Auch im Februar gibt es schon schöne Tage hier in Istanbul. Zeynep sagt allerdings, als wir uns im Eingang des Yildiz (Stern)-Parks treffen, das Wetter sei nicht normal. Wir haben uns verabredet, um Spazieren zu gehen, bei heute luftigen 17 Grad, keine Wolke steht am Himmel, die Vögel singen und die Straßenhunde liegen allerorten in der Sonne und tanken Wärme, bevor die nächste Nacht beginnt und sie sich wieder auf die Beine machen. Am Wochenende ist es hier, nahe am Bosporus, im größten innerstädtischen Park Istanbuls, sehr voll. Aber heute ist so gut wie gar nichts los. An einem Tisch sitzt eine Gruppe junger Menschen, die haben sich ihr Picknick mitgebracht. Um sie herum hocken vier Katzen, eine fünfte hat sich auf dem Tisch drapiert und wartet darauf, ob etwas für sie abfällt. Die Parks hier in Istanbul sind ebenso wie die ganze Stadt steil und wir sind ordentlich aus der Puste, als wir bis ans andere Ende des Parks gegangen sind. Dort steht der Malta-Kösk, ein Gebäude aus der Jahrhundertwende, in dem sich vielleicht schon die Haremsdamen des letzten Sultans aufgehalten haben. Denn dieser Park war ursprünglich einmal der Palastgarten des nahe gelegenen Yildizpalastes, eines Palastes, in dem sich vor allem der letzte Sultan Abdülhamid II. aufhielt, der aus dem am Bosporus gelegenen Dolmahbace-Palast in den nahen, aber am Hang gelegenen Yildizpalast umgezogen war, weil er sich dort vor Angreifern sicherer fühlte als unten am Wasser. Der Park, der voller exotischer Bäume sein soll, was jetzt im Februar noch nicht gut zu erkennen ist, ist voller Spielplätze und Picknicktische. Es ist bei den Türken sehr beliebt, sein Picknick im Park einzunehmen, die religiösen lassen sich dafür gerne auf dem Rasen nieder, die nichtreligiösen sitzen lieber am Tisch. Ob der letzt Sultan nun und seine vielen Haremsdamen ( er hatte 12 offizielle Frauen und 300 Haremsdamen) aber tatsächlich in dem 160 Hektar großen Grundstück flaniert sind, ist wohl eher zu bezweifeln. Als ich die Geschichte des Harems nachlese, stelle ich mit Erstaunen fest, dass die Türkei und Tunesien tatsächlich heutzutage die einzigen islamischen Länder sind, in denen die Vielweiberei/Polygamie verboten ist. Ich erinnere mich noch daran, wie erstaunt ich war, als meine syrischen Flüchtlingsfreunde aus Aachen mir den Reisepass des Mannes zeigten, in dem er seine Frauen eintragen lassen konnte. Es war dort Platz für bis zu fünf Frauen, was dieser sehr lustig fand, seine Frau hingegen gar nicht! Denn dass das Leben mit Nebenfrauen kein Vergnügen für die Frauen, die Männer und die Kinder ist, davon habe ich aus erster Hand von einer anderen Flüchtlingsfrau, deren Vater zwei Frauen und zwanzig Kinder hatte, schon manches erzählt bekommen und vor kurzem auch in dem recht lesenswerten Buch Halide Edip Adivar: „Mein Weg durchs Feuer“ nachgelesen, das ein Sittenportrait der Zustände in großbürgerlichen türkischen Familien um die Jahrhundertwende zeichnet, in der die weiblichen Mitglieder auch dieser Familien, in denen die Männer studiert hatten und wichtige Positionen besaßen, sich trotzdem immer nur im „Harem“ genannten Frauenbereich der Häuser aufhielten. Halide Edib Adivar stammte aus einer angesehenen Istanbuler Familie aus Besiktas, die zum Umfeld des Hofes des Sultans gehörte. Ihr Vater Edib Bey war Erster Sekretär der kaiserlichen Privatschatulle. Edibs früh gestorbene Mutter war Tochter des Ali Ağa, der seinerzeit Chef der Kaffeemacher im Palast von Prinz Resad gewesen ist. Erzogen wurde sie vorwiegend von ihrer Großmutter und ihrer Halbschwester Mahmure. Von einem Imam lernte sie Lesen und Schreiben und das Rezitieren des Korans. Ihr Vater, der mehrere Frauen hatte, schickte sie mit 11 Jahren für ein Jahr an das Robert College, wo sie Englisch lernte und sich zum Entsetzen der Familie in die Bibel einarbeitete. Danach bekam sie Privatunterricht bei einer englischen Hauslehrerin und mehreren bedeutenden türkischen Gelehrten. 1899 ging sie erneut auf das Robert College und war die einzige türkische Schülerin in der Klasse. Ab 1900 bekam sie nebenher Unterricht bei dem bekannten türkischen Mathematiker Salih Zeki, den sie 1901 heiratete und von dem sie zwei Söhne bekam. Sie begann als eine der ersten türkischen Frauen eine berufliche Karriere; sie wurde Lehrerin. Zunächst war sie in der Lehrerausbildung tätig. Während der Revolution von 1908 redete sie als eine der ersten türkischen Muslimas auf öffentlichen Kundgebungen, damals eine Provokation für konservative Muslime. Als ihr Mann ihr 1910 mitteilte, dass er eine zweite Frau geheiratet hatte, verließ sie ihn auf der Stelle. Auch das geht im Islam und ging in der Türkei des osmanischen Reiches und geht noch heute bei denjenigen, die nach islamischer Sitte verheiratet wurden. Ebenso wie der Mann die Frau sofort verstoßen kann, konnte die Frau ihn sofort verlassen, wenn sie mit einer neuen Ehe nicht einverstanden war. Die Vielweiberei war anscheinend in der Türkei auch weniger verbreitet als in anderen islamischen Ländern, schon um 1900 herum hatten dort nur 2 Prozent der Männer mehr als eine Ehefrau (wobei es um 1900 herum in der Türkei aber auch noch weniger Muslime als Angehörige anderer Religionen gab). Alide Edip wurde, kaum hatte sie sich von ihrem Mann getrennt, den sie nie wiedersah, zur Dichterin, Revolutionärin, leitete den weiblichen Bildungszweig der Türkei, war als Offizierin am Befreiungskrieg von Atatürk beteiligt, war Professorin und später auch noch Parlamentarierin. Auch das ging in der Türkei, wenn man ursprünglich aus dem „Harem“ gekommen ist.
Die Sonne steht jetzt oben am Horizont, es ist furchtbar heiß und Zeynep führt mich im Park über eine sehr lange schwankende Seilbrücke, die hoch oben über einen Fluss führt, mehrere Kurven nimmt, nicht zu enden scheint. Ich folge ihr, halte mich am Geländer fest und schaue dabei nur nach vorne. Sie freut sich und springt begeistert auf und ab und von Plattform zu Plattform, während ich das Ende dieser nichtendenwollenden Brücke herbeisehne. Dafür folgt sie mir dann, als wir den Park verlassen haben, auch brav zur vor dem Park gelegenen Kücük Mecidiye Camii (Kleine Mecidiye Moschee). Diese wurde übrigens, wie schon die auf Blog 159 beschriebene armenische Üc-Horan-Kirche, und wie auch der Dolmahbace- und der Yildizpalast vom armenisch-christlichen Architekten Garabed Almira Balyan entworfen. Er, der so etwas wie der Stararchitekt, der Mimar Sinan des 19. Jdhs in der Türkei war, entstammte einer alten armenischen Architektenfamilie. Dass die Sultane ihn alles bauen ließen, was ihnen lieb und teuer war, zeugt auch von einer gewissen religiösen Toleranz. Das lohnte Balyan ihm mit wunderbaren Moscheenbauten wie dieser lichtdurchfluteten Moschee am Bosporusufer, in der ich jetzt oben im Frauenbereich stehe und in den großen Saal hinunterschaue. (Nachtrag: Soviel Toleranz wie der Sultan in Bezug auf seine Bauherren hat die türkische Ditipgemeinde in Köln nicht aufgebracht, als sie den Architekten ihres Baus in Ehrenfeld, Paul Böhm, u.a. beschuldigte, er habe ein Kreuz in die Kuppel eingebaut und ihm seinen zustehenden Lohn nicht zahlen wollte!)