankenhaus, das einen sehr guten Ruf hatte, ist allerdings schon lange in ein Institut der Universität umgewandelt worden. Anschließend begleiteten mich die beiden jüngeren Frauen, die Schwestern sind und Reyhan und Hatice heißen, bis zu mir nach Hause. Unterwegs erzählten sie mir, dass sie zum Volksstamm der Zaza gehören, einer Ethnie, die in Südanatolien lebt. Sie würden aber vor allem Türkisch sprechen, das Zaza hätten sie erst spät erlernt, es sei bis heute keine offizielle Sprache, dabei gäbe es mehr als zwei Millionen Angehörige der Zaza in ihrer Gegend. Von denen sind viele Alleviten, viele aber inzwischen auch zu Muslimen geworden. Das sei traurig sagten sie, unsere Kultur geht bald ganz verloren. Wir gingen durch Nebenstraßen, denn über die Istiklal mögen wir seit dem Bombenanschlag nicht mehr gehen. Als sie mich zu meinem Haus brachten, neben dem – es war Samstagabend – mal wieder alle Clubs laute Musik spielten und Hans und Franz auf der Straße feierte, sagten sie: Hier wohnst Du? Wie machst du das bloß, bei soviel Lärm zu schreiben….
Wer sich mit einer Spende an der Obdachloseninitiative von Ayse und dem Café Hayat beteiligen möchte, kann dieses gerne tun und es auf mein Konto: DE50370100500005305507 überweisen, oder per Paypal an meine Emailadresse: mail@sabineschiffner.de Ich werde dann bei der Übergabe um eine Quittung bitten, die ich gerne an Euch weiterreiche.