Wie bin ich nur hierhergekommen? Als ich die Tür zu meinem Schlafwagenabteil öffne, schreckt eine junge Frau hoch, die im mittleren Bett liegt. Schlaftrunken schaut sie mich an. Welche Sprache soll ich mit ihr sprechen. Ich versuche es auf deutsch. Sie antwortet auf türkisch, obwohl weder sie noch ich türkisch aussehen, wenig später erklärt sie mir, dass sie Belgierin sei, Flämin, aber ihr Mann sei Türke, deshalb wisse sie manchmal nicht, in welcher Sprache sie sprechen solle. Wir einigen uns dann doch besser auf Französisch. Ich ziehe ein Nachtkleid an und binde mir Geld und Ausweise um den Leib. Es könnte sein, dass nachts Diebe unterwegs seien, hatte man mich gewarnt. Die Tür lässt sich allerdings von innen abschließen. Dann quetsche ich mich ins unterste Abteil, das oberste, mit einer Leiter zu erreichen, erscheint mir zu schwierig zu erklimmen, vor allem nachts, wenn ich noch einmal auf die Toilette gehen muss. Wir machen das Licht aus. Und nun liege ich da. Und der Zug rumpelt und pumpelt und mein Bett vibriert und nun pfeift die Lokomotive und mir ist furchtbar heiß in dem kleinen Kabuff und ich weiß, dass ich diese Nacht schlaflos sein werde. Die dünne Matratze tut ihr übriges, um mich wachzuhalten. Wie konnte ich es nur vergessen, frage ich mich. Ich weiß doch noch, wie anstrengend es immer gewesen ist, in Zügen zu schlafen. Wie konnte ich nur auf die dumme Idee kommen, mit dem Zug nach Istanbul zu fahren und mich sogar darauf zu freuen? Im Moment bereue ich es sehr, dass mich der Gedanke des nachhaltigen Reisens und des Entkommens vor der Flugangst auf die Idee mit dem Zug gebracht haben. Ich weiß schon, dass ich morgen total erledigt sein werde. Früher hätte mich das ja nicht umgebracht, aber früher ist lange her…mit diesen Gedanken im Kopf muss ich dann trotz des Gerumpeles und Gepumpeles doch eingeschlafen sein, denn wir werden von einem lauten heftigen Klopfen an der Tür aus dem Schlaf gerissen. Passportcontrol. Oje, das habe ich auch ganz vergessen, das gab es doch früher immer. Glücklicherweise habe ich mir meinen Pass auch an den Leib gebunden, nun muss ich versuchen, ihn im Halbschlaf schnell hervorzuziehen, bevor wir die Tür öffnen und die Polizisten sehen, dass ich mein Portemonnaie unter meinem Nachtkleid am Leib trage. Traue niemandem, hatte man mich gewarnt. Die Kontrolle geht schnell, aber wenig später klopft es schon wieder: Roomcontrol. Aha! Ein Mann mit einem langen Stiel, an dem ein Spiegel befestigt ist, leuchtet unter dem Bett und guckt in die Schränke. Dann sind sie wieder weg. Es kommt mir vor, als würde ich in einem alten Film mitspielen. Es wird wieder ruhiger. Iyi geceler, bonne nuit. Jetzt steht der Zug schon eine ganze Weile und so kann ich dann doch einigermaßen gut einschlafen. Aber schon wieder werden wir von lautem Poltern aus dem Schlaf gerissen. Passportcontrol? Schon wieder? Das ist die rumänische Grenze, eben waren wir an der Ungarischen, erklärt meine Bettnachbarin. Ach so. Ich habe genau in dem Moment als er eben geklopft hat, von Schengen geträumt, sagt sie mir noch. Witzig, sage ich. Ich weiß nicht, ob ich etwas geträumt habe. Aber die Fahrt kam mir wie ein Alptraum vor. Ich schaue auf die Uhr. Es ist halb drei. Um drei Uhr kommt der Schaffner und kontrolliert nochmal die Tickets, danach ist Ruhe.
Am nächsten Morgen erwache ich, als es schon hell ist. Acht Uhr! Aber das liegt nur daran, weil sich meine Uhr von alleine auf die rumänische Zeit umgestellt hat. Ich bleibe noch ein Weilchen liegen, dann stehe ich auf und wasche mich an dem possierlichen Waschschrank in unserem Abteil. Anschließend gehe ich aus dem Abteil und sehe erstaunt, dass unser Wagen, der Wagen mit den Abteilen für Frauen, der letzte Wagen des Zuges ist. Sie müssen die anderen Waggons gestern nacht vor der Abfahrt abgekoppelt haben. Ich gehe in Richtung Speisewagen, durch die Männerabteile der ersten Klasse, dann durch die zweite Schlafwagenklasse,durch die Liegewagen und die normalen Abteile, in denen die meisten Menschen sind. Fast alle liegen noch da und schlafen, Kinder und Erwachsene wild durcheinander gewürfelt. Dass man Erwachsenen nicht beim Schlafen zusehen darf, fällt mir ein, habe ich gestern Abend bei Franz Werfel gelesen, sei ein Gebot im Orient. Aber hier ist ja noch nicht der Orient, auch wenn er nicht mehr weit entfernt ist, auch diese Gegend hier war lange Teil des osmanischen Reiches. Im Speisewagen setze ich mich auf eine Bank, von der aus ich aus dem Fenster sehen kann. Die rumänische Landschaft ist nebelverhangen. Um mich herum werden schon große Teller voller Fleischstücke und Pommes gegessen, dazu trinkt man Coronabier. Masken sehe ich keine in der rumänischen Eisenbahn. Die Sonne kommt auf und ich gucke und gucke, in die weite Ebene, durch die wir fahren, die voller Maisfelder ist, Mais, der allerdings vertrocknet aussieht, auch Maiskolben sehe ich keine. In der Ferne sind Berge, die dann näher rücken. Wir fahren durch zauberische Märchenwälder voll riesiger alter Bäume, dann wieder an Kleinstädten und Dörfern mit manchmal seltsam hoch gebauten Häusern vorbei. Wilde Hunde sehe ich, Männer, die durch die Felder reiten und immer wieder viele Kinder, die bunte Kleider tragen und auf den schlammigen Straßen spielen. Jetzt bin ich dann doch versöhnt mit der furchtbaren Nacht, Rumänien kommt mir so schön vor, am liebsten würde ich an der nächsten Station aussteigen und hier bleiben. Schade, dass meine Mutter das nicht sehen kann, es würde ihr auch gefallen. Da ruft sie schon an. Sie hat eine ganz heisere Stimme. Hast Du einen Coronatest gemacht, frage ich. Ja, sagt sie. Und er ist positiv. Wie gut, dass sie nach Hause zurückgekehrt ist.
Am späten Nachmittag fahren wir nach 17 Stunden Fahrt (für ca. 750km!!) in den Bahnhof von Bukarest ein, der ein Kopfbahnhof ist, ebenso wie der von Budapest, aber viel belebter und größer als dieser. Ich verabschiede mich von der türkischsprechenden Flämin, die auf einen Kongress geht, wo es um Diskriminierungsgesetze geht und gehe, bevor ich mein Gepäck ins Hotel bringe, das ich für heute Nacht gebucht habe, noch eben schnell zum Schalter in der Bahnhofshalle. Ich möchte für morgen gerne ein Ticket nach Istanbul kaufen, sage ich zu der Frau am Schalter. Die gibt es nicht mehr, sagt sie mir. Der Zug ist vor ein paar Wochen eingestellt worden. Es fährt kein Zug mehr nach Istanbul. Ich nehme meinen großen gelben Koffer und gehe durch die Menschenmassen aus dem Bahnhofsgebäude. Heute ist auch mal wieder alles anders gekommen als erwartet. Ich bin müde und habe Hunger. Ich beschließe, jetzt erst einmal alle Pläne sein zu lassen und bis heute Abend zu warten, wenn ich geduscht und gegessen und mich ein wenig ausgeruht habe. Dann entscheide ich, wie es weitergeht.