Der 28. Februar ist hier in der Türkei der Tag der Frauen mit Kopftuch, an dem daran erinnert wird, dass das Kopftuch von 1923 an lange Zeit in der kemalistischen Türkei verboten war. Kadın kapalı ist das Wort für eine Frau mit Kopftuch, es bedeutet „Geschlossene (kapalı) Frau (Kadın)“ und wenn ein Türke jemand anderem von einer Frau mit Kopftuch erzählt, macht er eine typische Bewegung, so als wolle er ein Kopftuch unter dem Kinn zusammenhalten. Zeynep Hanim (Hanim heißt Frau und wird als höfliche Anrede hinter den Vornamen gesetzt, es ist die altmodische Weise, jemanden anzusprechen), die von ihren Kolleginnen Hocam (meine Lehrerin) genannt wird, habe ich auf einer Lesung kurz vor Weihnachten kennengelernt. Sie kam dorthin, um Gedichte von mir, der deutschen Dichterin, zu hören. Nach der Lesung kamen wir ins Gespräch, sie erzählte mir, dass sie Lehrerin ist und Goethe liebt und selber Gedichte schreibt und wir tauschten unsere Mailadressen aus und schrieben uns. Als ich vor kurzem zurück nach Istanbul kam, lud sie mich ein, an ihrer Schule eine Lesung zu machen. Zeynep Hanim trägt ein Kopftuch und altmodische islamische Kleidung und unterrichtet an einer so genannten Imam-Hatip-Schule. Dabei handelt es sich um staatliche Gymnasien, die zur Ausbildung als Religionsbeamter, d.h. Imam oder Prediger ausbilden und deren Abschluss den Hochschulzugang ermöglicht. Zusätzlich zum normalen Unterrichtsstoff wie an anderen türkischen Gymnasien haben die Schüler Koranunterricht und Arabisch. Sie haben dadurch ein wöchentliches Pensum von 36 Stunden (an normalen Gymnasien sind es 28 Stunden), und gehen zudem ein Jahr länger zur Schule als normale Schüler. Zeynep Hanims Schule, das Ayazağa Anadolu Imam Hatip Lisesi befindet sich im Viertel Ayazağa, inmitten futuristisch anmutender Hochhäuser, in einem unlängst entstandenen Viertel, seelenlos und voll bebaut mit Häusern, in denen vor allem gearbeitet, aber nicht gelebt wird. Die Ausbreitung von diesen Imam Hatip Schulen ist in den letzten Jahren mit der zunehmenden Islamisierung der Türkei sehr vorangeschritten. Hier soll eine neue intellektuelle islamische Elite ausgebildet werden, etwas, was der laizistische Teil der Türkei, zu dem eigentlich alle meine Bekannten hier gehören, mit viel Sorge sieht. Denn die Befreiung vom Kopftuch unter Atatürk ging Hand in Hand mit der Emanzipation der Frau in der Türkei und damit, dass es eines der ersten Länder auf der Welt war, wo die Frauen Wahlrecht bekamen. Aber das ist lange her und jetzt weht hier in der Türkei ein anderer Wind, der wieder rückwärtsgewandt ist. Aber es interessiert mich trotzdem, wie es an einer solchen Schule zugeht. Sind sie dort Hardcoreislamisten? Zeynep Hanim holt meine Freundin Zeynep, die übersetzen wird und mich von der Haltestelle der Metro ab und wir folgen ihr durch die Hochhausstadt hin zur Schule. Würde ich mich zwischen die beiden Zeyneps, die zwei Kopf kleiner sind als ich, stellen, hätte ich einen Wunsch frei, haben sie mir schon beim letzten Mal erzählt. Das sage man so in der Türkei. Beim Eintritt in die Schule bin ich überrascht, dort sowohl Mädchen und Jungen zu sehen, als auch Schülerinnen und Lehrerinnen ohne Kopftuch. Die Kinder werden hier koedukativ unterrichtet, erfahren wir. Aha. Wir werden schon vom Direktor erwartet, der in seinem Direktorenzimmer hinter seinem großen Schreibtisch thront, einen Schnurrbart trägt und mich auf Deutsch und mit Handschlag begrüßt. Auch das ist nicht selbstverständlich, islamische Männer geben mir sonst nie die Hand. Sehr viel mehr als die Begrüßung kann er aber nicht auf Deutsch. Er hat einen Onkel in Duisburg und spricht mit mir über Bremen, das er kennt: so klein, aber doch sehr schön. Nachdem er mir etwas Rosenwasser über die Hände gegossen hat, bietet er mir ein riesiges Lokum/turkish delight an, die typische türkische Süßigkeit. Als ich es gegessen habe, gehen wir, Zeynep Hanim, die ihren weißen Lehrerinnenkittel angezogen hat, eine andere Literaturlehrerin, die kein Kopftuch trägt, der Direktor, ein gleichfalls anwesender türkischer Dichter, den ich von einer anderen Veranstaltung kenne und der auch an dieser Schule unterrichtet und ich aus dem Schulgebäude und in ein anderes Gebäude, wo die Lesung stattfinden wird. Wir kommen in einen großen Raum, in dem sich die Bibliothek der Schule befindet. Er ist voller ca. 16 Jahre alter Schüler, die bei unserer Ankunft aufstehen und applaudieren, so dass ich mir vorkomme wie ein Filmstar, während ich durch sie hindurchgehe. An den Wänden, von der Decke, auf den Tischen, überall liegen und fliegen Bücher herum. Vorne hat man einen Tisch aufgebaut und ein Schild mit meinem Namen aufgestellt. Alles ist liebevoll dekoriert. Zur Eröffnung der Veranstaltung trägt ein deutschsprachiger Schüler ein Gedicht von mir vor:
die treppe am galatasaray gymnasium
zwei katzen kinder spielen hier auf den
stufen daneben liegt ein mann
mit ohne schuhe ein schuh
putzer geht schnell an ihm vorüber
und lässt die bürsten diesesmal nicht
fallen dort sind die scherben von
den bierflaschen hier natostacheldraht
blutige taschentücher neben
einem pappkarton der mann der darauf liegt
schläft oder ist sogar schon tot
irgendwer hat diese treppe
blau und gelb und rot angemalt
und das bringt farbe in das
manchmal zu graubraune leben
vom hinterausgang des hamams
hört man wen etwas rufen
es riecht nach chlor nach
unrat und nach bier
zwei katzenkinder
spielen hier
auf den stufen
Ich hatte, bevor ich kam, überlegt, dieses Gedicht zur Lesung mitzubringen, dann aber Abstand davon genommen, weil es mir zu krass vorkam in diesem Milieu. Den Schülern hier scheint es aber nicht zu krass vorzukommen, sie applaudieren begeistert, als ihre Lehrerin auch die türkische Version vorträgt. Sie stellt mich kurz vor, anschließend steige ich mit Zeynep aufs Podium und lese vier Gedichte, die ich in Istanbul geschrieben habe, während die Lehrerin wieder die türkischen Übersetzungen vorträgt. Nach jedem Gedicht gibt es viel Beifall. Anschließend tragen sechs Jungen, begleitet von Musik, mehrstimmig ein langes Gedicht des türkischen Dichters Sezai Karakoc vor, eines sehr islamistischen Dichters einer Dichterbewegung, die Zweite Neue heißt. Es handelt davon, wie gut es ist, wenn Frauen das Kopftuch tragen. Obwohl also das Gedicht inhaltlich furchtbar ist, gefällt mir die Präsentation der Schüler sehr gut. Zwei Mädchen kommen auf die Bühne lesen jeweils ein eigenes Gedicht, das sie von ihren Handys ablesen, diesmal, sagt Zeynep, seien es schöne Gedichte gewesen. Zum Abschluss der Veranstaltung exklamiert die Literaturlehrerin Zeynep Hanim, die ihre Schüler in Creative writing unterrichtet, mit viel Verve ein selber geschriebenes Gedicht, das von ihrer Liebe zu den Schülern handelt, die wie Blumen sind, die gut gepflegt werden wollen. Der Direktor kommt auf die Bühne und sagt, dass er stolz sei, dass ich heute hier bei ihnen gewesen sei. Das sei heute die erste Veranstaltung an seiner Schule mit einer Frau und Dichterin, zudem mit einer Dichterin, die kein Tuch tragen würde und das habe ihm sehr gut gefallen. Es sei gut, wenn sich auf diese Weise verschiedene Welten kennenlernen würden. Er überreicht mir als Geschenk einen Karton mit zwei sehr schönen türkischen Mokkatassen und sagt mir, wenn man so etwas bekäme, würde man den Geschenkgeber 40 Jahre nicht mehr vergessen. Eine spontan gezeichnete Karikatur von mir bekomme ich auch, auf deutsch hat jemand darauf geschrieben: Diese Schule ist Poesie. In diesem Moment mag ich die Schule, die Schüler und den Direktor und seine Lehrer sehr und denke nicht mehr darüber nach, ob es Islamisten sind oder nicht. Denn wenn überhaupt, ist das doch hier eher eine Art Islamismus light, der auch andere zulässt, muss ich denken. Dann weden Fotos gemacht. Die Schüler haben das ganze Event organisiert, auch den Internet und Instagramauftritt vorbereitet und kümmern sich sehr professionell um alles. Ich bin überrascht, wie modern, wie digitalisiert hier alles ist, sowohl Mädchen wie Jungen engagieren sich. Anschließend geht es wieder zurück ins Direktorenzimmer. Nun bekommen wir Tee gereicht, noch mehr Lokum, mit Rosengeschmack, welches mein Lieblingslokum ist und es wird weiter geplaudert. Die türkischen Lehrer sind sehr daran interessiert, zu hören, was man in Deutschland von den Türken hält, ob es viele Atheisten gibt und wie an den Schulen Religion unterrichtet wird. Auch daran, was ich von der Türkei halte, was ich erstaunlich fand und wie ich während meines Aufenthaltes die Türkei und das Verhältnis zwischen Religiösen und Nichtreligiösen erlebt hätte und was mir besonders aufgefallen ist. Immer mehr Lehrer kommen hinzu, die der Direktor mir voller Begeisterung vorstellt, eine Psychologielehrerin, die Lehrerin für Religion, die „den ganzen Koran in ihrem Herzen trägt„, sagt der Direktor über sie, eine Lehrerin für Filmkritik, die darüber schon ein Buch geschrieben hat, das er mir auch gleich zeigt und mehrere Schüler von denjenigen, die das Gedicht vorgetragen hatten, stehen auch bei uns im Direktorenzimmer, servieren Tee und suchen das Gespräch mit mir. Die Schüler wollen wissen, wie es mit den Neonazis und der neuen Rechten in Deutschland sei. Einer fragt mich, welcher Teil der türkischen Geschichte mich besonders interessiere und sagt, er habe eine große Faszination für Bismarck. Der Direktor fragt, ob ich schon einmal gehört habe, wie ein fünfzehnjähriger den Koran lesen würde. Nein, sage ich, das hätte ich noch nicht gehört. Kurz darauf kommt ein völlig normal aussehender großer Junge, setzt sich neben mich auf den Stuhl und fängt an, den Koran auswendig auf arabisch zu singen. Das ist ein wunderbarer Moment. Wir lauschen alle ganz gebannt. Anschließend werden wieder frischer Tee und Kekse serviert und weiter geplaudert. Ein wenig wundere ich mich schon darüber. Ist denn heute hier kein Unterricht? Wir sitzen fast zwei Stunden im Direktorenzimmer und hätten wahrscheinlich noch Stunden weiter gesprochen, wenn Zeynep mir nicht plötzlich zugeflüstert hätte, dass ich diese Veranstaltung abbrechen müsse und ihnen sagen, dass ich leider noch etwas vorhabe und deshalb gehen müsse. Wenn ich das nämlich nicht tun würde, würden sie nie von sich aus Schluss machen, sondern wir würden noch bis heute Abend hier sitzen, Tee trinken und Lokum essen und uns gut unterhalten. Denn wenn sie von sich aus den Besuch beenden würden, wäre das extrem unhöflich mir gegenüber. Das ist eben die Art der Orientalen, fügt sie noch hinzu und guckt mich so an, dass ich weiß, dass es aber nicht ihre Art ist. Ich bedanke mich bei allen, bekomme noch viele wunderbare Komplimente zu hören – ich sei ja wohl sehr undeutsch, bescheinigt man mir, so eine freundliche Deutsche wie mich hätten sie noch nicht kennengelernt – und gehe, begleitet von Lehrerschaft und Direktor vor die Tür der Schule, damit die engagierten Schüler uns fotografieren können. Auf dem Weg zum Parkplatz begleiten uns noch zwei der Schüler. Der eine von ihnen, der sich als Liebhaber deutscher Geschichte geoutet hat, fragt mich, ob er mir seinen Aufsatz zu Bismarck schicken dürfe. Natürlich, gerne, sagte ich. Aber ob ich ihn werde lesen können? er wird ihn ja wohl auf Türkisch geschrieben haben. Englisch wird nämlich hier an der Schule so gut wie gar nicht gesprochen. Die meisten Gespräche hat Zeynep für mich übersetzt. Ich gucke noch einmal zurück zur Schule, wo der Direktor und die Tuch tragenden Lehrerinnen auf den Stufen stehen und mir nachwinken und denke, dass dieser 28. Februar wirklich eines der intensivsten Erlebnisse während meines Aufenthaltes in Istanbul gewesen ist. Meine ablehnende Einstellung zum Tuchtragen hat sich dadurch nicht geändert. Aber ich habe hier an der Schule eine sehr freundliche und wertschätzende Atmosphäre gespürt, denn zwischen Lehrern und Schülern herrschte ein sehr gutes und nicht autoritäres und kreativ anregendes Einvernehmen und auch ich, die Fremde und Christin, wurde mit offenen Armen aufgenommen. Das hat mir sehr gefallen und ich würde mir wünschen, dass ich es ihnen eines Tages genauso zurückgeben könnte.