Meine Freundin Bella ist vor ein paar Tagen nach Verona gekommen, um hier ein Schaf zu opfern. Verona ist ein kleiner Ort in Kachetien/Georgien, kurz vor dem Gombori-Pass. Er ist so klein, dass sich im Internet nichts darüber finden lässt. Benannt worden ist das Dorf nach der Burg, die auf dem Backenzahnartigen mythischen Berg in der Nähe thront und dort vermutlich von Kreuzfahrern errichtet wurde. Heute ist kaum noch etwas von der Burg zu sehen, sie verschwindet auf der Bergeskuppe im dichten Wald. Ursprünglich hieß die Burg Verena, aber irgendwann wurde der Name in Verona geändert. Das klingt europäischer. Nicht nur die Burg, sondern auch die Bewohner Veronas haben etwas mit den Kreuzfahrern zu tun. Ihre Tracht ist eine in Georgien ganz eigene Kleidung, die mit Kreuzen bestickt ist und ihre Schwerter heißen Frankuli, was soviel wie Frankenschwerter bedeutet. Die Kreuzfahrer zogen im Frühmittelalter durch Georgien. Dann kamen die Araber, die Perser, die Osmanen. Zuletzt die Russen. Alle diese angreifenden Heerscharen konnten den Georgiern nicht viel anhaben. Denn sie waren wehrhaft. Und sie konnten sich in den verschlungenen Bergketten verstecken. Heute wohnt in diesem Gebiet ein sehr kleiner Teil des georgischen Bergvolks der Chewsuren. Gott war immer mit uns, sagen sie, deshalb gibt es uns heute noch. Noch heute wohnt dieses kleine Volk auf dem Gebiet, wo sie schon vor fast zweitausend Jahren als zweites Land der Welt christianisiert wurden. Ihre Königsfamilie führt sich zurück auf König David, weshalb in Georgien traditionell eine Freundschaft mit den Juden bestand, die hier nie verfolgt und ausgerottet wurden. Aber es gibt auch viele Regionen, in denen muslimische Georgier leben. In Tiflis stehen Synagogen neben Moscheen neben Kirchen verschiedenster Glaubensrichtungen. Hier wurde traditionell Toleranz gepflegt. Es war wichtig, dass man glaubte, an was, war nicht wichtig. Es steht sogar noch ein zoroasthrischer Tempel, der allerdings heute keine Funktion mehr hat.
Ich bin gestern von der Türkei aus nach Georgien geflogen, um hier mit Bella eine Anthologie vorzustellen, die wir gemeinsam zusammengestellt und übersetzt haben. In ihr werden Gedichte zum Krieg von georgischen und ukrainischen Dichter*innen vorgestellt. Am Montag werden wir sie in Tiflis präsentieren. In der Türkei weiß man, wie ich aus Gesprächen mit meinen türkischen Freunden erfuhr, so gut wie gar nichts über das Nachbarland. Dabei sind viele Türken ursprünglich georgischen Ursprungs, nicht zuletzt der heutige Präsident Erdogan, dessen Vorfahren aus Batumi einwanderten, welches am schwarzen Meer liegt und heute eine bekannte Hafenstadt ist. Spreche ich mit türkischen Freunden über Georgien, dann ist ihnen darüber nichts bekannt. Es ist, als wenn Gürgistan, wie sie es nennen, für sie nicht existieren würde. Den Georgiern geht es umgekehrt aber auch ähnlich. Es ist, als wenn die Türkei von hier aus tausende Kilometer entfernt wäre. Denn Mentalität und Denken könnten nicht unterschiedlicher sein. Die Georgier sind, obwohl durch das schwarze Meer und die Türkei davon abgetrennt, doch in ihren Interessen und in ihrem Auftreten sehr viel europäischer. Erst hier fällt mir auf, wie orientalisch und muslimisch selbst die sich modern und atheistisch gebenden Türken sind. Kaum bin ich in Georgien angekommen, braten wir Abends am offenen Feuer Schaschlik, das ganz wunderbar schmeckt. Ich denke wieder daran, wie man mich in der Türkei oft mit leicht angewidertem Gesicht gefragt hat: Schmeckt das denn überhaupt, Schweinefleisch? So gut kann es eben nur schmecken von georgischen Schweinen, die tagsüber frei im Wald und auf den Feldern herumlaufen und Abends von alleine wieder nach Hause kommen, unwissend, dass ihnen irgendwann das georgische Schlachtmesser droht. Als ich am Morgen nach dem Festmahl aufstehe und die Fenster des Hauses in Verona öffne, in dem ich mit Bella zu Besuch bei ihrem Bruder Jurij bin, empfängt mich eine überwältigende Berg und Naturkulisse. Und ein lebhaftes Läuten in der Ferne. Gleich nach dem üppigen Frühstück mache ich mich, begleitet von den fünf Hunden Juris, auf den Weg Richtung des Läutens und treffe bald auf eine Herde von kleinen mageren Kühen, die große Glocken umgehängt haben und von einem Hirten begleitet werden, der mich freundlich grüßt. Er spricht russisch, ich kein georgisch, aber wir führen dann doch eine Art von Gespräch. Er heißt Tariel und er kann immerhin auf deutsch bis 14 zählen (welcher Deutsche kann das schon auf Georgisch) und erzählt mir, dass er viel von Merkel gehalten habe, von Scholz aber gar nichts. Dann erkundigt er sich, was ich hier mache und wo ich wohne. Und dann schweigen wir eine ganze lange Weile und schauen in die Ferne, während die Kühe um uns herum in dem trockenen stachligen Grund nach Fressen suchen. Bei diesem kargen felsigen Grund können die Kühe nicht dick werden. Als er eine Kuh aus einem Gebüsch befreit, gehe ich wieder Richtung des Hauses. Auf einer Weide grasen ein paar Pferde, ein Fohlen liegt daneben in der Sonne. Da hier alle Zäune offen stehen, gehe ich zu ihm, setze mich daneben. Es hebt kaum den Kopf. Wenig später kommt ein Mann mit einer großen Baumsäge, die er auf dem Rücken geschnallt trägt. Er grüßt mich, nimmt eines der kleinen struppigen Pferde, bindet ein provisorisches Seil um dessen Nüstern, schwingt sich auf seinen unbesatttelten Rücken und reitet davon. Das war Saur, der reitet jetzt in den Wald zum Holzholen, erklärt mir wenig später Jurij, der hier jeden kennt. Und sagt dann noch, dass dieser ein phantastischer Reiter sei, wie eigentlich alle Männer und auch viele Frauen hier in der Gegend, die sich einmal im Jahr zum traditionellen Pferderennen treffen. Die Familie von Bellas Bruder ist erst vor einem Jahr aus dem nahen Tblisi hierhergezogen. Sie haben Glück gehabt, dass sie dieses Grundstück kaufen konnten, von dem man aus in alle Richtungen blicken kann; es ist paradiesisch gelegen. Saur, Tariel und Davito, der Nachbar, die alle zum Volksstamm der Chewsuren gehören, sind große blonde und helläugige Männer und haben in diesem Dorf nicht schon immer gelebt. Ihre Vorfahren lebten ursprünglich in höheren Bergregionen im Kaukasus und waren für ihre Wehrhaftigkeit und aber auch Ritterlichkeit schon im Mittelalter bekannt, wo sie die Leibgarde der georgischen Könige bildeten. In der Mitte des letzten Jahrhunderts, als Georgien von Russland besetzt war, wurden sie von den Russen nach Zwischenfällen in die Ebenen umgesiedelt. So kam auch die heutige Bevölkerung von Verona hier nach „unten“, was in diesem Falle immer noch 1000m über Null bedeutet. Aber ihre Häuser und ihre Wehrtürme stehen noch in den Dörfern in Chewsuretien, die heute Touristenattraktionen und UNESCO Weltkulturerbe sind. Und sie bewahrten sich ihre alten Sitten, wozu unter anderem das Praktizieren von Opferritualen gehört. Und sie singen gerne. Wir fahren heute über eine Passstraße, von deren höchstem Punkt aus man Jurijs Haus sehen kann. Unterwegs machen wir halt am Kloster Shuamta. Am Eingang steht ein Mönch in schwarzer Trainingsjacke, mit ungepflegten Bart und einem schwarzen langen Rosenkranz in der Hand, begleitet wird er von einem großen Hund. Wir müssen uns Tücher um die Beine binden, auch ich, obwohl ich eine lange Hose und noch ein Kleid darüber trage. Warum? Frage ich Bella. Er hat gesagt, dass du zu lange Beine hast, antwortet sie mir. Dagegen kann ich nichts sagen. Das Kloster ist erst nach der Wende wieder richtig aufgebaut worden, es war lange eine Ruine. Nun lässt das Innere allerdings immer noch an die Zeit um 400 nCh. denken, als die ersten Christen hierherkamen. Auf dem rohen Putz sind schwarze Schlieren. Früher gab es hier Fresken, sagt Bella, aber die sind seit der Renovierung verschwunden. Auch verschwunden sind die Gräber von König Levan und das Grab seines Enkels Erekle, die sich früher im Innenraum der kleinen Kapelle befanden. Man hat sie eingeebnet und Fliesen darüber gelegt. Im Grab von Erekle befand sich allerdings nichts als seine Hand; das war das einzige, was die Georgier zurückbekamen, nachdem Erekle als Geisel von osmanischen Truppen mitgenommen und nach Konstantinopel gebracht worden war, erzählt Bella. Beim Eintritt in den Kirchenraum müssen wir zusätzlich zu dem Umhang um die Beine noch ein Tuch über den Kopf ziehen. Ob die Frauen im 4. Jhd., als die Kirchen Georgiens gebaut wurden, auch so übertrieben züchtig angezogen waren? Georgien ist immer noch das Land der Machos, sagt Bellas Schwägerin Sophiko, die eine berühmte Künstlerin ist und die es wissen muss. Nachdem wir das Kloster besichtigt haben, geht es weiter nach Telavi, der alten Hauptstadt Kachetiens. Dort bestellen wir georgische Estragonlimonade, Chatchapuri, die georgische „Pizza“, diesmal in der Version aus Imeruli und anschließend Chinkali, faustgroße, mit Hackfleisch gefüllte Nudeln, im berühmtesten Chinkalirestaurant Georgiens, das so klein und unauffällig ist, dass es der Fremden kaum aufgefallen wäre. Die Chinkali muss man erst leerschlürfen, dann aufessen. Die Wirte tragen 40 Stück auf, das ist kaum zu schaffen, aber die Georgier übertreffen sich gerne gegenseitig im Essen von möglichst vielen der nahrhaften Kalorienbomben. Nach dem Essen füttern wir die wilden Hunde vor der Tür mit den Resten von unseren Tellern und fahren dann zur Königsburg der Kacheten, zu der Bella in ihrer Kindheit so oft gekommen ist. Gleich daneben befindet sich eine Statue von König Erekle (Herakles) II., der für seine Kleinheit und seine Kampfeskraft berühmt war und dafür, dass er schon als sechzehnjähriger erfolgreiche Schlachten führte. Ausgerechnet an einem 11. September hat er allerdings die Schlacht um Tiflis, das damals noch die Hauptstadt Kachetiens war, gegen die Perser verloren, die unter ihrem Schah Abbas Georgien angegriffen hatten. Du kennst Schah Abbas nicht? wundert sich Bella. Seitdem er Tiflis erobert hat, ist für uns Georgier der 11. September ein Schicksalstag, sagt sie jetzt. Erekles riesenhafte Statue schaut von ihrem Hügel aus weit über die unendlich weite Ebene Kachetiens hinweg bis in die fernen schneebedeckten Gipfel der Berge. Das ist der Nordkaukasus, dahinter beginnt Tschetschenien. Bevor die Sonne blutrot hinter den kaukasischen Bergen verschwindet, fahren wir noch schnell nach Iqalto. Das Kloster Iqualto wurde im 6. Jhd. von syrischen Christen gegründet und im 11. Jhd. zu einer Akademie umgebaut, in der u. a. Shota Rustaveli, der Autor des berühmtesten Opus der georgischen Literaturgeschichte, studiert hat. Er musste allerdings nach Veröffentlichung dieses Werkes das Land verlassen, weil es der damaligen Königin Tamara zu sehr sufistisch und zu wenig orthodox-religiös war. Iqalto war jahrhundertelang des kulturelle und geistige Zentrum Georgiens, dort wurden Theologie, Philosophie, Astronomie, Jura, Rhetorik und Mathematik gelehrt. Die Akademie wurde 1616 durch Schah Abbas zerstört, nur die dazugehörigen Kirchen stehen heute noch. Große Zedern wachsen um den alten Klosterkomplex, der sich inmitten des berühmtesten Weingebietes Georgiens befindet. Die Sonne ist fast untergegangen und wir fahren wieder zurück nach Verona, wo Bella nächste Woche ihr Schaf opfern will. Wenn ich nach Istanbul zurückkehre, wird es mir vorkommen, als wenn ich in einem sehr christlichen und vertrauten und doch auch sehr paganen und fremden Land gewesen bin. Einem wunderschönen Land mit vielen Gegensätzen, einem Land, in dem die Geschichte für ihre Bewohner*innen (im Georgischen gibt es bei den Artikeln keine Geschlechter, was aber nicht bedeutet, dass die hier Frauen gleichberechtigt sind) heute sehr lebendig zu sein scheint.