Am Morgen bin ich mit Zeynep auf dem Markt verabredet. Als ich im Bus sitze und Richtung Dolmahbacepalast fahre, wird es auf einmal sehr laut. Lautsprecherdurchsagen höre ich und ich sehe Menschen mit Kokarden mit Atatürks Porträt auf der Brust durch die Straßen laufen und Schulkinder, die Fahnen mit seinem Gesicht schwenken. Was ist denn los? Wir hatten doch am 30. Oktober gerade erst den Tag seines triumphalen Einzugs in Istanbul gefeiert. Aber irgendetwas war doch am 10. November?! Ach ja, dann fällt es mir ein: Heute ist MustafaKemals/Atatürks Todestag! Ausgerechnet der 10. November, der ja auch für Deutschland nicht nur der Reichsprogromnacht wegen ein Schicksalstag ist. Mir ist er besonders im Gedächtnis, weil an diesem Tag mein Vater und meine Schwester Geburtstag haben und wir, als wir im Jahr 1989 in diesen Geburtstag feierten, vom Mauerfall erfuhren. Auch deshalb habe ich mir das mit Atatürk gemerkt. Und auch deshalb, weil ich neulich las, dass ein berühmter Dichter der Türkei, der ausgerechnet an Atatürks Todestag Geburtstag hat, diesen ändern ließ und stattdessen den 11.11. angab, weil er nicht respektlos sein wollte. Das mit den Geburtstagen wird ja hier in der muslimischen sowieso nicht so genau genommen. Wann genau Atatürk, der im Jahr 1881 geboren ist, Geburtstag hatte, weiß niemand so genau. Das ist bis heute so geblieben. Auch einige meiner kurdischen Freundinnen wissen nicht, wann sie Geburtstag haben, die Mütter konnten sich Jahre nach der Geburt, als das Datum der Einschulung wegen angegeben werden musste, nicht mehr daran erinnern und es wurde nur ein ungefähres Datum angegeben werden. Jetzt fällt mir auch auf, dass heute die Fahnen auf Halbmast geflaggt sind. Atatürk ist 1938 gestorben, das ist jetzt also 74 Jahre her. Er ist nur 57 Jahre alt geworden. Die Todesursache war wohl seine starke Leberzirrhose. Er liebte das Leben und starb in einem Zimmer des Dolmahbacepalastes, den er eigentlich zeitlebens seines verschwenderischen Luxus wegen gehasst haben muss. Er kam nämlich aus kleinen Verhältnissen und hat bis zu seinem Tode im Palast nie pompös gewohnt. Ich fahre gerade an der Stelle vorbei, wo er gestorben ist. Sein Sterbezimmer habe ich mir noch nicht angesehen, weil mir der Palast mit seiner Pompösität selber auch unangenehm ist. Die Kosten für diesen Palast sollen das osmanische Reich in den Ruin getrieben haben. Auf der gegenüberliegenden Seite des Palastes sind heute noch mehr überlebensgroße Fotos von Atatürk aufgestellt als sonst. Er war ja so extrem fotogen. Ich gehe oft und gerne an diesen Fotos aus den 20er und 30ern vorbei, die so einen modernen Eindruck machen und auf denen er oft mit Frauen posiert. Ganz ungewöhnlich für die Zeit; er war einer der ersten „Feministen“ und hätte wohl nichts dagegen gehabt, wenn man ihn als solchen bezeichnet hätte. Manchmal zeigt er sich auch als Sportskanone und gerne mit einem der vielen Kinder, die er adoptierte. Aber er war nur 1, 74 groß, lese ich eben. Das hätte ich nicht gedacht, auf den vielen Porträts sieht er immer so lang aus. Das liegt vielleicht daran, weil er anders als die meisten Türken auf den alten Fotos erstens sehr schlank ist und zweitens weil alle anderen Türken noch viel kleiner sind oder es liegt daran, dass er manchmal eine große Fellmütze und einen Fez trägt, dessen Tragen er nach Gründung der Republik im Jahr 1923 unter der Androhung von Gefängnisstrafe verbot, weswegen er auf den späteren Fotos meist einen modernen Hut trägt. Zeynep holt mich an der Haltestelle ab und wir gehen zu ihrem Auto, das in einem Supermarktparkplatz steht. Heute ist wie auch schon gestern und noch die nächsten vier Tage überall „Indirim“ ( Sonderangebot), 20 Prozent auf alle Artikel. Warum das? Frage ich. Wegen Atatürks Todestag? Nein. Es ist so eine Art black friday, das haben die hier aus den USA übernommen, sagt sie. Aber sie haben es nur ein Jahr Black friday nennen dürfen, dann bekamen sie großen Ärger mit den Religiösen. Denn der Freitag, an dem das Hauptgebet der Muslime stattfindet, ist heilig und Schwarz darf er schon mal erst recht nicht genannt werden. Deshalb heißt er heute meist „glückliches Einkaufen“ oder so, Freitag darf nicht mehr im Namen stehen. Wir gehen auf den Markt, auf dem vor allem Frauen einkaufen und decken uns mit sehr günstigen Klamotten zweiter Wahl ein. Dann essen wir einen Pfannkuchen mit Pilzen und ich fahre wieder zurück Richtung Taksim. Auf dem Weg gucke ich nach, was es heute noch an Veranstaltungen gibt. In den Bus steigt ein Mann mit einem ganzen Schwung Atatürkfahnen ein. Ich sehe, dass heute Abend ein Konzert zu Ehren von Atatürk im AKM (Atatürk Kulturcenter) stattfindet und beschließe, mir eine Karte zu kaufen. Es wird ein Oratorium gespielt, der Text dazu ist von dem Dichter Cahit Külebi, über den ich ja schon auf diesem Blog berichtete. Er gehört zu den republikanischen Dichtern, die die Sprache erneuerten und die alle nichtreligiös waren und Atatürk verehrten. Als ich an meinem Haus ankomme, begegnet mir eine Schulklasse, die Pullover mit Atatürks Porträt tragen. Am Abend dann gehe ich ins festlich erleuchtete AKM, das an zentraler Stelle am Taksim steht und so eine Art Opernhaus ist. Es war früher ein Treffpunkt der republikanischen und auch linken Kulturschickeria, stand dann lange leer, angeblich wegen des Umbaus, dann befürchtete man schon, der Umbau sei nur ein Vorwand und er fände gar nicht statt, aber Ende letzten Jahres wurde es doch wieder eröffnet. Das Oratorium von Cahit Külebi wird konzertant auf der großen Bühne aufgeführt. Links steht eine große marmorne Büste von Atatürk und als der Vorhang hochgeht, werden wir alle aufgefordert, aufzustehen. Dann spielt eine Fanfare eine traurige Melodie. Ja, traurig ist es schon, dass Atatürk so früh gestorben ist. Hätte er noch zwanzig oder womöglich dreißig Jahre länger gelebt (so wie Kanzler Adenauer z. B., mit dem er in Puncto Fotogenität große Ähnlichkeit hat), dann würde die Türkei heute ganz anders dastehen. Das ist dem bürgerlichen türkischen Publikum, das hier im AKM versammelt ist, die Männer im Anzug, die Frauen meist blond, sehr klar. Diese Menschen hier sind nicht die armen Türken, die zurzeit extrem unter der Inflation leiden, aber auch für sie ist die Welt in der „Republik“ Türkei nicht so, wie ihr Republikgründer es gerne gehabt hätte. Das Oratorium beschreibt erst auf dramatische Weise das traurige Gefühl der Türken, nach dem ersten Weltkrieg erst von den Griechen und auch von den alliierten Mächten eingenommen und erobert worden zu sein.
Wir sind eine arme Nation
Fahle Lichter brennen in unseren Himmeln
Irgendwie wurden wir einmal besiegt
Aber es wird nicht lange dauern
Wir haben uns große Hoffnungen gemacht
Dieses Land ist unser Land
Das Grundgefühl, als osmanisches Reich verloren zu haben und nicht mehr so groß zu sein, wie man es doch verdient, zieht sich ja bis heute durch gewisse Kreise. Dabei hat das osmanische Reich schon nach 1878, nach dem Krimkrieg, den größten Teil seines Territoriums, also die christlichen Länder Griechenland, Bulgarien, Rumänien genauso wie die eroberten Länder Syrien, Lybien, ja hin bis Ägypten, etc, die es sich doch auch erst während der drei Jahrhunderte zuvor einverleibt hatte, nach und nach verloren. Aber irgendetwas macht, dass auch heute noch das Gefühl, wegen der Verkleinerung des osmanischen Reiches zu kurz gekommen zu sein, viele Menschen in der Türkei bewegt…Nachvollziehen kann man es als Deutscher noch am wenigsten. Hier dient der Verlust dieser Gebiete, um die Wut und die Traurigkeit vieler Türken zu erklären, die mir aber eher ein genereller Wesenszug zu sein scheint, den man ja auch in ihrer Musik hören kann. Der Text von Cahit Külebi beschreibt dann, wie gut es war, dass Mustafa Kemal als glänzender Held die Türkei aus den Händen der Alliierten und der Griechen befreite, die sich nach dem 1. Weltkrieg den Teil der Türkei, auf dem vor allem Griechen lebten, auch einverleiben wollten.
Wir schulden dir das Allertiefste
Du bist das Licht dieses Landes, du hast uns unsere Sprache und Nationalität gelehrt, du hast unsere Republik gegründet.
Du hast die Freiheit unter uns verbreitet, du hast gesagt, du bist aus
dem Volk, du hast uns frei im Glauben erzogen, wir
verdanken dir das tiefste
Von den Kollateralschäden der „Rückeroberung“ durch Atatürk, wird natürlich nichts berichtet. Das Oratorium läuft auf einen glänzenden Schluss hinaus, bei dem Atatürk als der Größte gefeiert wird.
Unsere Kinder lernen als erstes deinen Namen.
Lebe Tausende Jahre,
Kemal Pascha, dessen Dienst für unser Land großartig ist, du
bis unsterblich,
Glorreicher Atatürk
Parallel dazu werden Zitate von ihm und Bilder auf eine große Leinwand projiziert. In die letzten Takte hinein applaudieren die Zuschauer und stehen dann sogar auf und trampeln, als sowohl die Solisten wie auch Chor und Dirigenten der Statue von Atatürk applaudieren. Ganz groß werden die Worte des Präsidenten auf die Leinwand projiziert:
Mein bescheidener Körper wird sicherlich eines Tages zu Erde werden, aber die Republik Türkei wird für immer bestehen.
Republik? Und die Freiheit, die er gewollt hat? Ich gehe wieder hinaus, auf den Vorplatz des AKM und sehe genau gegenüber die riesige Moschee, die der Präsident hat bauen lassen und die letztes Jahr eröffnet wurde. Was Atatürk, der für eine strikte Trennung von Staat und Religion war und der die Religiösen damit erzürnte, dass er die religiösen Hochzeiten verbot und als erster den Koran ins Türkische übertragen ließ, dazu wohl gesagt hätte? Ich gehe meine Freundin Nihsan besuchen, die Kurdin, die als eine der wenigen, die ich kenne, nicht gut auf den Vater der Türken zu sprechen ist. Denn Kurden wurden und werden bis heute nicht für gleichwertig wie Türken gehalten. Nicht nur wir Kurden, sagt Nihsan, sondern auch die vielen anderen alteingesessenen Bewohner der Türkei, die wenigen verbliebenen Armenier, die Juden, die Griechen, alle also, die nichtmuslimischen Glaubens sind und schon lange vor den Türken hier lebten. Aber auch die neu eingetroffenen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern werden in der modernen Türkei als Menschen zweiter Klasse behandelt.