Der Angriffskrieg gegen die Ukraine macht hier in Istanbul alle sehr betroffen. Aber ihr Deutschen habt die Waffen an Russland geliefert und auch wegen dem Gas gab es kein Embargo, bekam ich gestern zu hören und recht haben sie wohl, die Türken, die dieses kritisch anmerken und ich fühle mich zum ersten Mal hier in Istanbul schlecht, weil ich eine Deutsche bin. Ich gehe ins georgische Restaurant und der Besitzer vom Galaktion, der ein berühmter georgischer Dichter ist, sagt, er habe Angst um sein Land. Ich bekomme Besuch und fahre mit meinem Besuch auf der Fähre den Bosporus hoch bis zu seinem westlichsten Ende, wir steigen auf der asiatischen Seite aus, in Anadolu Kavagi, von wo man hinübersehen kann über das Schwarze Meer bis hin nach Europa, dort, auf der anderen Seite, dort drüben liegt die Küste der Ukraine. Es ist ein wunderschöner Tag, die Straßenhunde liegen in der Sonne und gähnen und alle Ringelblumen blühen und Zeynep hat gesagt, dass es jetzt nicht noch einmal Winter wird in Istanbul, fällt mir ein. Im Dunst des fernen Horizonts, dort hinter der filigranen weißen Brücke Yaviz Selim Sultan, die den Bosporus kurz bevor er in das Schwarze Meer übergeht, überspannt, meinen wir, die gegenüberliegende Küste der Ukraine tatsächlich zu sehen, aber es ist nur Wasserdampf, dunkelgrauer nebliger Belag, der vom kalten schwarzen tiefen Wasser aufsteigt. Der Bosporus ist leer, ganz seltsam leer, was daran liegen mag, dass Samstag ist, vielleicht aber auch daran, dass er jetzt freigehalten wird von Schiffen. Der Krieg liegt nebenan auf Lauer und ich bekomme, während ich in Richtung West gucke, eine Whatsapp aus der Ukraine, wo eine Freundin lebt, die ich vor drei Jahren dort besuchte. Daraufhin schreibe ich mein erstes Gedicht in diesem Jahr. Und draußen singen jetzt die Muezzine und alles Beten ändert doch nichts. Der Krieg ist nebenan:
irina
irina antwortet nicht mehr sie
schrieb mir vor drei Tagen
ich weiß nicht wo sie
jetzt wohl ist sie schrieb sie
sei nun auf der flucht ich lese
ihre whatsapp immer und
dann schon wieder durch
und wende sie nach hier und da
und weiß nicht wie ich helfen kann
ganz sicher ist inzwischen dort alles
noch sehr viel schlimmer
irina ist mit ihrem kleinen kind
der mutter und dem mann
zusammen unterwegs ob sie
wohl gerade zitternd in einem
keller einer u-bahnhalle sitzen
irina schrieb mir gestern
noch per whatsapp
sie hat ein anderes profilfoto gewählt
darauf ist sie so ungewohnt so ernst
ich sehe mir schon wieder
ihre nachricht an und sehe
dass sie zuletzt vor drei tagen online war
wo sie wohl ist mit ihrem kleinen
kind der mutter und dem mann
irgendwo in dem kriegsgebiet
zwischen lwiw kiew mariupol
irgendwo dort
und antwortet
nicht mehr