Vor zwei Jahren kam ich nach Istanbul, um meine ehemalige Austauschschülerin Zeynep zu suchen. Und ich habe sie damals auch tatsächlich gefunden. Jetzt bin ich wieder hier, um mit ihr das Buch zu überarbeiten, das von meiner Suche nach ihr handelt und davon, was wir in den gemeinsamen Monaten in Istanbul erlebt haben. Denn „Zeynep Suchen“ wird im Herbst diesen Jahres im Dagyeli Verlag in Berlin erscheinen (Jippiehhh!!).
Wenn mir vor drei Jahren jemand gesagt hätte, dass ich demnächst fast ein Jahr meines Lebens in Istanbul verbringen werde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Seit gestern bin ich wieder in Istanbul und habe, seit ich vor nun genau zwei Jahren das erste Mal hierher kam, insgesamt fast elf Monate in dieser großartigen Stadt verbracht.
Heute herrscht hier in meinem sonst so belebten Stadtviertel Beyoglu Totenstille. Überall sind Absperrgitter, überall steht Polizei mit MG´s im Anschlag. Grund dafür ist eine geplante Transgenderdemonstration, die es zu verhindern gilt. Die Angst vor Transgender scheint hier in der Türkei – wo ich an normalen Tagen so viele Transgender-Personen sehe wie sonst noch nirgendwo auf der Welt, enorm groß zu sein.
Meine gestrige Ankunft in Istanbul war ein wenig wie ein Nachhausekommen. Dieselben Leute wie beim letzten Mal standen vor den Geschäften und schienen sich zu freuen, dass ich wieder da war. Und in meinem Atelierhaus fand eine Party statt, zu der ich spontan eingeladen wurde. Der kleine Hund der Künstler aus dem Nachbaratelier freute sich auch, dass ich kam und brachte mir sein Einhorn. Auf dem Weg vom Flughafen hierher war mir schon aufgefallen, dass es weniger Katzen und weniger Straßenhunde gibt. Aber immer noch sehr viel arme, sehr viele obdachlose Menschen. Sehr viele Transsexuelle und immer mehr Frauen, die die Burka tragen….
Seit dem 3. Juli 2021, als ich das erste Mal türkischen Boden betrat, hat sich hier einiges geändert. Damals war noch nicht viel los auf den Straßen. Man musste in den U-Bahnen, auf den Fähren und in den Läden, ja sogar eigentlich auch auf den Straßen Masken tragen und ein Drittel der Geschäfte war geschlossen. Für einen Euro bekam ich 7 Lira und ein Sesamkringel kostete 2,5 Lira.
Gestern Nacht, als ich am Taksim ankam, waren alle Läden geöffnet, überall saßen und liefen Menschen herum, viele Frauen mit Kopftuch und Burka waren zu sehen. Inzwischen bekomme ich für einen Euro 25 Lira (!!!) und ein Sesamkringel kostet 9 Lira. Es ist also alles fast viermal so teuer geworden wie noch vor zwei Jahren. Aufträge und Rechnungen müssen innerhalb von drei Tagen beglichen werden, weil dann die Preise wieder steigen und die Speisekarten werden fast nur noch digital ausgegeben, so ist es einfacher, die Preise alle drei Tage neu anzupassen. Aber ob die Gehälter auch alle drei Tage ansteigen?
Inzwischen gibt es kaum noch geschlossene Läden. Überall arbeiten sehr junge Menschen und auf den Straßen sind immer mehr Frauen mit Burka zu sehen.
Aber: „Ich finde keine Arbeiter mehr, niemand will hier arbeiten.“ sagt mir Ahmed, der Besitzer vom Majestic-Kino, der mich freudig begrüßt. Anscheinend gibt es in der Türkei ein ähnliches Personalproblem wie in Deutschland. Ob das damit zu tun hat, dass die Menschen schon mit 50 Jahren pensioniert werden, manchmal sogar – wie jetzt kurz vor den letzten Wahlen – noch früher? Wie die Menschen hier überleben, wenn sie keinen Job machen wollen, ist Ahmed aber auch ein Rätsel. Seda, die transgender Wahrsagerin, die lange für ihn tätig war und von der ich auf meinem Blog berichtete, kümmert sich um ihren kranken Vater, sagt er mir auch. Sie hat außerdem ein Rückenproblem. Aber mein bejahrter Freund Ali Kocoglu, der mir letztes Mal erzählte, dass er seit sechzig Jahren im Majestic-Kino als Vorführer arbeitet, ist nicht mehr dort. Er wurde entlassen.
Ich hatte gestern wie immer ein wenig Angst, in die Türkei zu fliegen, denn hier hat sich nichts geändert. Die Wahlen haben nichts Neues gebracht. Die Gefängnisse sind immer noch voll. Für die Transgenderdemo hat man tausende Polizisten herbeigeschafft und die Metro schon ab zehn Uhr Morgens abgesperrt, obwohl die Demo erst für 17h angekündigt ist. Man hat hier wie schon immer Angst vor dem Anderen und schützt sich durch starke Polizeipräsenz. Ich werde am Nachmittag mit einer Bekannten, die zum Idiom der Transgendermenschen forscht, in Richtung der Demonstrierenden gehen.
Und heute Abend werde ich endlich Zeynep wiedersehen, die ich zuletzt vor einem halben Jahr getroffen habe. Aber es fühlt sich nicht so an, weil wir in der Zwischenzeit unzählige Male telefoniert haben. Die 40 Jahre Nichtsehen sind vergessen und es kommt mir so vor, als hätten wir unser ganzes Leben in Kenntnis der Anderen verbracht. Ich freue mich schon auf sie!